Belarussisch Roulette
Der Fall Pratassewitsch ist nur die Spitze des Eisbergs
Ein knapp 29 Sekunden langes Video braucht es, um in Belarus mit einem einzigen Schlag zehn Jahre oppositionelle und journalistische Arbeit zunichtezumachen. Im besagten Video sehen wir einen jungen Journalisten, Raman Pratassewitsch, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist: Hämatome an der rechten Schläfe, aufgedunsenes Gesicht, geschwollene Wange. Die Augen starren ins Leere, die Pupillen erweitert zu unlesbaren, leblosen schwarzen Löchern, die Hände nervös und zittrig ineinander verschränkt und die Handschellen von den langen Hoodieärmeln überdeckt. „Mir geht es gut, meinem Herzen und meinen Organen auch […]. Ich kooperiere freiwillig mit den Ermittlungsbehörden!“, rattert Pratassewitsch seinen vorgefertigten Text am 24. Mai 2020, einen Tag nach seiner spektakulären Flugzeugentführung, vor der Kamera des Staatsfernsehens herunter. Obwohl kein Mensch ihm dieses Statement glaubt, so versetzt ein solches Video doch 9 Millionen Belarus*innen in Angst und Schrecken, denn die Mitteilung, welche der mächtige Polizei- und Folterstaat an die Bevölkerung schickt, ist klar: „Wir kriegen euch irgendwann alle!“
Es ist eine surreale Vorführung des damals 25-jährigen Bloggers und Journalisten, einem der prominentesten belarussischen Dissidenten der letzten Dekade. Geständnisvideos, welche an die dunkelsten Kapitel des KGB erinnern, wie aus einem schlechten Agentenfilm, Folter und erzwungene Geständnisse, und „Kompromat“: Wie der regelrechte Polizeistaat in Belarus mit eiserner Faust und Folter gegen seine Bevölkerung vorgeht und wie perfide diese Methoden sind, wird am Beispiel Pratassewitsch deutlich.
Staatsfeind als Teenager
Pratassewitsch ist eine der schillerndsten und bekanntesten oppositionellen Stimmen des Landes. 2011 taucht der damals 16-Jährige zum ersten Mal in den Staatsmedien auf, als er aus seinem Gymnasium abgeführt wird. Erhobenen Hauptes mit einem siegessicheren Schmunzeln wurde der zottelhaarige Teenager vor laufender Kamera verhaftet. Die Vorwürfe bestreitet er damals nicht: Als junger Aktivist hatte er bei der russischen Facebook-Kopie namens Vkontakte mehrere oppositionelle Gruppen geleitet und mit Informationen über willkürliche Staatsgewalt gefüttert. Jene Anti-Lukaschenka-Gruppen, die er moderierte, brachten ihn damals als Minderjährigen zum ersten Mal ins Visier der Behörden. Bis auf wenige Expert*innen und Journalist*innen hatte keiner Belarus damals bereits auf dem Radar. Jedoch hatte Lukaschenka bei seiner umstrittenen und gefälschten Wiederwahl am 19. Dezember 2011 den tausenden Protestler*innen auf dem Platz der Republik mit einem angsteinflößenden coup de force getrotzt: 700 Menschen wurden festgenommen, inklusive sieben Präsidentschaftskandidaten und mehrere Dutzend Journalisten. Kein einziger wurde freigesprochen und es erfolgten Anklagen wegen „Hooliganismus für alle Verhafteten mit Sicherheitsverwahrung“.1
Pratassewitsch studierte ein Jahr lang Journalismus an der Universität Minsk und wurde wegen „formellen Gründen“ exmatrikuliert, so wie es vor ihm schon Dutzenden Aktivist*innen ergangen war. 2016 und 2017 engagierte er sich als Journalist bei TUT.by, Belarus’ größtem unabhängigen Nachrichtenportal, und für den belarussischen Ableger des US-amerikanischen Radio Free Europe. Er berichtete nicht nur aus Belarus, sondern auch von der Kontaktlinie in Donezk und Lugansk in der Ostukraine. Jene Berichte waren den Obigen solch ein Dorn im Auge, dass ihm mehrmals pro-russische Telegramkanäle (ohne Erfolg) vorzuwerfen versuchten, er habe als neonazistischer Kämpfer aktiv an jenem besagten Konflikt teilgenommen.
