Nur einen Trampolinsprung von der gläsernen Decke entfernt 

© Carlo Schmitz

Premierminister Bettel wünscht sich Trampoline, damit Menschen in Luxemburg in ungeahnte Erfolgssphären springen können. Zur Klassenüberwindung taugt diese Erzählung allerdings nicht, wie unser Autor aus eigener Erfahrung weiß.

„Ech sinn net de Premierminister vun engem Land, wou ech gären de Leit eng Couche gi fir drop ze pennen. Ech si gären de Premierminister vun engem Land, wou een en Trampolin kritt fir drop ze sprangen a méi héich ze kommen a wou een houfreg ass iwwert seng Resultater.“1

Vielleicht ohne es zu wissen, unterstrich der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel (DP) beim diesjährigen Neujahrsempfang seiner Partei eines der zentralen Versprechen unserer Zeit: Wenn das Leben dir ein Trampolin schenkt, so suggeriert Bettels Bild, dann spring damit die soziale Leiter hoch. Mit anderen Worten: Du musst dich nur genug anstrengen, dann stehen dir alle Türen offen. Doch was, wenn einem das Leben kein Trampolin schenkt?

Ich habe lange an den Mythos geglaubt, dass Bildung ausreicht, um den sozialen Aufstieg zu schaffen und meine gesellschaftliche Klasse zu überwinden. Ich bin der Erste aus meiner Familie, der studiert und sogar einen Masterabschluss erworben hat. Ich bin der Erste, der in einem der sogenannten „Akademikerberufe“ arbeitet. Doch all das wird niemals verbergen können, welche soziale und finanzielle Herkunft ich hinter mir herziehe. 

Denn die Klasse einer Person durchdringt all ihre Lebensbereiche. Während viele meiner FreundInnen irgendwann eine Immobilie erben werden, bleibt mein Zugang zu Wohnraum begrenzt. Meine Klasse zeigt sich im Verhältnis zu Geld, welches bei vielen weitaus „lockerer“ sitzt als bei mir. In unserer Gesellschaft spiegelt sich das Klassenverhältnis selbst im Sprachgebrauch wider. Menschen, die keiner Arbeit nachgehen oder nicht über die ökonomischen Mittel verfügen, um an unserer Gesellschaft teilzunehmen – etwa durch kulturelle Veranstaltungen, Restaurantbesuche, regelmäßige Urlaube – werden als „sozial schwach“ oder als „Unterschicht“ bezeichnet. Sie weichen von der Norm ab. 

Ich benutze bewusst den Begriff „Klasse“, weil er die Unterschiede am besten aufzeigt. Der Begriff der „Schicht“ impliziert zum Beispiel, dass ein Auf- oder Abstieg möglich sei. Meiner Meinung nach ein Trugschluss: Die eigene Herkunft klebt an einem wie ein Kaugummi. Es geht hierbei nicht nur um die ökonomische oder soziale Herkunft, sondern auch das kulturelle Kapital, das beipielsweise in Form von Bildung oder Ernährungsverhalten weitergegeben wird.

Auch, wenn eine Klassengesellschaft in Luxemburg in vielen Teilen der Gesellschaft als inexistent gilt: Sie ist sehr wohl eine Realität. Ich stamme aus einer klassischen Arbeiterfamilie. Meine Eltern haben den Großteil ihres Berufslebens im Hotel- und Gastronomiegewerbe gearbeitet – einer Branche mit schlechten Gehältern, die die meisten Menschen in Luxemburg wohl nur als Klientel kennenlernen. Neben mir hatten meine Eltern noch drei weitere Kinder, Geld war dementsprechend oft knapp. Meine Geschwister und ich wurden früh mit Armut konfrontiert: Meine Eltern besitzen keine Immobilie und haben zeitlebens gemietet. Dabei achteten sie immer auf den Preis der neuen Wohnung und weniger auf die Wohnqualität. Die Lage oder der Zustand der Räume waren somit nicht immer die besten.

Unser Wirtschaftssystem kennt Gewinner und Verlierer

Der Zusammenhang zwischen Armut und Klasse war mir damals noch nicht bewusst. Der Klassenbegriff begegnete mir zum ersten Mal an einem Sonntag im Herbst 2019. Ich saß damals in der Bahn von Luxemburg nach Kaiserslautern, wo ich zu diesem Zeitpunkt studiert habe, und las einen Artikel über Armut im Studium. Ich ärgerte mich: Im Text kamen vor allem Studierende zu Wort, die nur temporär in „Armut“ lebten. Eigentlich stammten sie aus Familien, die über ausreichend finanzielle und soziale Mittel verfügten. Mit der Armut, wie ich sie einen Großteil meines Lebens erlebt habe, hatten diese Menschen nichts zu tun: Ihre temporäre Situation ging nicht mit der Stigmatisierung oder Gering­schätzung einher, die arme Menschen in vielen Lebensbereichen erfahren. Es wirkte eher, als glorifizierten sie den Lifestyle der „armen Studierenden“, als wäre es etwas Cooles. Ich dachte damals lange über den Artikel nach: Wenn diese Studierenden schon als arm galten – was war ich dann?

