Vier Wenden und wenig Zeit zur Umkehr
Ein Essay wider das politische Aufschieben in Europa
Dies ist die in forum 423 publizierte Version des Beitrags. Hier lesen Sie eine ungekürzte Fassung des Textes.
„The political upsets that are meant to happen once a century 
seem to be happening every fifteen minutes.“ 1
Seit dem Sommer 2021 sind die Mitgliedstaaten der EU, die sich durch stark bindende Verträge theoretisch zum Aufbau einer „immer stärkeren Union“ verpflichtet haben, mit vier historischen Wenden konfrontiert. Die erste Wende ist eine klimapolitische, die zweite Wende eine geopolitische, die dritte Wende eine europapolitische, die vierte Wende ist die Krise der repräsentativen Demokratie.
Diese historischen Wenden sind mit vitalen Folgen für die Regierungen und Bevölkerungen des kontinentalen Staatenbundes und Binnenmarkts verbunden. Die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, um diese Folgen abzufangen, können nicht länger aufgeschoben werden. Aber nicht nur das. All das muss gleichzeitig bearbeitet werden. Werden nämlich die Auswirkungen, die die eine Wende nach sich zieht, nicht angegangen, sind die Auswirkungen der anderen Wenden weder durch die EU noch die Regierungen ihrer Nachbarstaaten zu bewältigen. Dieser Imperativ wird das Regieren in Europa ungemein kompliziert machen.
Die klimapolitische Wende
Die Kernaussagen des im August 2021 veröffentlichten ersten Teils des Sechsten Sachbestandberichts des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) sind bekannt.2 Der Mensch hat mit seinen Aktivitäten seit dem Beginn der Industrialisierung schnelle Veränderungen in der Atmosphäre, den Ozeanen, der Kryosphäre und der Biosphäre ausgelöst. Steigende Emissionen von Kohlenstoffdioxid und anderen Treibhausgasen haben zu einer Erderwärmung geführt, die zu einer Erhöhung der globalen Temperatur um 1,5 °C bis 2 °C und noch mehr führen könnte, wenn sie nicht reduziert werden.
Eine nicht eingedämmte Erderwärmung wird die Lebensgrundlagen eines großen Teils der Menschen unseres Planeten zerstören, Hungersnöte, Epidemien, massive Emigration aus Regionen, in denen die Menschen nicht mehr leben können, auslösen, Staaten ruinieren und destabilisieren, und dies nicht nur im sogenannten Süden. In unmittelbarer Nähe zu Luxemburg sind die Küstengebiete Norddeutschlands, Belgiens und der Niederlande bedroht. Wie gefährlich bis letal extreme Hitzewellen sein können, hat Luxemburg seit 2003 mehrmals erfahren. Erst vor kurzem wurde es von verheerenden Wirbelstürmen und Überschwemmungen heimgesucht.
Das lässt sich nur verhindern, wenn das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 °C am Ende des 21. Jahrhunderts zu begrenzen, konsequent von allen Regierungen des Planeten, besonders aber von den technologisch fortgeschrittenen und entscheidenden Industrieländern in Angriff genommen wird. Geschieht nichts, werden bis 2030 bzw. 2050 entscheidende Zwischenziele nicht erreicht, steht das Schicksal der Menschheit auf der Kippe.
Die COP26-Klimakonferenz in Glasgow im November 2021 hat es „nicht geschafft, einen Weg zu einer Erwärmung unter 1,5 Grad zu zeichnen“, so Raymond Klein in einem Bilanzartikel in der woxx.3 Es sind aber vor allem „nicht die durchwachsenen Ergebnisse der COP26, die enttäuschen, sondern die Tatsache, dass es angesichts der Dringlichkeit einfach zu wenig und zu langsam vorangeht.“ Die Aussagen aus der Zivilgesellschaft und den Entwicklungsländern, von liberalen Analysten, Finanzweltmenschen oder Arbeitgeberverbänden haben nach Glasgow in der Tat eins gemeinsam: Die Zeit drängt.
Dass das aber zur innenpolitischen Krux werden kann, wird inzwischen in allen EU-Mitgliedstaaten spürbar. Der Kampf gegen den Klimawandel dürfte in absehbarer Zeit unmittelbar die Arbeitsplätze, die Mobilität und die Wohnungen der Bürger betreffen. Ganze Industriebereiche werden ihre Aktivität herunterfahren müssen, was zu massivem Arbeitsplatzabbau führt und schon jetzt von den Beschäftigten und ihren Vertretern als Existenzgefährdung wahrgenommen wird. Sollten Politik und Wirtschaft diesen Menschen keine glaubwürdigen Alternativen anbieten, ist deren virulente Opposition gegenüber Klima-Maßnahmen der goldene Weg zu ihrem Scheitern.
