Jugend zwischen Schutz, Hilfe und Strafe
Einführung ins Dossier
Artikel 3 der 1989 verabschiedeten UN-Kinderrechtskonvention regelt das Wohl des Kindes mit folgendem ersten Paragrafen: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“1
Das Großherzogtum Luxemburg orientiere sich, so kritische Stimmen, seit nunmehr 32 Jahren zu wenig u. a. an diesem Artikel. Die Prinzipien des Kindeswohls und andere Grundsätze der UN-Kinderrechtskonvention seien nur unzureichend in der seit 1992 geltenden luxemburgischen Jugendschutzgesetzgebung verankert. Seit vielen Jahren und Jahrzehnten, so lässt sich u. a. im Artikel von Charel Schmit, dem OKAJU (Ombudsman fir Kanner a Jugendlecher), in diesem Dossier nachlesen, fordern zahlreiche Kritiker*innen, dass der luxemburgische Jugendschutz reformiert werden müsse. Zu den zentralen Forderungen gehörte stets die nach der Trennung von Jugendschutz- und Jugendstrafrecht, wie sie für die geplante Reform nun angedacht ist.
Was schlecht war, kann gut werden
Im ersten Beitrag des Dossiers erklärt die Kriminologin Fanny Dedenbach, die am Ministerium für Bildung, Kinder und Jugend die Reform des Jugendschutzgesetzes koordiniert, die Probleme der aktuellen Gesetzgebung. Es ist lehrreich, die Lektüre des Dossiers mit diesem Beitrag zu beginnen, weil er verdeutlicht, warum die aktuelle Gesetzeslage mit Blick auf die Kinderrechte so problematisch ist. Sie erläutert die Probleme, die mit einer Trennung von Jugendschutz und Jugendhilfe auf der einen, und mit der Vermischung von Jugendschutz- und Jugendstrafrecht auf der anderen Seite zusammenhängen. Da die jetzige Gesetzgebung keinen Unterschied zwischen den Konsequenzen für delinquentes und für schutzbedürftiges Verhalten mache, bestehe die Gefahr, so Dedenbach, „dass nicht-delinquente Kinder und Jugendliche dieselben einschneidenden Maßnahmen erleben wie ein Minderjähriger, der das Gesetz gebrochen hat“. Ein bis heute in Luxemburg fehlendes Mindestalter für Strafmündigkeit, fehlende Verfahrensgarantien und ein generell eher auf Bevormundung als auf Partizipation setzendes System im Umgang mit Minderjährigen seien weitere nicht nur problematische, sondern auch gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstoßende Charakteristika einer antiquierten luxemburgischen Jugendschutzgesetzgebung. Dies könne sich nur durch eine grundlegende Reform ändern, und die sei nun auf den Weg gebracht.
Tatsächlich haben das Justiz- und Erziehungsministerium im April dieses Jahres drei lang erwartete Gesetzesentwürfe in der Chamber deponiert: das projet de loi n° 7994 portant aide, soutien et protection aux mineurs, aux jeunes adultes et aux familles, das projet de loi n° 7991 portant introduction d’un droit pénal pour mineurs sowie das projet de loi n° 7992 relatif aux droits des mineurs victimes et témoins dans le cadre de la procédure pénale – also kurz: Entwürfe zu einem Jugendschutzgesetz, Jugendstrafgesetz sowie einem Opfer- und Zeugenschutzgesetz. Erstmals in der Geschichte Luxemburgs wird es, wenn die Gesetze verabschiedet werden, ein genuines Jugendstrafgesetz geben, dessen Fehlen Kritiker*innen der aktuellen Gesetzeslage seit Jahrzehnten bemängeln.
Erstmals in der Geschichte Luxemburgs wird es, wenn die Gesetze verabschiedet werden, ein genuines Jugendstrafgesetz geben.