Nach und nach realisierte ich, dass sich meine Lebensrealität grundlegend von jener der ProtagonistInnen aus dem Text unterscheidet. Ich habe einen anderen finanziellen Background, keine nennenswerten Rücklagen, kein großes Erbe in Aussicht. Meine Familie hat keine Kontakte, die mir Praktikumsstellen oder Jobs organisieren könnten. Vor allem aber habe ich nicht studiert, weil es selbstverständlich war oder weil ich mir eine schöne Uni-Zeit erwartete, sondern weil ich mir damit eine neue Lebensrealität erhofft habe. 

Ob ich es schaffe, hängt nur von mir allein ab; das dachte ich lange Jahre meines Lebens. Doch diese neoliberale Denkweise entspricht nicht der Realität. Unser heutiges Wirtschaftssystem kennt Gewinner und Verlierer. Und wer auf der Verliererseite steht, bleibt dort in der Regel auch. Mit dieser Erkenntnis veränderte sich in meinem Bewusstsein vieles.

Kaum einer spricht über die Verteilung von Reichtum

Ab da begann ich, meine Herkunft zu reflektieren. Ich recherchierte, was es bedeutet, aus einem Haushalt zu stammen, der von Medien, PolitikerInnen oder sogar WissenschaftlerInnen als „sozial schwach“ und „bildungsfern“ bezeichnet wird. Dabei realisierte ich, wie wenig Luxemburg über das Klassenphänomen und seine Auswirkungen auf unsere Gesellschaft spricht oder debattiert. Die Diskussionen drehen sich um Armut, steigende Ungleichheiten oder die Wohnungskrise. Die Auseinandersetzung mit der Klasse als soziale Kategorie spielt dabei aber nur eine untergeordnete Rolle. Während Deutschland inzwischen zumindest in Teilen der Presse- und Literaturlandschaft über ungleiche Voraussetzungen und die Verteilung von Reichtum spricht, befinden sich diese Debatten in Luxemburg noch im Anfangsstadium – wenn überhaupt.

Rückblickend zog sich die Klassenherkunft meiner Familie durch meine gesamte Schulzeit: Ich habe früh gemerkt, dass ich anders bin als meine SchulkameradInnen. Meine Kleidung war oft abgetragen und von einer eher billigen Qualität. Meine außerschulischen Aktivitäten beschränkten sich zum Großteil auf kostenlose Angebote. An ein Hobby wie die Musikschule war nicht zu denken. Die Schultage, an denen wir über die Berufe unserer Eltern sprechen sollten, belasteten mich. Ich habe die berufliche Tätigkeit meiner Eltern meist nur umschrieben. Dabei haben meine Eltern mich immer so gut wie möglich unterstützt und mir sogar Nachhilfestunden gezahlt, wenn es ging.

Heute würde ich das Gefühl von damals als „Klassenscham“ bezeichnen: Ich habe gemerkt, dass meine Familie und ich anders lebten. Wohneigentum, gut bezahlte Berufe und finanzielle Sicherheit gab es bei uns nicht. Ich habe mich damals oft nicht zugehörig und am falschen Ort gefühlt. Und ich hatte regelrecht Angst davor, deswegen ausgegrenzt oder bemitleidet zu werden.

„Heute würde ich das Gefühl als Klassenscham bezeichnen“

Eine der prägendsten Erfahrungen meiner Schulzeit habe ich als Jugendlicher beim berufsberatenden Gespräch mit der Schulpsychologin erlebt. Ein Jugendlicher, der aus einer „solch einfachen“ Familie stamme wie ich, würde sowieso nicht studieren, erklärte sie mir sinngemäß. Deshalb sei es nicht so schlimm, wenn meine schulischen Leistungen eher unterdurchschnittlich seien. Der Klassengedanke und die damit zusammenhängende Stigmatisierung zeigten sich in dieser Situation deutlich: Die Psychologin schien anzunehmen, dass ein Studium für mich nicht infrage kommen würde – und zwar allein deswegen, weil meine Eltern keines absolviert hatten. 

Am Ende lag die Psychologin ohnehin falsch: Nach der neunten Klasse im Lycée technique und einer Ausbildung in Umwelt- und Fortwirtschaft begann ich ihrer Vorhersage zum Trotz ein Studium. Doch auch während der Studienzeit im deutsch-luxemburgischen Grenzgebiet konnte ich meiner sozialen Herkunft nicht entfliehen: Meine KommilitonInnen aus Deutschland reagierten oft regelrecht überrascht, dass ich als Luxemburger nicht automatisch zur oberen Mittelschicht gehöre. Tatsächlich war Armut bei meinen luxemburgischen Mitstudierenden kein Thema: Dass manche jungen Menschen Eltern haben, die keine AkademikerInnen sind, konnte sich dort kaum einer vorstellen. 

