Sprachregelungen
Grund und Boden als diskursives Phänomen
Die kritische Entwicklung des Immobilienmarktes schlägt direkt auf den Wohnungsmarkt durch. Dies hat das Thema zum „Thema“ gemacht, das heißt, es wird problematisiert. Das ist einerseits neu, andererseits offenbaren sich große Lücken im Diskurs. Das Sagbare und das Nicht-Sagbare trennen Welten.
Gesellschaftliche Kommunikation ist in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt in den Blick der Sozialwissenschaften geraten. Unter dem Label der Diskursforschung wird der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit auf den Grund gegangen.1 Ausgangspunkt dieser Forschungstradition ist die Annahme, dass Worte und Sprache das Handeln nicht nur vorbereiten, insofern also der Praxis nicht einfach nur vorausgehen. Der Diskurs geht einen Schritt weiter und kreiert eine eigene Schicht von Wahrnehmung der Realität, die zur zweiten Wirklichkeit gerinnt. Wort- und sprachmächtige Eliten vermögen auf diese Weise, so einst der marxistische Philosoph Antonio Gramsci, ihre Sicht der Dinge hegemonial zu machen. Wer die Begriffe besetzt, ist für die politische Schlacht gerüstet. Diskursive Setzungen können das Sagbare betonen oder das Unsagbare weglassen. In komplexen Situationen dient ein hegemonialer, das heißt mehrheitlich geteilter Diskurs auch der Arbeit der Zuspitzung, nicht selten durch radikale Vereinfachung komplexer Zusammenhänge.
Die Beispiele hierfür sind vielfältig. So wurden die leitenden Ideen der neoliberalen Ökonomie der letzten Jahrzehnte (freie Märkte, Vorrang für das private Eigentum, Abbau des Staates) auch durch gezielte diskursive Vorarbeit mehrheitsfähig gemacht. Ihre Schlüsselakteure waren Ökonomen, die sich in Netzwerken wie der Mont Pélérin-Society oder dem Cato-Institute betätigten. Durch die Hegemonie des neoliberalen Modells wurden wirtschaftspolitische Alternativen marginalisiert, aus dem Denkraum des Möglichen verbannt. Auch Städte werden diskursiv gerahmt, mit einem „frame“ versehen, wie die Debatte um eine urbane Renaissance in den 1990er Jahren gezeigt hat. Die Verbreitung passender Bilder und Erzählungen setzte die These vom urbanen Zeitalter diskursiv ins Bild, noch bevor sie empirisch Platz greifen konnte. Allgemein akzeptiert wurde sie dagegen nicht, das Bild der Städte ist heute so schillernd wie eh und je.
Boden, Raum und Gesellschaft als diskursive Konstruktion
Diskurs prägt als eigene Schicht von Wahrnehmung der Wirklichkeit auch den Umgang mit Grund und Boden.2 Populäre Erzählungen thematisieren bis heute die Bindung des Menschen an seine Scholle, die Spannung zwischen Kollektivnutzen und Privateigentum oder Fragen von Autonomie, Macht und Herrschaft. Sie trieben einst auch reformorientierte Modelle wie die Siedlungsbewegung des Adolf Damaschke oder die von Ebenezer Howard forcierte Gartenstadt an.3 Grund und Boden hatten in Gestalt der Assoziation von Volk und Raum auch verheerende geopolitische Implikationen. Politisches und wissenschaftliches framing haben dieser Ideologie den Weg bereitet.
Freiheit und Selbstbestimmung sind zentrale Elemente im Diskurs über Grund und Boden: Das private Verfügungsrecht an Grundeigentum genießt in marktwirtschaftlichen Systemen oft Verfassungsrang. Entsprechend wird der Freiheitsbegriff vor allem dann bemüht, wenn dieses Verfügungsrecht in Frage gestellt oder wenn an die Sozialpflichtigkeit von Eigentum appelliert wird, die ebenfalls Verfassungsrang genießt (siehe etwa Art. 14 des deutschen Grundgesetzes). Konkrete Eingriffe in dieses Verfügungsrecht durch den Staat, wie planerische Vorgaben oder – im Extremfall – Enteignungen, werden kontrovers diskutiert. Der 60. Jahrestag der Enteignung von Landwirten auf dem Plateau Kirchberg war jüngst ein Jubiläum, das niemand feiern wollte.
Die Basis für den heutigen Stellenwert des Wohneigentums wurde in der Nachkriegszeit gelegt; auch hier waren diskursive Setzungen zentral. Wiederaufbau war in weiten Teilen Europas inspiriert durch das Vorbild Nordamerika. Auf beiden Seiten des Atlantiks stand der Zugang breiter Massen zum Einfamilienhaus im Zentrum eines hegemonialen Produktions- und Konsummodells, geprägt durch Kreditvergabe, Autobahnbau und eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Möglich wurde es durch staatlich gestützte Finanzierung. Doch die Begleitmusik lieferte ein wirkmächtiger Diskurs: das Diktum „My home is my castle“.
