Vom Jugendschutz zum „placement médical“

Das forum-Dossier im September beschäftigt sich mit der geplanten Reform des Jugendschutzgesetzes und der Einführung eines Jugendstrafrechts. Im April dieses Jahres wurden die Entwürfe dreier Gesetze in der Chamber deponiert: das projet de loi n° 7994 portant aide, soutien et protection aux mineurs, aux jeunes adultes et aux familles, das projet de loi n° 7991 portant introduction d’un droit pénal pour mineurs sowie das projet de loi n° 7992 relatif aux droits des mineurs victimes et témoins dans le cadre de la procédure pénale – also kurz: Entwürfe zu einem Jugendschutzgesetz, Jugendstrafgesetz sowie einem Opfer- und Zeugenschutzgesetz.  Auf forum+ wird das Dossier nun ergänzt.

Anja Malmendier-Muehlschlegel und Thomas Karst (Jugendpsychiatrie/Rehaklinik am CHNP in Ettelbrück) begrüßen die geplante Reform, geben aber zu bedenken, dass sie den Bedürfnissen psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher noch nicht ausreichend Rechnung trägt.

Die geplante Änderung des Jugendschutzgesetzes wird die Rahmenbedingungen kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlungen unter drei wesentlichen Aspekten verändern.

Erstens stellt der Verbleib des Sorgerechts bei den Eltern im Falle einer gerichtlich angeordneten Unterbringung (Art. 84) eine wesentliche Verbesserung dar. 

Die bisherige Praxis, das Sorgerecht auf psychiatrische Institutionen zu übertragen, ist weder therapeutisch hilfreich, noch ist sie mit international anerkannten Prinzipien der Berufsethik[1] zu vereinbaren. Eltern und andere erwachsene Bezugspersonen stellen eine unersetzliche Ressource für Jugendliche dar. Im Rahmen eines systemischen Ansatzes beziehen wir Familien mit ein, unabhängig von der rechtlichen Stellung der Eltern; auch aus therapeutischen Gründen ist eine Stärkung der Position der Eltern wünschenswert. 

Die berufsethische Problematik, die bei der Übertragung des Sorgerechts auf ein Krankenhaus entsteht, ist nicht zu vernachlässigen. Im modernen Arzt-Patienten-Verhältnis liegt der Fokus auf Partnerschaft, wobei der Behandelte nach eingehender Aufklärung einer Behandlung entweder direkt zustimmt, oder aber gegebenenfalls gemeinschaftlich ein alternativer Therapieplan entworfen wird, der für den Behandlungssuchenden annehmbarer ist.[2] Dies ist in einem bevormundenden Umfeld, in dem eine niedrige Schwelle besteht, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen, nur schwer umsetzbar, sodass die anvisierte Gesetzesänderung hier für Erleichterung sorgen wird. 

Es gibt jedoch auch leider immer wieder Umstände, in denen die Ausübung des Sorgerechts durch die Eltern nicht mit dem Kindeswohl zu vereinbaren ist – zum Beispiel bei schwerer Erkrankung der Eltern (z. B. Psychose/Sucht). Hier bedarf es weiterer Erläuterung, wie in solchen Fällen vorzugehen ist. Grundsätzlich ist aus unserer Sicht eine Ausübung des Sorgerechts bzw. der Funktion eines „administrateur légal“ (Art. 89) durch ein Krankenhaus nicht mit den berufsethischen Grundlagen und dem Respekt der Autonomie in einer therapeutischen Beziehung zu vereinbaren.

Zweitens sieht der Gesetzesentwurf eine Trennung zwischen Jugendschutz und Strafrecht vor, was Klarheit in der Behandlung von Jugendlichen mit schwerwiegend regelverstoßenden Verhaltensweisen schaffen und möglicherweise einen Motivationsaufbau zu einer therapeutischen Herangehensweise erleichtern wird.

Drittens schließlich sieht der Gesetzesentwurf nun das Gesetz von 2009 (Loi du 10 décembre 2009 relative à l’hospitalisation sans leur consentement de personnes atteintes de troubles mentaux[3]) zur Unterbringung von psychiatrisch Erkrankten ohne deren Zustimmung, das auch bei psychiatrischen Einweisungen von Erwachsenen zum Einsatz kommt, als alleinige rechtliche Grundlage für Zwangseinweisungen vor. Es wird zwar durch den vorliegenden Gesetzesentwurf modifiziert, trägt aber möglicherweise den Bedürfnissen psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher noch nicht ausreichend Rechnung. 

Zur Frage der Zwangsbehandlung

Grundsätzlich besteht bei psychiatrischen Zwangsbehandlungen ein Spannungsverhältnis zwischen dem Respektieren der Grundrechte des Erkrankten – inklusive des Rechts auf Selbstbestimmung von Personen mit Behinderungen[4] – und der durch die Erkrankung möglicherweise eingeschränkten Einsichtsfähigkeit. Beispiele hierfür sind Menschen, die aufgrund extremer Ängste oder Wahnvorstellungen nicht das Haus verlassen und sich somit die Möglichkeit einer Verbesserung ihrer Situation nehmen, oder eine Person mit Anorexia Nervosa, die krankheitsbedingt die Nahrungsaufnahme verweigert und damit unbeabsichtigt ihr Leben gefährdet. In solchen Fällen kann eine Behandlung die Lebensqualität erheblich verbessern, und nicht selten führen Betroffene nach anfänglichem Zwang die Behandlung freiwillig fort, und eine langjährige Behinderung wird vermieden. 