Die Mobilität ist zum Beispiel in Europa so gestaltet, dass nicht lückenlos auf den Öffentlichen Verkehr zurückgegriffen werden kann. Andererseits erweist sich der Übergang vom Pkw mit Verbrennungsmotor zu dem mit E-Motor als schwierig. Die E-Technologie entspricht noch nicht den in sie gesetzten Hoffnungen: keine flächendeckende Aufladeinfrastruktur, zeitintensives Aufladen, trotz Subventionen hohe Preise für die E-Autos, geringe Reichweite. Die parallel steigenden Bau- und Immobilienpreise in Europa dürften das Budget der meisten Klein- und Normalverdiener bei dazu steigenden Energiepreisen sprengen.
In der EU wurde mit dem Europäischen Klimagesetz, das am 9. Juli 2021 in Kraft getreten ist,4 ein Mechanismus in Gang gesetzt, der bis 2030 die Treibhausgasemissionen in der EU um 55 % reduzieren (ein Rückgang von 10 auf 5 % der globalen Emissionen) und bis 2050 die gesamte EU klimaneutral machen soll. Die Kommission soll Vorschläge erarbeiten, wie dieses Gesetz je nach Wirtschaftsbranche umgesetzt werden soll. In dem Zusammenhang hat sie im Juli 2021 ein zweites ETS-System vorgeschlagen, das Transport und Gebäude mit einbezieht.5 Aber wie können Wirtschaft, Arbeitnehmer und Bürger – und vor allem die Regierungen – für solch eine technokratische Lösung mit enormer sozialer Sprengkraft gewonnen werden? Es sind nicht nur die autoritären oder populistischen osteuropäischen Regierungen, die auf Kohle und Atomkraft setzen, die den Vorschlag der Kommission ablehnen. Sogar die grüne Umweltministerin Carole Dieschbourg hat am 6. Oktober 2021 beim EU-Umweltrat in Luxemburg ihre Skepsis gegenüber dem neuen ETS-System und dem Fonds geäußert, den die Kommission schaffen will, um die sozialen Auswirkungen ihres Systems auszugleichen.
Parallel dazu wird in der sogenannten Taxonomie-Diskussion, d. h. der Auseinandersetzung um jene Liste, die die als alternativ und/oder dauerhaft eingestuften Energien enthalten soll, die Kernkraft wieder von einer von Frankreich angeführten Gruppe von Mitgliedstaaten als Option ins Feld geführt. Das hat zwar den Atomkraftgegner und Energieminister Claude Turmes auf den Plan gerufen. Seine eigene nationale Öffentlichkeit aber hat das kaum wahrgenommen, was – Fridays for Future hin oder her – Bände spricht über die in Luxemburg desolate gesellschaftliche Sensibilisierung für die Folgen des Klimawandels. Ohne die kollektive Anstrengung von Politik, Wirtschaft und einer involvierten, teilhabenden und sozial abgesicherten Bevölkerung wird der Klimawandel nicht einzudämmen sein.
Die geopolitische Wende
Die zweite Wende konkretisiert sich im Debakel der westlichen Kräfte vom August 2021 in Afghanistan. Es war schon länger abzusehen, dass die von den USA 2001 angezettelte Intervention, die seit 2003 von europäischen Staaten im Rahmen der NATO-Solidarität unterstützt wurde, sowie das daraufhin gemeinsam mit der UNO gestartete Vorhaben, in Afghanistan unter der Schirmherrschaft internationaler Streit- und Zivilkräfte einen demokratischen und lebensfähigen Staat aufzubauen, scheitern würden. Das unilaterale Handeln der USA beim Abzug aber verwandelte den Rückzug in eine Niederlage, die so bald nicht vergessen werden wird. Das Scheitern in Afghanistan läutet auch das Ende jener Einsätze ein, die fundamentale Veränderungen in der Staatsstruktur eines umkämpften Territoriums erreichen wollen, obschon die dazu notwendige zivile lokale Basis dort gar nicht vorhanden ist.