In einem Sammelband2, den Thomas Köhl am Ende unseres Dossiers bespricht und der die Ergebnisse eines 2019 organisierten Konferenzzyklus versammelt, bei dem es darum ging, wie Köhl schreibt, „gewichtige Fachleute mit internationaler Expertise und hervorragendem Ruf zusammenzubringen, um den Anliegen der Kinder und Jugendlichen Luxemburgs unüberhörbar Stimme und Gewicht zu verleihen“, kommt auch Renate Winter zu Wort. Winter, seit 1981 Richterin in Österreich sowie u. a. seit 2013 Mitglied des UN-Kinderrechtsausschusses, gilt als ausgewiesene Kinderrechtsexpertin und hat die luxemburgische Regierung bei der Reform des Jugendschutzes beraten. In ihrem Beitrag im Sammelband liefert sie eine Erklärung für die Probleme, an der die noch geltende Jugendschutzgesetzgebung krankt, für die Probleme, die auch Dedenbach in ihrem Dossier-Beitrag auf den Punkt bringt. Winter sieht folgenden Grund dafür: „Es scheint auch ein Problem hier in diesem Land [Luxemburg] zu sein, zuzugeben, dass ein Kind ein Subjekt von Recht und Unrecht ist und kein Rechtsobjekt“.3 Heißt: Kinder wurden in ihren Rechten in Luxemburg bis heute nicht ernst genommen, in den Rechten, die ihnen qua Geburt zu eigen sind, wenn man die UN-Kinderrechtskonvention ernst nimmt und nicht nur für ein theoretisches Stück Papier hält, das sich in Sonntagsreden zitieren lassen kann, ohne dass das Auswirkungen auf Gesetzgebung, Praxis und das Leben der Kinder hätte. Nur aus diesem Grund, dass man Kinder nicht als Rechtssubjekte betrachtet hat, lässt sich erklären, warum so viele Akteure aus Politik, Justiz und anderen Bereichen in Luxemburg so lange an einer Vermischung von Jugendstraf- und Jugendschutzgesetzgebung festgehalten haben. Dieser Gedanke aber, Kinder als Rechtssubjekte ernst zu nehmen, ist sozusagen der Grundgedanke der nun angedachten Reform.

Charel Schmit, seit Februar 2021 OKAJU in Luxemburg, nimmt diesen Grundgedanken als Titel für seinen Beitrag in diesem Dossier auf: „Vom Schutzobjekt zum Rechtssubjekt“. Sein Artikel setzt mit der Schilderung gewalttätiger Zwischenfälle in der Unité de sécurité (Unisec) des Centre socio-éducatif de l’Etat (CSEE) an, die im Januar dieses Jahres stattgefunden haben, um gleich zu Beginn einige grundsätzliche Probleme der gegenwärtigen Gesetzgebung herauszuarbeiten. Mit Blick auf internationale Entwicklungen der Justizsysteme sowie die UN-Kinderrechtskonvention entfaltet Schmit in seinem Text das Modell einer kinderrechtsbasierten Jugendjustiz, die wir – wenn alles klappt – noch in dieser Legislaturperiode auch in Luxemburg haben werden. Abschließend arbeit der Autor, ohne „Anspruch auf Vollständigkeit“, wie er betont, einige Aspekte heraus, „die aus kinderrechtlicher Sicht besondere Aufmerksamkeit bei der anstehenden Reform erfahren müssen“. Für Schmit steht nicht weniger auf dem Spiel als die Möglichkeit, in Luxemburg erstmals eine Jugendgesetzgebung zu etablieren, die „erklärtermaßen die Kinderrechte in ihrer Vielfalt, Interdependenz und Balance von Schutzrechten, Fürsorgerechten und Beteiligungsrechten […], das Kindeswohlprinzip, […] die Stärkung der Rechte von minderjährigen Opfern, der rechtsstaatlichen Prozessgarantien sowie internationale Empfehlungen“ in den Fokus rückt. Wenn Sie sich für unser Dossier-Thema interessieren, aber bisher noch wenig darüber wissen, sind die Beiträge von Dedenbach und Schmit unverzichtbare Lektüren, weil in ihnen deutlich wird, was bisher war und was sein kann, wenn die Abgeordneten für die Reform stimmen werden.
„Es scheint ein Problem in Luxemburg zu sein, zuzugeben, dass ein Kind ein Subjekt von Recht und Unrecht ist und kein Rechtsobjekt.“
Das geplante Jugendschutzgesetz wird nicht nur die Befugnisse des Office national de l’enfance (ONE) ausweiten, sondern auch die Rechte der Eltern stärken, die – so wie auch Pflegefamilien – intensiver in den Schutzprozess eingebunden werden sollen. Das Jugendstrafrecht, wie bereits erwähnt das erste in der Geschichte unseres Landes, führt ein Strafmündigkeitsalter von 14 Jahren ein, wird den Freiheitsentzug als letztes Mittel betrachten, stattdessen aber verstärkt auf Alternativen zur Strafe, sogenannte Diversionsmaßnahmen, setzen, auf die Minderjährige dann – anders als bisher – ein Recht haben und an deren Formulierung sie auch mitarbeiten sollen. Das Opfer- und Zeugenschutzgesetz wird u. a. regeln, dass kein*e Minderjährige*r befragt werden darf, ohne eine*n Kinderanwält*in dabei zu haben. Dies sind nur einige der mit der Reform verbundenen Neuregelungen, und unter denen, die eine kinderrechtsbasierte Justiz vertreten, werden sie begrüßt. Es kommt aber auch Kritik an einigen dieser Punkte auf.