Dieses komplexe Verhältnis zwischen psychiatrischer Erkrankung, assoziierter, möglicherweise fluktuierender Einschränkung und Respekt für das Selbstbestimmungsrecht ist schon bei Erwachsenen eine Gratwanderung; bei Minderjährigen wird dies zusätzlich dadurch verkompliziert, dass aus entwicklungspsychologischen Aspekten die notwendige Reife fehlen kann. Zum Beispiel können Jugendliche mit einer Angststörung unter Umständen nicht einsehen, dass ein Schulbesuch notwendig ist, da schon der Gedanke daran ihnen tagtäglich das Leben erschwert. Derartige Szenarien gehören in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zum Alltag. 

Auch international werden Kindern und Jugendlichen mehr Selbstbestimmungsrechte zugestanden, als dies noch vor einigen Jahrzehnten üblich war.[5] Eine Einwilligung der Sorgeberechtigten als alleinige Grundlage für eingreifende Maßnahmen gegen den Willen des Jugendlichen zu akzeptieren, auch wenn diese im eigentlichen Interesse des Jugendlichen steht, kann daher bei entsprechender Reife des jungen Menschen problematisch sein.

Das Gesetz von 2009 ist mittlerweile langjährig erprobt und entspricht internationalen Standards, wie diese zum Beispiel von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagen werden.[6] Es ist deswegen grundsätzlich zu befürworten, dass es auch auf Kinder und Jugendliche Anwendung findet. Dabei müssen aber die Besonderheiten des gesellschaftlichen Auftrags der Kinder- und Jugendpsychiatrie Berücksichtigung finden. 

Der gesundheitlichen Fürsorge zugehörig ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie dem kindlichen Wohl ebenso im Sinne des vorliegenden Gesetzesentwurfs verpflichtet wie die dort skizzierte Jugendhilfe oder auch das Schulwesen. An internationalen psychiatrischen Leitlinien orientiert wirkt sie über die Behandlung psychischer Erkrankungen mit an der Umsetzung der gesellschaftlichen Zielsetzung, Kindern und Jugendlichen angemessene Entwicklungsbedingungen zu ermöglichen und frühe und dauerhafte Behinderungen zu vermeiden.

Momentan werden daher mit dieser Zielsetzung auf der Grundlage des Jugendschutzgesetzes unter anderem auch Jugendliche mit Verhaltensstörungen / delinquentem Verhalten, schädlichem Missbrauch von Substanzen/Suchterkrankungen und Störungsbildern, die Schulverweigerung beinhalten, zum Beispiel Angststörungen, psychiatrisch untergebracht.

Alle diese Verhaltensweisen können erhebliche Folgen haben, ohne dass sich der Jugendliche aufgrund von fehlender Reife der Schwere bewusst sein muss. Werden diese Störungen in der Jugend nicht angemessen behandelt, können sie im Erwachsenenalter zu Kriminalität, Drogensucht und Beeinträchtigung der Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und assoziierten psychischen Problemen führen.

Für eine Erweiterung des Gesetzes von 2009

Der Artikel 3 des Gesetzes von 2009 sieht als alleinige inhaltliche Grundlage eines „placement médical“ eine Gefahr für sich selbst oder Dritte vor. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist zur Wahrnehmung ihres gesellschaftlichen Auftrags darauf angewiesen, dass dies auch die durch psychische Erkrankung bedingte relevante Gefährdung der Entwicklung Minderjähriger einschließt, zum Beispiel bei Krankheitsbildern, die mit Schulverweigerung einhergehen. Hier könnte eine auf die Situation Minderjähriger bezogene Ergänzung des Artikel 3 des Gesetzes von 2009 Klarheit schaffen, vorausgesetzt, dass der beschriebene Beitrag der Kinder- und Jugendpsychiatrie zum Kindeswohl tatsächlich vom Gesetzgeber gewünscht wird. 

Zusammenfassend begrüßen wir die Gesetzesinitiative; eine Überprüfung in Hinblick auf die Wahrung des Kindeswohls, jugendtypische Aspekte und die nationale psychiatrische Strategie erscheint jedoch wünschenswert.


Dr. Thomas Karst ist ärztlicher Koordinator des Bereichs Jugendpsychiatrie/Rehaklinik am CHNP in Ettelbrück, ärztlicher Leiter des Therapiezentrums Pütscheid (CTP) sowie Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Dr. Anja Malmendier-Muehlschlegel ist ärztliche Leiterin der Abteilung für Jugendpsychiatrie/Rehaklinik am CHNP in Ettelbrück, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapeutin.


[1] American Medical Association, Code of Medical Ethics overview, https://www.ama-assn.org/delivering-care/ethics/code-medical-ethics-overview (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwioesen wird, wurden zuletzt am 20. September 2022 aufgerufen).

[2] Tom L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, New York, Oxford University Press, 2019.

[3] Loi du 10 décembre 2009 a) relative à l’hospitalisation sans leur consentement de personnes atteintes de troubles mentaux, b) modifiant la loi modifiée du 31 mai 1999 sur la Police et l’Inspection générale de la Police et c) modifiant l’article 73 de la loi communale modifiée du 13 décembre 1988, http://data.legilux.public.lu/eli/etat/leg/loi/2009/12/10/n1/jo

[4] United Nations, Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD), 2006, https://www.un.org/development/desa/disabilities/convention-on-the-rights-of-persons-with-disabilities.html

[5] United Nations, Convention on the Rights of the Child, 1989, https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/convention-rights-child

[6] World Health Organisation, WHO Resource Book on Mental Health, Human Rights and Legislation, 2005,http://www.lhac.eu/resources/library/who_resource-book-on-mental-health-human-rights-and-legislation–2.pdf; Anja Malmendier-Muehlschlegel / Niamh Catherine Power, „Mental health legislation in Luxembourg, a small country in Western Europe“, in: BJPsych International19 (2021), 3, S. 70-72, doi:10.1192/bji.2021.55.

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