Armut und eine luxemburgische Klassengesellschaft schienen in den Köpfen vieler KommilitonInnen nicht zu existieren. Dabei hatte ich sie mein ganzes Leben lang erlebt: Zum Beispiel, wenn ich während des Studiums im Supermarkt Regale einräumte, um mir meinen Führerschein zu finanzieren – meine Eltern hatten vorher schlichtweg kein Geld dafür übrig. Oder wenn ich besonderen Druck hatte, all meine Prüfungen zu bestehen oder ein kurzes Praktikum zu finden, weil ich meine Studienbeihilfe nicht verlängern konnte. Ohne diese hätte ich einen 20-Stunden-Job gebraucht, um mir das Studium weiterhin leisten zu können. Eine solche Situation hätte wahrscheinlich früher oder später dazu geführt, dass ich mein Studium abbrechen müsste. 

Die Einstellung meiner Mitstudierenden und die teilweise abwertenden Kommentare über Menschen in „einfachen Berufen“ führten dazu, dass ich irgendwann versucht habe, meine Herkunft zu verbergen. Vor allem über Kleidung versuchte ich, mich abzugrenzen. Ich achtete darauf, immer möglichst modische und teure Klamotten zu tragen. Auch meine Wohnung war ein Ausdruck meiner Abgrenzung. Ich suchte eine Wohnung in einem Neubau und weigerte mich, gebrauchte Möbel für die Einrichtung zu nutzen. 

Ich begann damals, nach unten zu treten. Ich zeigte meiner Familie, dass ich jetzt an die Universität gehe und „etwas Besseres bin“. Ich wurde arrogant und abschätzig gegenüber einfachen Berufen. Heute weiß ich, warum ich das tat: Ich wollte mein eigenes Ich verändern, um zum „Wir“ dazuzugehören.

Das Studium sollte ein Weg aus der Klasse sein

Die meisten meiner luxemburgischen KommilitonInnen kannten solche Pro­bleme nicht. Für sie war das Studium eine Leidenschaft oder Form der Selbst­verwirklichung. Letzteres war es in gewisser Weise auch für mich: Spätestens mit dem Masterstudium versuchte ich mir ein Profil anzueignen, mit dem ich schnellstmöglich in die Berufswelt einsteigen konnte. Tatsächlich fand ich mit viel Glück eine Stelle, die es mir ermöglichte, sowohl zu arbeiten als auch mein Masterstudium zu beenden. Ich hatte es geschafft. Dachte ich. 

Denn auch ich in der Arbeitswelt verspüre ich bis heute, dass ich nicht dazugehöre. Das erlebe ich vor allem bei Gesprächen über Wohneigentum und Kredite. Auch hier ist meine Situation anders als die anderer LuxemburgerInnen: Hohe Mietpreise, mein Studienkredit und die niedrigen Gehälter, die anfangs in meinem Arbeitsbereich gezahlt werden, führten dazu, dass ich in den ersten beiden Jahren nach dem Abschluss zurück zu meinen Eltern ziehen musste. In dieser Zeit habe ich sie bei der Miete unterstützt und ihnen dabei geholfen, Rechnungen abzubezahlen. Gleichzeitig konnte ich so etwas Geld zur Seite legen – auch, wenn es wahrscheinlich nie für eine Eigentumswohnung reichen wird. 

Meine Herkunft kann ich bis heute nicht abschütteln: Ich habe ein typisches Armutsmuster beim Umgang mit Geld. Ich versuche, so viel wie möglich anzusammeln und mich in finanzielle Sicherheit zu bringen. Eine große Investition käme für mich nie in Frage; zu groß ist die Angst, irgendwann in eine finanzielle Notsituation zu geraten. Dabei besitze ich durch meinen Einstieg ins Arbeitsleben derzeit so viel Geld wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Ich halte es mittlerweile für schwer bis unmöglich, meine Klasse zu über­winden. So geht es auch anderen: Menschen aus ärmeren Verhältnissen schaffen es oft nicht, dauerhaft aus dieser Situation herauszukommen. Ich habe mich lange dafür geschämt, aus Verhältnissen zu stammen, in denen vieles keine Selbstverständlichkeit ist. Das habe ich mittlerweile abgelegt, denn Scham ist kein Treiber für Veränderung. Letztere braucht unsere Gesellschaft, um ein klareres Bewusstsein für die Folgen von Stigmatisierung und Klassendenken zu schaffen. Und dafür, das Versprechen vom Trampolin als das zu erkennen, was es ist: ein neoliberales Märchen.   

1 https://www.rtl.lu/news/national/a/2015841.html (letzter Aufruf: 22. Februar 2023).

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