Der Westen ist zur Jahreswende 2021/22 strategisch geschwächt, weil gespalten. Er ist sich uneinig in fast allen Konflikten, in denen er involviert ist. So in Syrien, im Irak, in Libyen, gegenüber dem Iran, oder zuletzt in der indopazifischen Region, wo im September 2021 Frankreich, das in der Region über ressourcenreiche Territorien verfügt, beim sogenannten AUKUS-Deal zwischen Australien, UK und USA, der sich gegen den dort wachsenden Einfluss Chinas richtet, übergangen und gedemütigt wurde. Die EU steht geopolitisch umso schlechter da, als der Brexit sie geschwächt hat und die Irlandfrage wieder auf der Tagesordnung steht. In dieser Risikosituation verfügen die EU-Staaten meist über zahlenmäßig unterbesetzte, materiell mit alterndem Material ausgerüstete, gesellschaftlich nicht besonders hochgeschätzte und budgetär kleingehaltene Streitkräfte, um die es schlecht bestellt wäre, müssten sie einem konventionellen Notfall an den eigenen Grenzen begegnen.
Ein solcher Notfall ist aber durchaus denkbar, seit die EU Ende 2013, unter dem Druck der USA und ihrer östlichen Mitglieder, Russland, das seine Außenpolitik explizit mit imperialen Kategorien gestaltet, mit der Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens herausgefordert hat, das die Ukraine über eine politische Neuorientierung und „stärkere wirtschaftliche Verflechtungen“ in den westlichen Einflussbereich bringen sollte.6 Russland empfand diese „Ausweitung der normativen Friedenszone der EU“ gepaart mit einem möglichen NATO-Beitritt Kiews als eine Bedrohung und reagierte, indem es mit russischsprachigen Sezessionisten in der östlichen Ukraine einen Bürgerkrieg entfachte und gegen jedes Völkerrecht die Krim besetzte.
Diese Schachzüge Moskaus haben der gespaltenen EU, den USA, die sich nicht mehr wie bisher in die kontinentaleuropäischen Streitigkeiten verwickeln lassen wollen, aber massiv Waffen ins Krisengebiet geliefert haben, und der NATO bis vor Kurzem nicht mehr entlockt als die üblichen Verurteilungen und Sanktionen. Denn die EU ist weder politisch noch militärisch in der Lage, für die abenteuerlichen Folgen ihrer am Reißbrett entworfenen politisch-wirtschaftlichen Expansionspolitiken geradezustehen. Der antirussische Topos vieler östlicher EU-Mitglieder sowie deren sture, unsolidarische bis illegale innereuropäische Haltung in Sachen Grundrechte, Flüchtlinge, usw. haben Russland zusätzliche Angriffsflächen geliefert, um die als Soft-Power allzu selbstsichere EU weiter zu spalten und zu schwächen. Das zeigt die Krise an der EU-Grenze mit Belarus, wo Minsk rücksichtslos Migranten einsetzt, um besonders auf die EU-Mitgliedstaaten Druck auszuüben, die sich seit 2015 vielen Verpflichtungen innerhalb der EU entziehen, die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Solidarität der anderen Mitgliedstaaten aber als selbstverständlich betrachten.
Im Westbalkan steht die EU vor großen geopolitischen Problemen. Dort zieht sie ihre Politik, die Länder dieser Region gegen die traditionellen kleptokratischen Eliten mit umzugestalten, nicht konsequent durch. So kann Russland dort zündeln und die Grundlagen künftiger bewaffneter Konflikte in der schwachen Flanke der EU legen.
Darüber hinaus geht Russland, neben seiner Rolle als Alliierter des syrischen Assad-Regimes, auch in Libyen und neuerdings in Zentralafrika und in der Sahelzone über die sogenannten Wagner-Milizen aktiv gegen die Interessen und Operationen der EU vor. Die Destabilisierungen, die daraus hervorgehen, steigern wiederum die immense Zahl jener Migranten, die unter größter Gefahr von den Nordküsten Afrikas nach Europa übersetzen wollen. Deren Ankunft schürt wiederum die Spannungen zwischen den EU-Staaten, in denen sie landen, und denen, in die sie weiterwandern wollen, bzw. denen, die sie abweisen.