Kritik und Affirmation
Um in unserem Dossier auch die kritischen Stimmen einzufangen, haben wir Anfang August Simone Flammang und David Lentz von der Generalstaatsanwaltschaft getroffen, um uns ihre Sicht auf die Reform darlegen zu lassen. In einem dritten Beitrag in unserem Dossier können Sie ihre, aber auch die Einschätzung vom OKAJU Charel Schmit auf die zentralen Elemente der Reform nachlesen. Es wird an dieser Stelle nicht zu viel verraten, wenn gesagt wird, dass Sie fast durchgängig konträre Einschätzungen lesen werden. Während Flammang und Lentz davon ausgehen, dass eine Trennung von Jugendschutz- und Jugendstrafrecht dazu führen wird, dass der ganzheitliche Blick auf das Kind nicht mehr möglich sein wird, hält Schmit die Reform für die Bedingung schlechthin, um überhaupt und erstmals einen ganzheitlichen Blick auf schutzbedürftige und delinquente Minderjährige entwickeln zu können. Prozedurale Probleme, die die Generalstaatanwaltschaft bei der Reform sieht, erkennt Schmit nicht. Im Gegenteil: Er begrüßt, dass vieles, was bisher in Luxemburg vage, nicht ausformuliert und teilweise willkürlich gelaufen ist (wie etwa die Verhängung von Diversionsmaßnahmen), nun mit der Reform erstmals in gesetzlich verankerte Prozeduren geleitet wird. Letztendlich, das werden Sie sehen, stehen sich mit den Positionen in diesem Beitrag auch zwei Prinzipien gegenüber: eine in den Augen der Generalstaatsanwaltschaft momentan noch gut funktionierende Praxis auf der einen, eine aus der Sicht von Schmit auf internationalen Erfahrungen und den Kinderrechten basierende und somit rechtsnormativ abgesicherte Gesetzgebung in der Zukunft auf der anderen Seite.
Stimmen aus der Praxis
Nach diesen drei Einstiegstexten wird es praktischer. Pascaline K’Delant von der Fédération des acteurs du secteur social au Luxembourg ASBL (FEDAS), einem Netzwerk von Organisationen mit sozialer und gesellschaftlicher Ausrichtung, erinnert in ihrem Beitrag zunächst an den Durchbruch, den im Jahr 2008 die loi relative à l’aide à l’enfance et à la famille (AEF) bedeutet hat, macht aber sogleich deutlich, dass erst die jetzige Reform dem AEF zur vollen Blüte verhelfen werde. Zwar habe das Gesetz, in dem in Luxemburg erstmals das Kindeswohl betont wurde, es ermöglicht, das wichtige ONE zu schaffen sowie einen neuen Beruf, den Koordinator von Interventionsprojekten (CPI), und doch würden erst jetzt die fundamental wichtigen Weichen gestellt: Die Bereiche Hilfe und Schutz werden nun in einem einzigen Gesetzestext zusammengefasst (dem Jugendschutzgesetz), der Bereich Strafrecht werde in einem eigenen Text behandelt. Dies sei in den Augen der FEDAS zu begrüßen.
Auch die Soziologin Ulla Peters erinnert in ihrem Beitrag an die fundamentale Bedeutung, die das AEF-Gesetz 2008 gehabt habe, kritisiert aber gleichzeitig die paternalistische Haltung des Staates, der bis heute davon ausgeht, dass Kinder am besten durch den Staat und seine Institutionen geschützt würden. Noch vor der Stärkung der Rolle der Eltern im Schutzprozess, wie der jetzige Entwurf zum Jugendschutz ihn vorsieht, habe, so Peters, die sicherheitsorientierte Praxis (SOP) für Fortschritt gesorgt. SOP-Konzepte sind auf den Schutz der Kinder und Jugendlichen fokussiert, setzen visuelle und narrative Modelle um und integrieren Eltern und andere Beteiligte in den Prozess. Für Peters ist die mit den neuen Gesetzesentwürfen angestrebte Reform eine Antwort auf die Feststellung, dass die Kinder- und Jugendrechte integral in die Gesetzgebung implementiert werden müssen.
