Im Schrebergarten des Ästhetizismus

Eine Ausstellung zum Werk von Gast Michels im MNHA

Cerf-Pont (1987)
© Musée national d’histoire et d’art

Erfreulicherweise kann man feststellen, dass in den hiesigen Museen vermehrt Werke luxemburgischer Künstler der älteren Generation in größeren Einzelausstellungen gezeigt werden. Besonders das Musée national d’histoire et d’art (MHNA) tut sich in dieser Hinsicht hervor. Zurzeit kann man dort (sowie im Cercle Cité) eine Retrospektive über das Schaffen des Künstlers Gast Michels besichtigen. Es ist eine umfassende Präsentation. Das MNHA zieht dabei alle Register: Ausstellung, Begleitkatalog, Rahmenprogramm etc. Auffällig bei dieser Art von Ausstellungen ist, dass die Künstler und ihr Schaffen zwar in mehr oder weniger gefälliger Prosa beschrieben werden, dass aber ihre Werke selten bis nie in einen nationalen oder internationalen Rahmen eingebettet werden. 

Bei Gast Michels ist dieser Ansatz glücklicherweise aufgebrochen worden, und doch ist der breitere Kontext lediglich angedeutet. In der Analyse selbst spielt er keine Rolle. Die Werkanalyse beschränkt sich demnach größtenteils auf lose formalistische Vergleiche und Suggestionen – angereichert mit biografischen Details. Alles dreht sich um Farben, Formen und Symbole. Zudem beruht die Analyse nahezu komplett auf Kunstkritiken aus der hiesigen Presse sowie auf Aussagen des Künstlers selbst: nach meinem Dafürhalten eine recht dürftige Grundlage für eine Analyse. 

Erste Entwicklungen

Aber wenden wir uns dem Werk zu. Gast Michels (1954-2013) wird uns präsentiert als ein Künstler, der anfänglich in den achtziger Jahren seine Inspiration aus seiner eigenen Erlebniswelt – dem Wald seiner Heimatregion, dem Müllerthal – gezogen hat. Später scheint er sich dann mehr für städtische Räume und universell humanistische Themen interessiert zu haben.

Stilistisch wird seine Malerei als expressionistisch mit kräftigem Farbgestus und ungestümem Duktus charakterisiert. Die Kompositionen wirken ein wenig ungeordnet. Motive werden oft antithetisch präsentiert und symbolisch aufgeladen (beispielsweise stehen Hirsch und Jäger für das Gute und das Böse). Gegenständliche Elemente sind rudimentär mit starker Tendenz zur Abstraktion gemalt. Es ist eine gefällige Malerei, die auf den ersten Blick durch ihre bunte Farbpalette anziehend wirkt. Aber woher kommt dieser Stil und diese Bilderwelt? Sind sie ausschließlich der künstlerischen Subjektivität entsprungen?

Gast Michels beginnt seine Karriere in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Erste Kontakte im künstlerischen Milieu machte er aber wesentlich früher. So scheint er u. a. mit Künstlern der sogenannten Consdorfer Scheier bereits Ende der sechziger Jahren bekannt gewesen zu sein. Die Consdorfer Scheier gilt in Luxemburg als eine für die damaligen Verhältnisse fortschrittlich agierende Künstlergruppe. Sie experimentierte mit Concept Art und Pop Art. Seine künstlerische Ausbildung macht Michels dann in den siebziger Jahren, in den Nachwehen der internationalen 68er Bewegungen.

Eine aufregende Zeit

Der Anfang seiner künstlerischen Laufbahn fällt somit in eine bekanntlich aufregende Zeit mit großen Umbrüchen und starken sozialen, politischen und kulturellen Verwerfungen. Es herrschte allerorts Krisenstimmung. Stichworte: Ölkrise, Terrorismus, Reagan, Thatcher, Nato-Doppelbeschluss zur atomaren Aufrüstung, erste Anzeichen einer sich anbahnenden Klimakatastrophe usw. usf. In der Musik stand die Welt mit dem Punk, der Verkörperung des damaligen Lebensgefühls schlechthin, Kopf. Es gab Umbrüche, die nicht nur das Ausland betrafen, sondern auch Luxemburg selbst. Hier regierte nach Jahrzehnten der konservativen Vorherrschaft in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erstmalig eine eher aufgeschlossene sozialistisch-liberale Koalition, die wichtige gesellschaftliche Veränderungen anstieß. Aber es war auch die Zeit der großen Stahlkrise. 