Luxemburgs Position ist, wie die vieler anderer EU-Staaten, die intensive Geschäftsbeziehungen zu Russland pflegen, ambivalent. Einerseits beteiligt es sich unter grüner Führung des Verteidigungsministeriums verstärkt an der von den USA geforderten Lastenteilung und gibt bis 2024 0,72 % seines BIP für Verteidigung aus. Luxemburg ist ebenfalls im von Putsch und Instabilität geschüttelten Mali für UNO und EU präsent. Dort macht Russland massiv Stimmung gegen den Westen und versucht, die Wagner-Miliz ins Spiel zu bringen. Auch in Litauen spielt Luxemburg eine Rolle, wo die NATO ihre Außenposten an der Grenze zu Russland verstärkt hat. Auf der anderen Seite ist Luxemburgs Finanzzentrum immer noch sehr wichtig für die Verwaltung der Vermögen russischer Milliardäre und das Fördern von Geschäftsflüssen mit Russland. Dort wurde das Großherzogtum erst vor kurzem durch die Niederlande als erster ausländischer Direktinvestor abgelöst.
Diese geopolitische Wende hat gezeigt, dass die Zeit der Soft Power, die nicht von Hard Power gedeckt ist, für die EU vorbei sein müsste. Auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten ist diese Botschaft aber nur bedingt angekommen. Untrügliches Zeichen dafür sind die ständig neu vorgeschobenen Ausflüchte von EU- und NATO-Mitgliedstaaten, im Rahmen der von den USA seit 1999 geforderten Lastenteilung ihre Sicherheitsausgaben auf 2 % des BIP heraufzuschrauben. Eine tiefgreifende personale und rüstungstechnisch koordinierte und den Bedrohungen angemessene Stärkung der europäischen Heere ist nicht in Sicht.
Die noch entscheidenden traditionellen politischen Parteien halten sich bei diesem sehr unpopulären Themenbereich zurück. Wer setzt schon seinen Platz in den Meinungsumfragen mit Themen aufs Spiel, die u. U. viel mehr als nur Steuern zu zahlen vom Bürger verlangen könnten? Die EU-Mitgliedstaaten sind nicht Israel, obschon ihre geopolitische Position immer ungemütlicher wird. Für seinen Staat oder seinen Staatenbund einzustehen, gehört noch nicht zur biografischen Projektion der Europäer. Und Loyalität zum Staatenbund ist auch nicht immer die Kardinaltugend unter den Eliten, wie es das kleine Beispiel ehemaliger Luxemburger Politiker und Diplomaten zeigt, die gut am Geschäft mit Russland verdienen.
Die europapolitische Wende
In diesem Kontext wachsender strategischer Herausforderungen sollte man von den östlichen EU-Mitgliedstaaten mehr Zurückhaltung und innereuropäische Solidarität erwarten können. Genau das Gegenteil geschieht. Zuletzt hat „Polens politisch kontrolliertes Verfassungsgericht“7 am 7. Oktober 2021 ein Urteil gefällt, das dem EUGH das Recht abspricht, Polen über Urteile an seine rechtsstaatlichen Verpflichtungen zu erinnern, und den Vorrang der nationalen Verfassung gegenüber EU-Recht betont. Am 24. Oktober hat dasselbe Verfassungsgericht geurteilt, ein Teil der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei nicht mit der Verfassung des Landes vereinbar. Es hat so die Wirksamkeit der EMRK ausgehebelt, der beizutreten in den 90er Jahren überhaupt die Voraussetzung war, ins Wartezimmer der EU eingelassen zu werden.
Damit ist der vorläufige Höhepunkt der dritten, der europapolitischen Wende erreicht, die nicht nur in Polen und Ungarn ihren Lauf genommen hat. Im Zentrum der Konflikte stehen immer wieder die Bedrohung der Pressefreiheit, die Diskriminierung von ethnischen und sexuellen Minderheiten, die Unterminierung der Gewaltenteilung und damit einer unabhängigen Justiz, die Korruption von Politikern und Beamten, die zweifelhafte Vergabe öffentlicher Aufträge, die Unterschlagung von EU-Geldern oder ihr Gebrauch für nicht vorgesehene Zwecke, usw.