„Jemand“ zwischen Journalismus und Aktivismus
2019 wurde es für Pratassewitsch in Belarus zu gefährlich, er zog nach Litauen. Er schloss sich dem mittlerweile mit dem Sacharow-Preis ausgezeichneten Youtuber und Blogger Stepan Putylo an und moderierte den Nexta- und Nexta Live-Telegram-Channel. Telegram ist ein Whatsapp-ähnlicher Kommunikationsdienst und eine App, welche es auch erlaubt, sich in sogenannte Informationskanäle einzuschreiben. „Nexta“ bedeutet auf Belarussisch „jemand“, und „jemand“ schaut immer zu. Obwohl Lukaschenkas Schlägertruppen das Land in Angst und Schrecken versetzen, hat immer jemand ein Handy dabei, um diese Repressionen und arbiträre Gewalt zu dokumentieren. Mit wachsendem Druck auf NGOs und Mediengruppen in Belarus in den letzten Jahren werden diese Telegram-Channels in den Jahren 2019 und 2020 zu mächtigen Alternativen, besonders weil alle oppositionellen Medienhäuser, Webseiten und Zeitungen inzwischen ausnahmslos geschlossen wurden. In Lukaschenkas Krieg gegen die Zivilbevölkerung bieten Putylo und Pratassewitsch ein hybrides Informationsprodukt des 21. Jahrhunderts an: einen Informationskanal mit Videos, Bildern und Interviews. Editiert wird wenig, was die Grenzen zwischen Aktivismus und Journalismus verwischen lässt. Eingesendetes Material von Menschen wird meist unverfälscht eins zu eins wiedergegeben. Dies ist eine der Stärken und gleichzeitig Schwächen von Nexta: Einerseits werden somit Wahlfälschungen, Repression und Staatsterror nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in abgelegenen Regionen sichtbar, andererseits bleibt Nexta anfällig für Falschinformationen. In einem Interview mit der Deutschen Welle (DW) erklärte Putylo, das Verwischen dieser Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus sei im belarussischen Kontext kein Problem.2
Die Flugzeugentführung
Am 23. Mai 2021, nach einem Ferienaufenthalt, bordet Pratassewitsch den Ryanair-Flug 4978 von Athen nach Vilnius, zusammen mit seiner russischen Freundin Sofia Sapega. Bereits in Athen am Flughafen schreibt Pratassewitsch seinen Freunden, mehrere verdächtige Männer hätten versucht, einen Blick auf seinen Pass zu erhaschen und ihn zu fotografieren. Er ist sich schnell bewusst, dass Teile der Staatssicherung, des belarussischen KGB, ihn verfolgen. Als die Linienmaschine der Ryanair in den belarussischen Luftraum gelangt, wird sie von der Luftraumsicherung erfasst und zur Landung in Minsk gezwungen. Der Grund sei eine akute Terrorwarnung, welche die Behörden zu diesem Flug erhalten hätten. Es vergehen Minuten der Verwirrung an Bord. Pratassewitsch gibt sich zu erkennen und erklärt Passagieren und dem Bordpersonal, es ginge offensichtlich darum, ihn zu entführen. Lukaschenka lässt einen MIG-29-Abfangjäger aufsteigen, um die Ryanair-Maschine daran zu hindern, den belarussischen Luftraum zu verlassen, und entführt die Maschine nach Minsk, wo Pratassewistch und Sapega umgehend verhaftet werden. Andere Passagiere berichten, es hätte nicht danach ausgesehen, dass man nach einer Bombe suchte, denn das Paar sei sofort und zielstrebig abgeführt worden.
Der lange Arm des Staates: Folter, Repression, Tötungen
Die Flugzeugentführung löste heftige internationale und europäische Reaktionen aus und machte den Weg für ein umfassendes Sanktionspaket gegen Lukaschenka und seine „Cronies“ frei. Lukaschenkas Akt der Luftpiraterie oder des staatlichen Terrors ist eine weitere Eskalation seines Regimes gewesen, jedoch warnen Expert*innen seit Jahren vor genau jener Spirale der Gewalt des Regimes.
Seit Lukaschenkas Amtsantritt im Jahr 1994 verschwinden Menschenrechtler*innen und Journalist*innen. 1999 „verschwanden“ in Belarus hoch angesehene oppositionelle Politiker, darunter: Wiktar Hantschar, Juryj Sacharanka, der Geschäftsmann Anatol Krasouski sowie der Journalist Dsmitryj Sawadski. Eine unabhängige Sonderkommission des Europarates kommt zum Schluss, dass Spezialeinheiten der Staatsicherheit hinter diesen Entführungen und Tötungen stehen.3 2019 gelingt es Journalist*innen der DW, eine jener Ex-Spezialkräfte ausfindig zu machen. Der Ex-Elitesoldat Juri Garouski verfügt über detailliertes Täterwissen und gesteht: „Ich habe ausgeführt, womit ich beauftragt wurde. Wir haben Sacharanka festgenommen, wir haben Hantschar festgenommen, wir haben Krassowski festgenommen. Dann haben wir sie weggebracht und getötet.“4 Die Radikalisierung und Autokratisierung des Regimes konnte ich selbst bei mehreren Abschlusskundgebungen wie zum Beispiel 2008 zur Parlamentswahl in Minsk mitverfolgen.