Paul Schmit, Jurist, ehemaliger Vize-Präsident des Staatsrats und Präsident der Fondation EPI, berichtet ganz konkret aus der Praxis. Die Stiftung EPI betreut Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die Bedarf an psychischer, sozialer und pädagogischer Unterstützung bei der sozialen Eingliederung haben. Sie richtet sich also an junge Menschen, die Schwierigkeiten bei der sozialen und beruflichen (Re)Integration haben. Der Autor begrüßt, dass der Gesetzesentwurf zum Jugendschutz nicht nur auf die Förderung der Kinderrechte ausgerichtet ist und Prävention gegenüber Strafe bevorzugt, sondern auch, dass der neue Verfassungstext in Artikel 31 feststellt, dass bei allen das Kind betreffenden Entscheidungen das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen sei. Somit wird, wenn alles gut geht, die Konvention nicht nur Berücksichtigung in unserer reformierten Jugendschutzgesetzgebung, sondern auch in der neuen Verfassung finden. Aus der Perspektive Schmits entspricht der Gesetzesentwurf zum Jugendschutz genau dem, was die Fondation EPI seit Jahren leistet. Der Jurist kann die vorliegenden projets de loi also nur begrüßen.
Perspektiven
Alle wesentlichen Akteure, die tagtäglich in Luxemburg in dem Bereich arbeiten, für den die geplante Reform eine Rolle spielt, werden sehr zufrieden sein, wenn der Gesetzgebungsprozess im kommenden Jahr mit einer Annahme der drei Entwürfe durch die Deputierten an ein Ende kommt. Damit aber ist es noch nicht ganz geschafft: Dann steht weitere Arbeit an. Im Gespräch mit forum hat OKAJU Charel Schmit das auf den Punkt gebracht: „Die positiven Veränderungen, die die Gesetzesentwürfe nun vorbereiten, müssen als positive Veränderungen auch bei den Betroffenen ankommen. Es gilt in Begleitmaßnahmen zur Weiterqualifizierung aller Fachkräfte zu investieren, es muss eine wissenschaftliche Begleitforschung etabliert werden und es braucht einen fachpolitischen permanenten Austausch.“ forum wird das Thema in den kommenden Jahren weiter beobachten und gemeinsam mit den involvierten Akteuren prüfen, welche Effekte die Reform, wenn sie angenommen wird, zeitigt.
Die Reform ist eine Antwort auf die Feststellung, dass die Kinder- und Jugendrechte integral in die Gesetzgebung implementiert werden müssen.
An dieser Stelle sei noch auf zwei weitere Veröffentlichungen sowie eine große Veranstaltung hingewiesen. Im September werden wir bei forum+, unserer Online-Rubrik, die ab dem 13. September aus der Sommerpause zurückkehrt, auch zwei Artikel zu diesem Dossier-Thema publizieren. Freuen Sie sich auf Beiträge der Kinderanwältin Valérie Dupong sowie des Teams der Jugendpsychiatrie der Rehaklinik des Centre hospitalier neuro-psychiatrique (CHNP) in Ettelbrück. Etwas später, und zwar am 26. Januar 2023, organisieren wir, gemeinsam mit dem Mierscher Kulturhaus, ein public forum zu diesem Thema. Das Besondere: Um 18.30 Uhr findet unter der Regie von Claude Mangen eine Aufführung des Stückes KING TEL MO REI von Roland Meyer statt, in dem Sie erfahren, wie es mit Tel Mo, dem Protagonisten aus Meyers 2017 erschienenen Roman, weitergegangen ist. Im Anschluss diskutieren wir mit verschiedenen Expert*innen die angedachte Jugendschutz- und Jugendstrafrechtsreform und fragen uns, ob es Tel Mo besser gehen würde, hätte die Reform schon ein paar Jahre eher umgesetzt werden können.
1 https://tinyurl.com/KinderrechtskonventionUNO (letzter Aufruf: 28. August 2022).
2 Charel Schmit / Fanny Dedenbach / Renate Winter / Silvia Allegrezza (Hg.), Jeunes en conflit avec la loi et les droits de l’enfant. Acquis et futurs défis pour le système de justice, Luxemburg, OKAJU Editions, 2022.
3 Renate Winter, „Mehrwert Kinderrechte! Kinder und ein kindergerechtes Justizsystem“, in: ebd., S. 17-27, hier S. 19.
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