Kopfkino
Ein surrender Camcorder, wackelige und verpixelte Bilder ohne richtige Tiefenschärfe, ein blecherner Ton aus dem Off – in ihrem Spielfilmdebüt Aftersun spürt die aus Edinburgh stammende Filmemacherin Charlotte Wells der digitalen Bildästhetik der späten neunziger- und frühen Zweitausenderjahre nach und kontrastiert sie mit dem Jetzt. Als erwachsene, dreißigjährige Frau (Celia Rowlson-Hall) schaut sich Sophie jene Videoaufnahmen an, die rund zwanzig Jahre früher entstanden sind, als sie als Elfjährige (herausragend: Frankie Corio) den vermutlich letzten Urlaub mit ihrem Vater Calum (oscarnominiert: Paul Mescal) in einem Baderesort an der türkischen Riviera verbrachte; Calum steht zu diesem Moment an der Schwelle zu seinem 31. Geburtstag, ist also in etwa so alt wie seine Tochter in der Gegenwart. Im Anschluss an diese gemeinsamen Sommerferien muss eine Tragödie stattgefunden haben – was genau, spricht der Film nicht aus, doch es liegt auf der Hand, dass Calum seinem Leben ein Ende setzte.

Die nunmehr erwachsene Sophie, zunächst nur schemenhaft erkennbar in der Spiegelung ihres Fernsehers, schaut sich immer wieder die grobkörnigen Filmaufnahmen von damals an, die mehr oder weniger zufällige, flüchtige Momente und Gespräche aus dem – eigentlich – unbeschwerten Tochter-Vater-Urlaub konserviert haben, gleicht sie mit ihrer fragmentarischen Erinnerung ab, füllt die Leerstellen mit ihrer Imagination, lässt die Zuschauer.innen an dieser Spurensuche teilhaben. „I think it’s nice that we share the same sky“, sagt die elfjährige Sophie einmal zu Calum, auch wenn man sich gerade nicht am gleichen Ort aufhalten würde, so sei man doch irgendwie zusammen. Nähe, Distanz, Entfremdung, Aufarbeitung, Selbstreflexion – das sind die zentralen Themen von Charlotte Wells’ filmischer Familienstudie, in der die Regisseurin nach eigenem Bekunden auch autobiografische Erfahrungen verarbeitet hat.
Dass nicht alles so ist, wie es scheint, deutet sich bereits früh an. Calum und Sophie flachsen im Hotelzimmer herum, der Vater macht alberne Tai-Chi-Bewegungen auf dem Balkon und die aufgeweckte, mitunter forsche Sophie filmt ihn dabei unscharf im Gegenlicht, will von ihm wissen, wie er sich sein zukünftiges Leben als Elfjähriger so vorgestellt hat. Calum wird plötzlich wortkarg, wiegelt ab, weicht aus – man ahnt es: Sein Leben ist anders verlaufen, als geplant, etwas Unergründliches nagt an ihm, zieht ihn herunter. Mit Sophies Mutter ist er zwar nicht mehr zusammen, doch ein freundschaftliches Verhältnis ist der Tochter zuliebe geblieben; da Calum in naher Zukunft, und weit entfernt von seiner schottischen Heimat, ein neues Leben beginnen möchte (mit wem, wird nicht ganz klar), soll dieser letzte gemeinsame Urlaub Vater und Tochter noch einmal zusammenführen.