Der Europäische Rat, die Versammlung der Staats- und Regierungschefs der EU, der de facto immer noch auf Einstimmigkeit baut, ist von seinem Wesen her nicht in der Lage, klare Kante zu zeigen. Er hat die EU-Kommission bis Ende November 2021 daran gehindert, den neuen Rechtsstaatsmechanismus gegen Polen und Ungarn anzuwenden.8 Mit diesem Mechanismus kann die Kommission dem Rat vorschlagen, bestimmten Mitgliedstaaten, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen, EU-Mittel zu kürzen. Für eine Entscheidung des Rates würde die qualifizierte Mehrheit genügen. Allerdings wird erst Anfang 2022 ein EUGH-Urteil darüber entscheiden, ob dieser Mechanismus zur Anwendung kommen kann. Die illiberalen Demokratien Polen und Ungarn haben seine Rechtsmäßigkeit ausgerechnet vor dem Gerichtshof angefochten, den sie aushebeln wollen, und erwarten nun von ihm, dass er den Rechtsstaatsmechanismus aushebelt.
Mit der Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus würde das Missverständnis aber nicht ausgeräumt werden, das mit dem Beitritt der damaligen „neuen Demokratien“ zum Europarat und zur NATO in den 90er Jahren und später zur EU zusammenhängt. Diese Staaten haben sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an diese internationalen Organisationen gewandt, weil sie einen mehrschichtigen internationalen Schutzschirm brauchten. Niemand wollte ein geopolitisches Vakuum in Mittel- und Osteuropa entstehen lassen. Der Europarat, zuständig für die demokratische Sicherheit, war eine erste Etappe in diesem Prozess und spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau der „neuen Demokratien“. Die NATO versprach einen hohen Grad an militärischer Sicherheit. Von der EU, einem Staatenbund, der mit dem Maastrichter Vertrag zu immer mehr Integration unter den Vorzeichen freier Marktwirtschaft und politischer Demokratie gelangen wollte, versprachen sich diese Länder vor allem ökonomische Unterstützungsmechanismen, Investitionen und Hilfe beim Aufbau einer Marktwirtschaft.
Der Haken war, dass die wiedergefundene Souveränität zu einer Besinnung auf das nationale, in einigen Ländern auch sehr stark auf das ethnisch-kulturelle Erbe führte. In den Beitrittsstaaten entstanden so Parteien, deren ideologischer Fundus vom Nationalismus und Autoritarismus der Zeit zwischen 1900 und 1945 geprägt war, der sich in diesen „neuen Demokratien“ nach 45 Jahren Verdrängung wieder artikulieren durfte und sich zuweilen mit alten nationalkommunistischen Seilschaften verband. Die großen westlichen politischen Familien – Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale – und ihre Stiftungen sind daher mit ihrem Projekt, das politische Spektrum der „neuen Demokratien“ nach westlichem Schema zu gestalten, gescheitert, zumal ihre eigene Hegemonie auch zuhause anfing zu kriseln.
Sie sind gescheitert, weil sie der Konkurrenz von angelsächsischen Thinktanks, Universitäten, Stiftungen und Ausbildungsstätten nicht standhielten, die sich zusammen mit den in den USA, UK und Skandinavien sesshaften Exilanten im Gepäck massiv in diesen Ländern niederließen und etwa Schulungen durchzogen, bei denen ultraliberale Managementideologie und Ethno- oder Ultranationalismus sich nicht ausschlossen. Ihnen gelang es, geschulte Exilanten der zweiten Generation in den neuen politischen Institutionen und Verwaltungen – zuweilen bis an die Spitze dieser Staaten – zu platzieren. Das schuf schon in der Zeit der Beitrittsverhandlungen ein großes Unbehagen in den westeuropäischen Regierungskreisen. Doch am Ende zog man es vor, an den Wandel durch Integration zu glauben und diese Länder binnen kürzester Zeit aufzunehmen. Umso bezeichnender ist es, dass Länder wie Polen, Ungarn oder Tschechien den Beitritt zur Eurozone sehr schnell und sehr vehement ablehnten, als sich ihnen die Möglichkeit bot. Es war ein untrügliches Zeichen für die klare Grenze, die sie in Sachen Integration ziehen wollten und bis heute ziehen.