Der Casus Luxemburg
Auch die hiesige Debatte um das Wohnungsproblem, die Bodenfrage und die damit verbundenen Konflikte ist diskursiv stark aufgeladen. Oft werden die Diskurse vermischt, was die Debatte darüber schwierig macht. Denn es handelt sich um miteinander konkurrierende und spezifisch konnotierte Aussagen, das heißt, sie sind mit unterschiedlichen Deutungen und Werturteilen versehen. Sie müssen transparent gemacht und differenziert analysiert werden, auch mit Blick auf die dahinterstehenden Interessen.
Im Kern geht es um drei verschiedene, durchaus komplex miteinander verknüpfte Aspekte: Erstens geht es um die Frage, was eigentlich das Problem ausmacht bzw. inwiefern der behandelte Sachverhalt überhaupt ein Problem darstellt. Stimmt man der Problemdiagnose im Grundsatz zu, geht es zweitens darum zu klären, wo genau die Ursachen des Problems liegen. Drittens ist die entscheidende Frage, welche Strategien und Maßnahmen denn einen konkreten Beitrag zur Problemlösung leisten könnten.
Zu Frage 1: Das Problem des Wohnungsmangels in Luxemburg hat erst langsam öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Die Aussage des damaligen Staatsministers Juncker (CSV) zu einem möglichen 700.000-Einwohner-Staat und seinen Folgen für das Wohnungswesen waren noch Ausnahme von der Regel. Diese bestand lange aus dem schlichten Beschweigen des Dilemmas. Xavier Bettels (DP) Rede zur Lage der Nation im letzten Herbst zeigt dagegen, dass das Thema zum „Thema“ geworden ist.4 Hintergrundfolie des gestiegenen Bewusstseins ist sicher der Umstand, dass die steigenden Wohnkosten (Kauf, Miete) zunehmend auch Luxemburger zur Wohnraumsuche oder Eigentumsbildung ins Ausland drängen.
Ob mit diesem Bewusstseinswandel auch der avisierte Paradigmenwechsel einhergeht, also ob der diskursiven Rahmung eine veränderte Praxis folgt, bleibt offen. Dies zeigen auch Ausreißer aus der Debatte. So bezweifelte jüngst ein hoher Beamter, der mit Wohnungsfragen befasst ist, dass Luxemburg ein Wohnungsproblem hätte; es gäbe wegen niedriger Zinsen schlicht einen Überhang an investivem Kapital. Viel zitiert ist die offenbar ernst gemeinte Aussage des Ökonomen eines hiesigen think-tank, dass Luxemburg gar kein „Logementsproblem“ hätte.5 Diese Urteile sind jedoch eher exotisch. Sowohl die Höhe der Wohnkosten auch im Vergleich zu den Nachbarländern wie ihre Zuwachsraten sind exorbitant, und die Besorgnis darüber wird von einer großen Mehrheit der Öffentlichkeit geteilt – auch in den politischen Parteien.
Erwartungsgemäß ist die Spannbreite der diskursiven Konstruktionen zu Frage 2 nach den Ursachen der Misere schon größer. Die vertretenen Positionen lassen sich je nach Interessenlage gut sortieren. Diskurslinie I betont die Größe des Landes, die per se limitierten Ressourcen und das Schutzgut Boden bzw. Freiraum. Diskurslinie II verweist auf den öffentlichen Sektor, namentlich fehlende Baulandausweisungen sowie langwierige administrativen Prozeduren, die die Schaffung von Wohnraum verhindern. Umwelt- und Naturschutz bekommen hier den schwarzen Peter zugeschoben. Diskurslinie III zielt auf die strategische Position von Grundbesitzern und Promoteuren in der Wertschöpfungskette Boden.6 Dies zu thematisieren ist heikel. Spekulation ist der berühmte Elefant im Raum: überall präsent, aber – zumindest bis vor kurzem – offiziell tabu. Vielleicht schließen sich all diese Erklärungsansätze auch nicht aus, sondern steuern jeweils Bausteine für ein besseres Verständnis des Problems als Ganzes bei?
