Lamb von Valdimar Jóhannsson
Es ist Heiligabend in Island, ein Schneesturm wütet. Etwas Unheimliches, Übernatürliches, nähert sich dem abgeschiedenen Bauernhof von Maria (Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snaer Guðnason) und versetzt die Tiere, vor allem die Schafe, in Aufregung – was sich genau im Stall abspielt, bekommen aber weder die Zuschauer*innen noch die beiden Eheleute mit. Nach den Feiertagen widmet sich das Paar wieder der eintönigen Farmarbeit, die es inmitten der archaischen, überwältigenden Natur mehr neben- denn miteinander verrichtet. Maria und Ingvar haben ihre Sprache verloren, ein unausgesprochenes Ereignis belastet die Beziehung der beiden.

Das ändert sich im Frühling, als sie ihren trächtigen Schafen bei der Geburt helfen, und dabei feststellen, dass ein Mutterschaf eine seltsame Kreatur, halb Schaf, halb Mensch, gebärt. Ohne lange zu zögern, nehmen Maria und Ingvar das Lamm an sich, geben ihm (bzw. ihr) den Namen ihrer verstorbenen Tochter Ada, und erziehen das übernatürliche Hybridwesen wie ihr eigenes Kind. Doch weder das Mutterschaf noch Mutter Natur überlassen ihr Kleines kampflos der Gesellschaft der Menschen…
❝Die überraschende Radikalität und Konsequenz des Schlusses hallt noch eine Zeitlang nach.❞
Valdimar Jóhannsson inszeniert sein Spielfilmdebüt Lamb (im Original Dýrið, Tier) als recht eigenwillige Mischung aus Märchen, Horrorfilm, Beziehungsdrama und absurder Komödie; für das Drehbuch zeichnete neben Jóhannsson auch der isländische Dichter Sjón verantwortlich, der ungarische Regisseur Béla Tarr fungierte als ausführender Produzent.
Eine eindeutige Interpretation gibt Jóhannsson dabei nicht vor – durch den geradezu meditativen Erzählrhythmus mit langen, ruhigen, visuell überwältigenden Einstellungen sowie durch die Verbindung christlich-religiöser und folkloristischer Motive ist Lamb auf unterschiedliche Weise lesbar: Als filmische Reflexion über Trauerarbeit, als Kommentar zum Wert tierischen Lebens, als Parabel über Anmaßung und Vergeltung sowie über den Umgang des Menschen mit der Natur. Gerade letztere erscheint in Lamb ungewohnt ambivalent und fremdartig – den intimen und heimeligen Aufnahmen von Hunden, Katzen und Schafen steht letzten Endes etwas Gewaltsames, Rachsüchtiges gegenüber, das man auch als Warnung auffassen kann. Die überraschende Radikalität und Konsequenz des Schlusses hallt jedenfalls noch eine Zeitlang nach.
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