Insofern ist die aktuelle Krise zwischen den west- und osteuropäischen Mitgliedstaaten der EU nur der letzte Ausdruck für ein anderes Verständnis von dem, was aus der EU werden sollte und was Demokratie, Freizügigkeiten, Solidarität, Lastenteilung und Grundrechte bedeuten. Die EU gerät damit in eine tragische Situation, weil die mehr oder weniger integrationswilligen und rechtskonformen Mitgliedstaaten sich nicht von den immer unwilligeren trennen können, um zu einer Neugründung einer föderaleren EU überzugehen. Eine solche Trennung würde die EU als globalen Akteur schwächen und nicht nur im Grenzland mit Russland strategisch gefährliche Situationen heraufbeschwören. Setzt sich die EU aber weiter so zusammen wie jetzt, ist sie als Ganzes den unvorhersehbaren Wirkungen ausgesetzt, die von den ständigen Rechtsbrüchen in den illiberalen Demokratien ausgehen, vom Flirten Orbans mit Putin und Peking, von den Folgen der Korruption in den zusehends scheiternden Staaten Bulgarien und Rumänien sowie von den nationalistischen Exzessen in Slowenien und Kroatien im Norden Ex-Jugoslawiens, wo die alten Konflikte mit Moskaus, Pekings und Riads Zutun gefährlich aufgekocht werden.
Sogar wenn EU-Kommission und -Parlament, die als Institutionen beide hinter dem Rechtsstaatsmechanismus stehen, den Rat dazu bewegen würden, der Kommission alle Befugnisse zu erteilen, den Rechtsstaat in vertragsbrüchigen Mitgliedstaaten durchzusetzen, könnte es dadurch zu einem folgenreichen Bruch mit der EU kommen. Können diese Länder aber so weitermachen wie bisher, entsteht mittelfristig auch eine Rechtsunsicherheit für die anderen Europäer, bis hin zu einer Bedrohung ihrer Grundrechte.
Die demokratiepolitische Wende
Die westeuropäischen und skandinavischen Demokratien stehen inzwischen unter dem doppelten Druck, dass sie illiberale Regime als engste Bündnispartner haben und ihre eigenen Demokratien in eine ernsthafte Krise driften. Damit wären wir bei der vierten Wende, der demokratiepolitischen.
Sie geht in Westeuropa einher mit der Schwächung bzw. Auflösung der traditionellen Volksparteien, die sich europäisch in der EVP und der SPE zusammenfinden, und der steigenden Volatilität und Kurzlebigkeit der liberalen Gruppierungen. Das hängt damit zusammen, dass die sehr breiten gesellschaftlichen Milieus, aus denen diese politischen Parteien hervorgegangen sind, zu existieren aufgehört haben. Das Wesen dieser Ex-Volksparteien hat sich damit stark gewandelt: vom Sprachrohr eines allumfassenden Milieus, das die Problematiken der ganzen Gesellschaft integrierte, zum loseren sozialpolitischen Aggregat, das sich über eine oder mehrere Legislaturperioden behaupten soll. Dieser Prozess hat wiederum das Aufkommen von libertären, populistischen und rechtsextremen Parteien begünstigt, die ihrerseits aus Mikromilieus hervorgegangen sind, die in den entscheidungsschwachen Machtgefügen, die noch von den Ex-Volksparteien geprägt werden, keinen Platz finden.
Mit dem wachsenden Graben zwischen einer Zivilgesellschaft auf der Suche nach sich selbst und dem, was der französische Soziologe Michel Wieviorka den „Etat politique“ und den „Etat permanent“ nennt, büßt die repräsentative Demokratie in beschleunigtem Maße ihre Legitimität und damit ihre Fähigkeit ein, sich mit ihren Normen und ihren Verwaltungsmaßnahmen durchzusetzen.9 Sie versucht von oben herab zu wirken, stößt dabei aber auf Widerstände bei Interessensgruppen, die zwar selten konvergieren, aber sich radikalisieren, weil die Politik ihnen nicht jene Angebote macht, die sie erwarten. Sie driften immer öfter in Gewalt ab. Es kommt zur identitären Abriegelung oder einer „horizontalité interdisant tout traitement politique négocié“.10
Neue politische Bewegungen mit populistischem oder radikaldemokratischem Fundus nutzen diese Schwächen aus. Auch gibt es neue Versuche, neben den rechtsextremen Parteien, deren kurze Regierungsbeteiligungen in den letzten 20 Jahren in der westlichen EU im Chaos endeten, die aber indirekt die Agenda vieler EU-Regierungen in der Migrations- und Sicherheitsfrage mitbestimmen, weitere autoritäre, nationalistische Akteure ins Spiel zu bringen, die gezielt von parteiischen Massenmedien gepusht werden, wie es in Frankreich das Beispiel des rechtsextremen Publizisten Eric Zemmour zeigt. Allerdings stehen die Personaldecke und der Kompetenzgrad dieser Akteure im umgekehrten Verhältnis zu ihrem breitgestreuten kulturellen und medialen Einfluss. Sie haben sich schon öfter als politische Blasen entpuppt. Das ändert aber nichts daran, dass sich dennoch mit diesem Druck die Reichweite und Akzeptanz der Entscheidungen verkleinert, die im Rahmen der traditionellen repräsentativen Demokratie getroffen werden.