Sehr kontrovers diskutiert werden, zu Frage 3, mögliche Strategien zur Behebung des Problems. Auch hier trennen sich die relevanten Diskurslinien: Die einen treten für mehr Flächenausweisungen sowie Expansion der kommunalen PAG-Perimeter ein, die anderen sind für verstärkte staatliche Aktivitäten zur Förderung des Wohnungsbaus und, je nach Weltanschauung, auch für Eingriffe in die Preismechanismen. Das Ziel, mehr zu bauen, eint beide Lager. Unklar bleibt indes, über welche Zeitachse es eigentlich realisierbar ist und welche Wirkung es haben kann.
Soweit es einen Mehrheitsdiskurs im Land gibt, ist dieser unvollständig. Denn es werden kaum Bezüge zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes hergestellt, insbesondere zum ausufernden Bedarf an Büroraum. Gleiches gilt für die Wachstumsszenarien mit Blick auf Bevölkerung und Wirtschaft, die jede real mögliche Neubautätigkeit als unzureichend erscheinen lassen. Ähnliche Blindstellen im Diskurs markieren Themen wie das Wohnen zur Miete, die Frage nach der städtebaulichen Qualität oder der Konflikt zwischen privaten und öffentlichen Interessen. Kommunale oder staatliche Bodenpolitik gibt es zwar punktuell, aber nicht als offen artikulierte Strategie. It’s the market, stupid.
Fazit
Grund und Boden in Luxemburg sind ein außerordentlich komplexes und zunehmend strittiges Thema, auf das im herrschenden Diskurs immer noch mit recht einfachen Antworten reagiert wird. Sie erschöpfen sich im Grunde in der mechanistischen Forderung nach „mehr bauen“. Die veröffentlichte Meinung knüpft dazu an der historisch gewachsenen Tradition des Grundeigentums an. In der aktuellen Höchstpreislage ist Eigentumsbildung jedoch für weite Teile der Gesellschaft zur Fiktion geworden: Sie ist kommunikativ konstruiert, spielt in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen kaum noch eine Rolle. Es ist ein imaginärer Diskurs, der womöglich stellvertretend ist für die Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Er wird zudem eingeengt durch kommunikative Spundwände, die zum Schutz rezenter Interessen errichtet werden. Die Mobilisierung bodengebundener Profite und die Grenzen des auf privates Eigentum setzenden Politikmodells bleiben ohne Echo.
Nimmt man das Bodenproblem und damit verbunden die Wohnungsnot im Land ernst, müsste dieser Diskurs geöffnet werden, sich lösen vom überkommenen Bild des Eigenheims und der schlichten Forderung nach „mehr bauen“. Dann wäre der radikale Wandel des Landes in der jüngeren Vergangenheit das Thema, vor allem die Dominanz von Büroraum, die Finanzialisierung von Grundeigentum durch externes Kapital sowie die damit verbundene Abkopplung von Gebrauchswert und Tauschwert an Grund und Boden. Eine Antwort darauf hätte zwei Elemente: erstens Ehrlichkeit dahingehend, dass das Wohnungsproblem unter ceteris paribus-Bedingungen des Immobilienmarktes nicht lösbar ist; zweitens ginge es um den strategischen, langfristigen Aufbau von Ressourcen an öffentlichem, nicht privatem Grund und Boden.7 Dies wären die Fragen, die ein idealtypisch herrschaftsfreier Diskurs aufwerfen müsste. Natürlich ist Diskurs nicht alles. Doch ohne offene Kommunikation über das Problem, seine Ursachen und alternative Handlungsstrategien ist alles nichts. Wer fängt an?
- Reiner Keller, Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011.
- Georg Glasze / Annika Mattissek (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld, transcript, 20122.
- Gerhard Senft (Hg.), Land und Freiheit. Zum Diskurs über das Eigentum an Grund und Boden in der Moderne, Wien, Promedia, 2013.
- „Nous sommes à l’aube d’un changement de paradigme dans la politique du logement, en freinant la spéculation sur les terrains à bâtir et les logements par des décisions politiques courageuses. En même temps, nous investissons massivement dans les habitations abordables en faisant de l’Etat et des communes les principaux acteurs du marché immobilier.“ Xavier Bettel, „Eise Wee, Eist Zil“. Discours sur l’état de la nation, 12. Oktober 2021.
- https://www.rtl.lu/news/national/a/1815334.html (letzter Aufruf: 2. Februar 2022).
- Antoine Paccoud / Markus Hesse / Tom Becker / Magdalena Górczyńska, „Land and the housing affordability crisis: landowner and developer strategies in Luxembourg’s facilitative planning context“, in: Housing Studies, 2021, S. 1-18; https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/02673037.2021.1950647 (letzter Aufruf: 2. Februar 2022).
- Florian Hertweck (Hg.), Architektur auf gemeinsamem Boden. Positionen und Modelle zur Bodenfrage, Zürich, Lars Müller Publishers, 2019.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
