Atmosphärisches Rauschen, Sambaklänge und ein rauchender Schlot
Die Website des transmedialen Projektes „A Colônia Luxemburguesa“
Das Projekt der luxemburgisch-brasilianischen Historikerin Dominique Santana – eine Zusammenarbeit von C2DH, CNA und Samsa Film – basiert auf der Dissertation der Regisseurin bzw. – wie sie auch bezeichnet wird – der Story-Architektin. Dieser Begriff ist durchaus treffend. Denn Santana erzählt ihre Geschichten – mit Hilfe von Bausteinen einer sehr komplexen Website – dramaturgisch geschickt und spannend, und eben nicht in der üblichen Art und Weise einer wissenschaftlichen Buchpublikation mit ihrer hochspezialisierten Sprache. Das „Transmedia-Projekt“ ist gratis und für jeden über
www.colonia.lu zugänglich.
Welche Geschichten erzählt Santana? Im Zentrum steht ein Ableger des Stahlriesen ARBED, der vor etwa 100 Jahren in Brasilien aus dem Boden gestampft wurde: die „Companhia Siderurgica Belgo Mineira“. Im Zuge dieser Fabrikgründung entstand eine Stadt, João Monlevade, in der luxemburgische Expats – Firmenleiter, Ingenieure, aber auch Vorarbeiter – sowie Brasilianer*innen lebten.
In sieben Kapiteln erzählt uns Dominique Santana eine Wirtschafts-, Sozial- und Erinnerungsgeschichte dieses einen Ortes und gleichzeitig Brasiliens und Luxemburgs: von den mühsamen Anfängen der Fabrik und der Stadt, der Pionierleistung des Fabrikgründers Ensch, von den schwierigen Jahren während des Zweiten Weltkriegs und den Ereignissen während der brasilianischen Militärdiktatur; aber auch von den Herausforderungen des Zusammenlebens von Luxemburger*innen – den Gringos – und Brasilianer*innen verschiedener sozialer Schichten; und von den Kindern, die hier aufwuchsen – den „brasilianischen Luxemburgern“. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Aspekt der Erinnerung: den persönlichen Erinnerungen der ehemaligen Arbeiter*innen und Angestellten ebenso wie der gesteuerten Erinnerungsarbeit des Konzerns und den dabei entstandenen Mythen. Santana erzählt diese Geschichte mithilfe unterschiedlich langer dokumentarischer Filmclips, gespickt mit Interviews und historischem Filmmaterial. Manche Kapitel bieten weiterführende Informationen oder zeigen historisches Filmmaterial in voller Länge.
Teilnehmende Zuschauer*innen
Aber, hätte Santana nicht gleich einen Dokumentarfilm drehen können? Ja, das hätte sie sicherlich machen können. Auf gewisse Weise hat sie dies auch getan. Aber das Projekt „A Colônia Luxemburguesa“ ist eben viel mehr, als „nur“ ein Dokumentarfilm. Der wesentliche Unterschied liegt in der agency oder, wie sie es ausdrückt, im public engagement. Als Nutzer der Website sind wir nicht nur Zuschauer*innen, die Santanas Film ansehen. Wir sind vielmehr Teilnehmer*innen, ja Akteur*innen, die mit den Filmen interagieren können. Beginnend mit der Möglichkeit, Filme jederzeit zu stoppen oder zu überspringen, werden während der Clips Querverweise auf die sprechenden Personen oder die erwähnten Orte eingeblendet. Die Website enthält aber auch ein digitales Archiv, in dem Nutzer*innen die historischen Quellen einsehen können, die Santana verwendet hat. Und wer möchte, kann sie kontaktieren, um weitere historische Quellen beizutragen – von der Dokumentation persönlicher Erinnerungen und Familiengeschichten über Fotos bis hin zu Dokumenten.
Digital Public History
Santana bezeichnet ihr Projekt als ein Digital Public History-Experiment, bei dem es zu Synergien zwischen Wissenschaft, Film und Neuen Medien kommt. Für diesen Ansatz der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis im digitalen Raum jenseits von Wikipedia & Co. gibt es Vorläufer – auch aus Luxemburg. Als Beispiele seien die Website zur Geschichte Luxemburgs kulturgeschicht.lu, einer Kooperation verschiedener Historiker*innen der Universität Luxemburg und dem Erziehungsministerium, sowie die Online-Ausstellung Éischte Weltkrich – Remembering the Great War in Luxembourg, konzipiert von Mitarbeiter*innen des C2DH, genannt. Aber auch Museen sind bei diesem Trend mit dabei. Ein prominentes Beispiel ist die digitale Strategie des Frankfurter Kunsthauses Städel, das explizit macht, dass es nicht einfach nur seine Kunstsammlung ins Internet stellt, sondern den digitalen Raum als Chance nutzt, Inhalte auf neuartige Weise zu vermitteln. Dominique Santana führt diese Entwicklung mit ihrem Projekt weiter – sie verknüpft Film mit Text, Storytelling mit wissenschaftlichen Fragestellungen – und leistet damit einen wichtigen Beitrag bei der Überwindung sozialer Grenzen in der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Kritisch ist anzumerken, dass die wenigen Texte an manchen Stellen ein gutes Lektorat vertragen hätten. Und die auch separat nutzbare Weltkarte mit den in den Filmen vorkommenden Orten wirkt ohne Bezug zu den Erzählungen etwas aus dem Kontext gerissen. Und ja, man hat sehr viel anzusehen, vielleicht zu viel. Wer sich alles anschauen möchte, ist mehrere Stunden beschäftigt. Aber das ist ja das Schöne an den neuen digitalen Formaten: Man kann selbst entscheiden, wie tief man in diese faszinierende luxemburgisch-brasilianische Geschichte eintauchen möchte.
- https://kulturgeschicht.lu (letzter Aufruf: 4. Juli 2022).
-
https://ww1.lu (letzter Aufruf: 4. Juli 2022).
-
https://www.staedelmuseum.de/de/digitale-strategie (letzter Aufruf: 4. Juli 2022).
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