In den „neuen“ Mitgliedstaaten gibt es seit der Wende in kaum einem Land gefestigte politische Familien, wie es sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa gegeben hat. Das Parteienspektrum ist dort noch viel stärker von Volatilität, Kurzlebigkeit und Vertretung von Partikularinteressen geprägt als in Westeuropa. Zudem sind demokratische und rechtsstaatliche Praktiken in Mittel- und Osteuropa nicht so stark verwurzelt. Es kann also weniger von einer Krise der Demokratie die Rede sein als von einer tendenziellen Abkehr vom Aufbau demokratischer Verhältnisse. Dabei waren diese einst eine Bedingung für den Beitritt zur EU.
Ohne Teilhabe läuft nichts
Die vier Wenden, mit denen die EU zu Beginn des Jahres 2022 konfrontiert ist, müssen gleichzeitig angegangen werden, weil sie die Mitgliedstaaten in ihrer Existenz bedrohen. Sie müssen jetzt angegangen werden, auch wenn die Resultate der damit verbundenen Anstrengungen nicht sofort spürbar sein werden. Dies gilt besonders für den Klimawandel. Wird im Klimawandel nicht schnell genug gehandelt, kann die EU auf globaler Ebene nicht mehr glaubwürdig normativ wirken. Im schlimmsten Falle aber kann Europa schon kurzfristig die atmosphärischen, geographischen, maritimen und migrantischen Folgen des Klimawandels frontal erleiden. Kreativ nach innen und über ihre Grenzen hinaus kann die EU aber nur dann handeln, wenn ihre Politik die Gesellschaften mit einbezieht, einig handelt (was nicht der Fall ist) und militärisch aufrüstet (was noch viel weniger zutrifft).
Deswegen muss die Demokratie in den Mitgliedstaaten und in der EU selbst als Instrument der glaubhaften Mitbestimmung und der gerechten Umverteilung bei Wahrung der Grundrechte aller wahrer Mittelpunkt von Beratung, Beschlussfassung und Ausführung der strategisch zurückbehaltenen klimapolitischen, geopolitischen, sozialen und demokratischen Maßnahmen werden. Zumal diese Maßnahmen mit vielen Pflichten, gar Zumutungen für jeden einzelnen verbunden sein werden: mehr Steuern für die Vermögenden, mehr Bürgerpflichten, mehr Zeit für Beratungen zu Umwelt- und Gesellschaftsgestaltung, vielleicht (Wieder-)Einführung von Wehr- bzw. Zivildienst.
Ohne partizipative demokratische Prozesse, die der repräsentativen Demokratie eine stärkere Legitimität verleihen würden, kann es nicht zu einer Mobilisierung der Bevölkerungsmehrheit kommen, die für die lebenswichtige und unaufschiebbare Bewältigung der vier Wenden unabdingbar ist. Wenn jedem Einzelnen etwas abverlangt wird, muss er am Ganzen teilhaben können. Hier ist eine schnelle Umkehr der Politik nötig. Am Ende geht es um ein Leben in Würde und Freiheit in einem europäischen, sozialen, demokratischen, wehrhaften und so bald wie möglich klimaneutralen Staatenbund EU. Fällt ein Element weg, ist nichts mehr garantiert. Nicht einmal das nackte Leben.
Klicken Sie hier, um zur ausführlicheren Version dieses Beitrags zu gelangen.
- Mark Leonard, The Age of Unpeace. How Connectivity Causes Conflict, London, Bantam Press, 2021, S. 133.
- https://www.ipcc.ch/sr15 (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 10. Dezember 2021 aufgerufen).
- https://tinyurl.com/3hd8s4xy
- https://tinyurl.com/2p9yhk7j
- https://tinyurl.com/y6y8tmcc
- https://tinyurl.com/3kdx8k8b
- https://tinyurl.com/bdf22nvf
- Diego Velazquez, „Spiel auf Zeit“, in: Luxemburger Wort vom 21. Oktober 2021, S. 3.
- Michel Wieviorka, Métamorphose ou déchéance. Où va la France ?, Paris, Rue de Seine, 2021, S. 205f.
- Ebd. S. 209.
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