Die zweite und dritte Amtszeit nutze Lukaschenka, um seinen Sicherheitsapparat weiter auszubauen. Das Land ist ein regelrechter Polizeistaat mit mittlerweile hochmodernen Kapazitäten der digitalen Überwachung und Spionage. Seit August 2019 protestieren die Menschen in Belarus fast ununterbrochen: 5.000 Fälle von Folter durch Polizei und Sicherheitsorgane sind bereits dokumentiert worden, es kam zu über 40.000 Festnahmen. Auch sexuelle Gewalt gegenüber Minderjährigen und Frauen wurde bereits tausendfach dokumentiert. Bis heute wurde keine einzige Ermittlung wegen Polizeigewalt aufgenommen, im Gegenteil: Lukaschenka dekretierte ein neues Gesetz, welches es der Polizei und deren Schergen erlaubt, mit aller Härte und allen Mitteln gegen Demonstrant*innen vorzugehen. Mehrere Protestler*innen starben, zwei von Ihnen durch gezielte Todesschüsse der Polizei. Dutzende Menschen werden weiterhin vermisst oder sind unter dubiosen Umständen im Ausland gestorben. Obwohl der burleske Diktator immer wieder dazu einlädt, sich über ihn lustig zu machen, muss mittlerweile jedem klar sein: Lukaschenka ist ein hoch strategisch agierender Autokrat mit einem der mächtigsten Polizei- und Folterstaaten der Welt.
Auch sein Auslandssicherheitsdienst, der in Belarus übrigens noch immer „KGB“ heißt, plante und exekutierte gezielte Tötungen im Ausland. EUobserver veröffentlichte zusammen mit belarussischen Journalist*innen geheime Tonaufnahmen, in denen der ehemalige KGB-Chef Zaitsev (2008-2012) darüber spricht, „die ‚Journalistenratte‘ Sheremet mit einer Bombe ‚in Stücke zu reißen‘“. 2016 starb der investigative Journalist in Kiew bei einem Bombenattentat auf sein Auto.5 Die Staatsanwaltschaft Kiew geht von einer Operation des belarussischen Geheimdienstes aus, konnte bis dato aber noch keine verdächtige Person ausmachen. Es ist also kaum verwunderlich, dass es diesem gefährlichen KGB auch gelingt, einen im Exil lebenden Journalisten wie Pratassewitsch zu beschatten und in einer spektakulären Operation festzunehmen. Mittlerweile wird Pratassewitsch im Staatsfernsehen fast wöchentlich vorgeführt und muss zu Lukaschenkas Taktstock tanzen und singen. „Irgendwann will ich mit meinem normalen Leben weitermachen und Kinder bekommen […]. Der Diktator hat Eier bewahrt in einer schwierigen Situation”, sagt ein sichtlich nervöser Pratassewitsch in einem dieser erzwungenen Geständnisse. Laut dem Urteil (2991/06 Belugin v. Russia) ist ein erzwungenes Geständnis eine Verletzung des Rechtes auf ein faires Verfahren. Es sind perfide Inszenierungen und noch perversere Drehbücher, welche sich die Hausherren der Hausnummer 17 auf dem Unabhänigkeitsboulevard (Praspekt Nesaleschnaszi) immer wieder ausdenken. Das Opfer jener erzwungenen Statements wird oft noch mit sogenanntem „Kompromat“ unter Druck gesetzt und erpresst. Der Begriff „Kompromat“ ist eine Entlehnung des sowjetischen KGB-Slangbegriffs компромат aus der Stalin-Ära. Es bezieht sich auf herabsetzende Informationen, die in allen Bereichen gesammelt, gespeichert, gehandelt oder strategisch verwendet werden können: Politik, Wahlen, Recht, Beruf, Justiz, Medien und Wirtschaft.
Politische Erpressungen haben eine lange Geschichte in Russland und in Belarus und gehen auf die Ära von Stalins Terror in den 1930er Jahren zurück. Diese äußerst perfide Methode erlaubt es den Terrorstaaten weiterhin, hochrangige Oppositionelle oder Unbeugsame nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, und sendet das Signal an die Bevölkerung, dass jeder Mensch einen Punkt hat, an dem er bricht, und der Staat diesen womöglich schon lange kennt. Und wer glaubt, dass dies nur an die Feinde von Lukaschenka gerichtet sei, der irrt sich gewaltig: Auch die treuesten und brutalsten Schergen des Regimes werden mit jenen Videos empfindlich getroffen. Es kann jeden zu jeder Zeit treffen. Der Diktator lässt seine „kompromittierten“ Puppen paradieren und droht somit einem ganzen Land: „Ihr könnt die nächste Puppe sein, die ich öffentlich vorführen werde!“ Dabei geht es um nichts anderes, als tief in das Unterbewusstsein und in die privatesten Aspekte des Lebens der Belaruss*innen vorzudringen und die totale Kontrolle zu erlangen. Das ist die Essenz, der eigentliche Terror einer richtigen Diktatur.
- World Report 2012 Belarus: https://www.hrw.org/world-report/2012/country-chapters/belarus (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 21. Februar 2022 aufgerufen).
- DW-Artikel, „Belarus: Wer ist Roman Protassewitsch?“: https://www.dw.com/de/belarus-wer-ist-roman-protassewitsch/a-57661696
- Disappeared persons in Belarus: https://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/X2H-Xref-ViewHTML.asp?FileID=10456&lang=EN
- Pressemitteilung der DW, „Die Morde von Minsk – Ein Kronzeuge bricht sein Schweigen”: https://tinyurl.com/5an26s23
- Andrew Rettmann, „Exclusive: Lukashenko plotted murders in Germany”, EUobserver am 4. Januar 2021: https://euobserver.com/foreign/150486
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