Andere Einflüsse

Von all dem findet man überraschenderweise in der Michelschen Malerei keine Spur. Das seine künstlerische Entwicklung aber dennoch nicht ganz auf einer Insel stattgefunden hat, kann man einer interessanten Beobachtung des luxemburgischen Kunstkritikers Lucien Kayser aus dem Jahr 1987 entnehmen (Katalog, S. 19). Kayser hatte damals erkannt, dass Michels sich stilistisch an der Malerei des deutschen Künstlers Karl Horst Hödicke inspiriert hatte, einem experimentellen Kopf, der maßgeblich zur sogenannten Neuen Figuration (Georg Baselitz, Jörg Immendorff, Anselm Kiefer etc.) sowie zur Entwicklung der Neuen Wilden (Salomé) in der Bundesrepublik beigetragen hatte. Hödickes malerischer Gestus wurde als rebellische Haltung verstanden. Denn diese Malerei war ein Aufschrei, ein Auflehnen gegen die vorherrschende Dominanz der amerikanisch geprägten Kunstentwicklung (Pop Art, Minimal Art, Concept Art). Es war eine neue Malerei, mit der die alten Prämissen der Moderne – wie Subjektivität, Individualität, Meisterwerk und Autorschaft – wieder auf das Podest gehoben wurden; Prämissen, die in den amerikanischen Kunstbewegungen radikal hinterfragt worden waren. Allerorten in Europa erlebte die Malerei in jenen Jahren eine regelrechte Renaissance. Sie wurde in Museen, Ausstellungen und in den Galerien gefeiert, und bald auch wieder in den USA. 

Meiner Meinung nach ist es gut möglich, dass der junge Gast Michels sich deshalb der Malerei zugewandt hat; und genau jenen expressionistischen Stil aufgegriffen hat, der exemplarisch für den erwähnten Aufschwung stand. Hierfür spricht auch, dass in seinen Arbeiten keinerlei Anregungen erkennbar sind, die er aus den Erfahrungen mit der Consdorfer Scheier, die ja gerade die amerikanische Richtung verfolgte, gewonnen haben muss.

Seine figurative abstrahierende Bildsprache wirkt, als ob sie einem Universum ohne künstlerische Vorbildung entsprungen ist. Hiermit greift Gast Michels bewusst auf eine seit der klassischen Moderne schon lange währende künstlerische Konzeption zurück, die aus der Ablehnung der Kunst als rationales Konstrukt entstand; ein Bildkonzept, das weite Verbreitung in der fortschrittlichen Kunst fand. Maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen hat Hans Prinzhorns 1922 erschienenes Buch Bildnerei der Geisteskranken, welches seinerseits wiederum stark inspiriert worden war von Marcel Réjas L’art chez les fous (1907). Das Buch hat nachweislich u. a. Paul Klee und die Surrealisten stark beeinflusst.

Der Siegeszug der Abstraktion

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg erfährt dieses Bildkonzept großen Zuspruch. So prägt es u. a. die Werke Jean Dubuffets, Jean Fautriers und die Arbeiten der Künstlergruppe COBRA. Aber die Semantik des Konzepts bekommt in ihren Arbeiten eine neue Dimension. Vor dem Krieg war die ungelenk wirkende Figuration Ausdruck eines neuen Kunstdenkens, nun wird sie zur Manifestation der künstlerischen Freiheit und eines neuen Humanismus. Bedeutend war sie jetzt nicht mehr nur als anti-akademische Ausdrucksweise, sondern wegen ihres abstrahierenden Charakters.