Während Calum jugendlicher und unreifer erscheint, als dies seinem tatsächlichen Alter entspricht (Jugendliche halten ihn beim Billardspiel für Sophies älteren Bruder), ist es bei dem Mädchen genau andersherum: Sie steht an der Schwelle zur Pubertät, wirkt aber geistig deutlich erwachsener und gefasster, als man dies von einer Elfjährigen annehmen würde. Sophie ist gleichzeitig zu alt, um noch mit den übrigen (überwiegend britischen) Kindern zu spielen, aber auch noch deutlich zu jung, um wirklichen Anschluss an eine recht trinkfeste und sexuell offenherzige Teenagerclique zu finden. Über weite Strecken zeigt Wells das Vater-Tochter-Gespann bei dem, was man eben so macht in einer Ferienanlage: Sonnenbaden am Pool, schnorcheln, sich über uninspirierte Showeinlagen lustig machen, Ausflüge unternehmen, sich langweilen.
❝Bemerkenswert sind auch die Fragen, die Aftersun durch den Einbezug – bzw. das Nachstellen – von historischen Familienfilmaufnahmen aufwirft.❞
Eine Handlung im traditionellen Sinn besitzt Aftersun dabei nicht – vielmehr zeigt Wells den gemeinsamen Sommerurlaub als Collage von Situationen, fragmentarisch, subjektiv und unscharf, mitunter rätselhaft. Ausgelassene, liebevolle Momente wechseln sich mit Stimmungstiefs und kleinen Reibereien ab, doch eine klassische, in Akte unterteilte Erzählweise will sich partout nicht herausschälen. Auch die Bildsprache entzieht sich angestammten filmischen Konventionen: Die Perspektive entspricht größtenteils Sophies pubertierendem Blick auf die Welt und den Vater, und auch die Szenen, die nicht den Home-Videos entsprungen sind, imitieren die Bildästhetik der Camcorder-Aufnahmen: mitunter bildschön, aber leicht unscharf, natürlich belichtet, mit wenigen Totalen sowie Charakteren, die oftmals nur am Bildrand angeschnitten sind. Besondere Erwähnung verdienen daneben auch die furiosen, aufrichtigen Schauspielleistungen von Paul Mescal und Frankie Corio – beide wirken in ihrem Zusammenspiel so organisch und authentisch, dass man ihnen das ungleiche Gespann in jeder Filmsekunde abnimmt.

Bemerkenswert sind auch die Fragen, die Aftersun durch den Einbezug – bzw. das Nachstellen – von historischen Familienfilmaufnahmen aufwirft. Zwar erlaubt das wiederholte Vor- und Zurückspulen des immer gleichen Materials der erwachsenen Sophie, einen individuellen, introspektiven Erinnerungsraum zu öffnen, in dem sie das filmisch fixierte Erlebte aus ihrer Vergangenheit mit ihren Erinnerungen abgleichen, ergänzen, strukturieren kann (oder es zumindest versuchen), um sich den unausweichlichen, auf der Hand liegenden und letztlich quälenden Fragen zu stellen: Gab es bereits Warnzeichen? Hätte man – ich – etwas merken können, die Situation anders lesen müssen? Wäre das als de-facto-Noch-Kind überhaupt möglich gewesen? Wells’ Antworten auf diese Fragen bleiben ambivalent, und der Verlass auf das historische Filmmaterial erscheint zumindest trügerisch, da es eben doch nur mehr oder weniger zufällige, fragmentarische Momente und Interaktionen immortalisiert hat – und nicht das Binnenleben, das retrospektiv einen Blick auf das große Ganze ermöglicht hätte. Ihr (vermeintlich) kathartisches Moment muss sich Sophie letztlich selbst in ihrer Fantasie erschaffen, durch die Erinnerung an den letzten Tanz mit ihrem Vater, am letzten Tag ihres gemeinsamen Türkeiurlaubs – eine intensive und wuchtige, mit Stroboskoplichtern und Queens/David Bowies Under Pressure (1981) unterlegte Sequenz, die noch lange nachhallt (und es quasi unmöglich macht, das Lied noch einmal zu hören, ohne an ebendiese Bilder zu denken).
Aftersun ist ein über weite Strecken stilles, aber beeindruckend gespieltes und inszeniertes Spielfilmdebüt, das fundamentale Fragen über die Dechiffrierbarkeit von und die Konfrontation mit traumatischen Vergangenheitserlebnissen aufwirft – sehr empfehlenswert, wenn man sich darauf einlässt.
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