Künstliche Moralvorstellungen

„Guter Magazinjournalismus ist wie ein kunstvoll gefertigter Spiegel, der den Leser einlädt, die Welt in einem neuen Licht zu sehen. Wie Goethe sagte: ,Ein neues Licht bricht durch das Dunkel, wenn wir die Dinge mit anderen Augen sehen.‘ Ein gutes Magazin schafft es, die Leser zu fesseln und zu inspirieren.“

Hätten Sie gedacht, dass diese Zeilen von einem Bot verfasst wurden? Auch wir waren überrascht, als wir uns zum ersten Mal mit ChatGPT beschäftigt haben. ChatGPT ist eine künstliche Intelligenz (KI), die auf der Basis von im Internet zugänglichen Daten Texte verfasst; und das so gut, dass manche nun um ihre berufliche Zukunft fürchten. Nun unterscheiden sich die Reaktionen auf ChatGPT wahrscheinlich nicht besonders von jenen auf moderne Roboter, das Internet oder Smartphones. Je einschneidender der technische Fortschritt, so scheint es, desto größer die Angst, durch Maschinen ersetzt zu werden. Ist das gerechtfertigt?

Ein Blick in die sozialen Medien lässt darauf schließen, dass es zumindest in der virtuellen Meinung um ChatGPT zwei Lager gibt: das der Technikpessimisten und jenes, das ChatGPT für experimentelle Späße nutzt. Zugegeben: Es ist mindestens unterhaltsam, die KI Liebesbriefe im Stil eines Justin Bieber-Songs schreiben zu lassen. Doch es dauert nicht lange, bis der datengefütterte Leviathan seine Schwachstellen offenbart. 

So ließ die Redaktion des Bayerischen Rundfunk ChatGPT im Bayern-Abitur antreten und seine Leistung von Lehrenden bewerten.1 Das Ergebnis: In „allen Belangen“ habe die KI „mangelhaft“ gearbeitet. Die Sprache sei eintönig, die Antworten kurz, die Inhalte belanglos. „Da ist viel Gelaber“, urteilte der Deutschlehrer eines Augsburger Gymnasiums. Zudem sind die KIs nicht nur fehleranfällig, sondern auch sozial inkompetent. Im Februar schränkte Microsoft die Nutzung seines Bing-Chatbots ein,2 weil dieser ausfällig geworden war. In einem Fall soll er einem Nutzer die Scheidung von seiner Frau nahegelegt haben. 

Der Kern der künstlichen Intelligenz liegt in ihrem Namen: Sie ist und bleibt künstlich. Menschliche Gedankengänge und Gefühle kann sie nicht ersetzen; nicht einmal glaubwürdig imitieren. Allein die moralische Frage stellt sich: Ist es verwerflich, ChatGPT Bewerbungsschreiben und Hausarbeiten verfassen zu lassen? Die Antworten auf diese Fragen hängen von der betrachtenden Person und der Situation ab. Das ist die Natur moralbehafteter Fragen, und sie existieren auch ohne KI und Technik. Schon unsere Eltern kamen auf die Idee, die Aufsätze ihrer älteren Geschwister im Französischunterricht als ihre eigenen auszugeben. Selbst Staatsoberhäupter sollen ihre Abschlussarbeiten bereits zu großen Teilen plagiiert haben – und das vollkommen ohne KI.

Von ChatGPT dürfte also ungefähr so viel Gefahr für die Menschheit ausgehen wie von einem rostigen NOKIA 3310. Allein unser ethisches Verhalten vermag der Bot mit seinen Möglichkeiten zu konfrontieren. Und vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn sich einige von uns in dieser Hinsicht mal wieder ein Software-Update gönnen. 

reba

1 https://tinyurl.com/chatgptbayern (letzter Aufruf: 21. Februar 2023)

2 Vgl. https://tinyurl.com/bingchatbot (letzter Aufruf: 21. Februar 2023)

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