Dass es dazu kam, hing ursächlich mit der Dominanz der Abstraktion in der Nachkriegszeit zusammen. Als Reaktion auf die zerstörenden und mörderischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs lehnte man damals jede realitätsnahe Figuration ab, da sie als faschistisch kontaminiert galt. Infolgedessen wurde die Abstraktion zur bevorzugten künstlerischen Ausdrucksweise. Orientierungspunkt war hierbei aber nicht die geometrische Abstraktion eines Malewitsch oder Mondrians, sondern die Abstraktion als Reduktion wie bei Kandinsky und Klee sowie die Abstraktion als freie Form im Sinne Miros, dessen Bilderwelt imaginierte Formen aufweist. 

Die neue Abstraktion zielte darauf ab, eine ganz neue, eine andere Realität darzustellen. Das bedeutete aber keineswegs, dass ein Bild nunmehr absolut keine Bezüge zur sichtbaren „alten“ Wirklichkeit aufzeigen konnte. Wichtig war vielmehr, dass man solche Bildelemente keinesfalls ihrer äußeren Form nach deuten durfte. Sie galten als autonom. Sie fungierten im Bild lediglich als „Präfigurationen“, als Andeutungen bzw. Zeichen mit bedeutungsoffener Struktur. Auch den Farben fiel in diesem neuen Organismus eine konstitutive Rolle zu. Das Bild als Ganzes wurde zum Ausdruck eines existenziellen Kampfes des Künstlers. Diese Ästhetik war besonders in den Nachkriegsjahren in Paris weit verbreitet. Es ist die Ästhetik der sogenannten Ecole de Paris – eine Ästhetik, deren Erneuerungspotenzial sich im Formalen erschöpfte. Ihr vorausgesetzt war und blieb Kants Konzept der Kunst als Selbstzweck.

Gast Michels war diese Sichtweise ohne Zweifel bekannt. Wie es scheint, war er Pierre Restany, einem der Haupttheoretiker bzw. -kritiker der Ecole de Paris, freundschaftlich verbunden; eine Nähe, aus der Michels viel Inspiration geschöpft haben dürfte. Jedenfalls ist festzuhalten, dass Restany 1991 einen Katalogbeitrag zu einer Ausstellung von Gast Michels verfasst hat (Katalog, S. 15). Dies legt eine geteilte Kunstauffassung nahe. 

Somit ist klar, dass Michels’ Malerei eine Bekundung einer inneren Erlebniswelt, einer neuen Realität ohne klare Bedeutungsebene ist. Dies macht es schwierig, sich dem Werk zu nähern. Es gleicht einem unsicheren Vortasten auf einem dunklen Weg, der nie zum Ziel führen kann. Kunstrezeption wird zum feinsinnigen Ahnen und Hineinfühlen.

Kein Erneuerer

Folgt man obenstehender Analyse, dann wird ersichtlich, dass Gast Michels in keinster Weise ein Erneuerer war, wie es im Begleitkatalog zur Ausstellung suggeriert wird. Sein zeitgenössischer Malduktus sowie das neuartige Erscheinungsbild seiner Werke täuschen. Bei seinem Werk handelt es sich schlichtweg um neuen Wein in alten Schläuchen. Dreißig Jahre nach der Hochphase der Ecole de Paris greift er erneut eine Ästhetik auf, deren innovativer formalistischer Ansatz längst verpufft ist. Im Werk Gast Michels’ ist die einstige formale Innovation der Ecole de Paris bloß noch als Kunst rezipiert. 

Und ein Erneuerer im avantgardistischen Sinne war er schon gar nicht. Als solipsistisch fixierter Künstler zelebriert Michels geradezu die Distanz zur Lebenspraxis; also genau jene Distanz, die, wie Peter Bürger in seiner bedeutenden Studie zur Theorie der Avantgarde dargelegt hat, das Wesen des Ästhetizismus ausmacht und die die Rolle der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft markiert. Seine Bilder evozieren zwar die Möglichkeit einer anderen Welt, aber sie stellen sie so, wie sie ist, nicht in Frage. Michels’ Werk bestärkt damit die Illusion einer heilen Welt. Sein Werk ist im Sinne Adornos ein „ästhetischer Rückschritt“.


Die Ausstellung Gast Michels. Movement in colour, form and symbols ist noch bis zum 26. März 2023 im MNHA zu sehen.

Mehr Informationen unter: www.mnha.lu

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