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Liberale: Eine neue Mitte als Feindbild
Ein Appell an die Gesinnung der DP
(Michel Cames)
Im politischen Spektrum hat sich in den letzten Jahren neben den traditionellen sozio-ökonomischen Links-Rechts-Wertorientierungen ein neuer Graben aufgetan: Neue soziokulturelle Milieus haben sich herausgebildet und damit traditionelle Parteibindungen gelockert. Sie dienen zunehmend als angemessenere Basis für die Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Soziale Zugehörigkeit wird immer weniger von klassenspezifischen Merkmalen geprägt als von gemeinsamen Lebensstilen und Wertorientierungen.
Dies ist auch am luxemburgischen Parteienwettbewerb nicht spurlos vorbeigegangen. Durch die Pluralisierung der Konfliktlagen wurde das Parteiensystem zwar nur leicht aufgewirbelt, doch es hat die Bildung von stabilen Zwei-Parteien-Regierungen bereits unwahrscheinlich gemacht.
Aus einer Mittelklasse wurden zwei
Hintergrund dieser Entwicklung bildet eine Aufspaltung der Mittelklasse in zwei Mittelklassen: eine vorwiegend universitär gebildete, kosmopolitische und im Feld der Wissensökonomie beschäftigte „neue Mittelklasse“ und eine bürgerliche, nichtakademische „alte Mittelklasse“ aus Angestellten, Facharbeitern und lokalen Selbstständigen. Letztere bildete bis vor einigen Jahrzehnten die hegemoniale sozialkulturelle Mitte.
Der deutsche Kultursoziologe Andreas Reckwitz skizziert diese Aufspaltung folgendermaßen: Die neue liberale Mittelklasse setze auf die sozial erfolgreiche Selbstverwirklichung, schätze die kulturelle Connaisseurhaftigkeit und bevorzuge das „richtige Leben“ mit einem aktivistischen Lebensstil. Authentisches ist Trumpf, eher reizlos ist das Standardisierte. Konsumismus ist dabei passé: Ernährung, Wohnen, Reisen und Erziehung werden zur aktiven Entscheidung und zum Ausdruck der Persönlichkeit und der Weltanschauung.
Dieses Milieu kollidiert mit der von Abstiegsängsten geplagten und teilweise von Ressentiments geleiteten bürgerlichen Mitte. Eher antiliberal tendiert diese zur Elitenkritik und zum Anti-Globalismus. Dazu gesellt sich ein Gefühl des Abgehängtseins und der Entwertung des eigenen Lebensstils. Doch damit nicht genug: Aus der ehemals traditionellen, klassenbewussten Arbeiterschaft hat sich ein neues Dienstleistungsproletariat jenseits des Normalarbeitsverhältnisses formiert. Der neue Niedriglohnsektor erfährt dabei nicht nur ein Ungleichheits-, sondern auch ein Anerkennungsproblem.[1]
Luxemburg zählt zu den liberaleren Staaten Europas
Luxemburg erweist sich dieser Spaltung gegenüber als vergleichsweise widerstandsfähig. Der hohe Lebensstandard – beziehungsweise das Bewusstsein, es besser zu haben als anderswo – hilft dabei, die Zahl der Modernisierungsverlierer zu begrenzen. Vor allem aber ist das Phänomen der Erwerbsarmut im Niedriglohnsektor im politischen Spektrum hierzulande unsichtbar. Dies geschieht aus dem einfachen Grund, weil diese Gruppe kaum wahlberechtigt ist. Deshalb ist ein Abdriften der Arbeiterschaft von linken zu rechtspopulistischen Parteien, wie es besonders in Lothringen zu beobachten war, in Luxemburg nicht wahrnehmbar.
Daneben haben die Lage Luxemburgs an einer Kultur- und Sprachgrenze und der auf offene Grenzen angewiesene Kleinstaat den Multikulturalismus sozusagen Teil des nationalen Erbguts werden lassen. Besonders durch den hohen Anteil der Wahlbevölkerung im Dienstleistungssektor scheint es wenig verwunderlich, dass die ehemals streng päpstlich gesinnte, bäuerliche und verwurzelte Gesamtbevölkerung mittlerweile zu den liberaleren Gesellschaften Europas zählt.
In der wahlberechtigten Mittelschicht werden jedoch auch in Luxemburg Enttäuschung und Missgunst durch exorbitante Wohnkosten genährt und speisen den Zustrom zu rückwärtsgewandten politischen Strömungen. Latente Ängste vor einer aus den Fugen geratenen Welt gesellen sich bei abgehängt fühlenden gesellschaftlichen Gruppen oft zu einem fatalistischen politischen Weltbild: Mit retrospektiv-verklärendem Blick wünschen sie sich einen mit starker Hand geführten, funktionstüchtigen Wohlfahrtsstaat herbei.
Mit ihren kollektiven Wertorientierungen haben sich diese Menschen in erster Linie auf die in der urbanen Bourgeoisie stark vertretenen libertär-modernen, individualistischen und kosmopolitischen Milieus der Liberalen eingeschossen. Für mehr oder minder identitär denkende Gruppen dreht sich die Welt zu schnell. Gerade die Hyperkultur und die überbetonte Individualität stoßen sie ab. Der an den übersteigerten Liberalismus geäußerte Vorwurf: Die Gesellschaft werde gewissermaßen „überdynamisiert“.
DP: Die tonangebende Premier-Partei
Eine heikle Lage für die „Demokratesch Partei“ (DP), die der politischen Philosophie des Liberalismus am nächsten steht, sich trotz des Stigmas als Partei der Besserverdienenden im Parteienwettbewerb gut etabliert hat und mit Xavier Bettel seit 2013 den Premierminister stellt.
Dabei war die Politik der Dreierkoalition seit den Ursprüngen liberal geprägt. Dies lag vor allem an liberalen Gründungsprojekten der in einer Anti-CSV-Koalition verbrüderten Regierung, die selbst die Linke zunächst bejubelte. Dazu zählen die Trennung von Kirche und Staat oder die Individualisierung von Gesellschafts- und Familienpolitik. Spätestens aber mit dem Referendum von 2015 brach der Elan mit der hohen Ablehnungsquote des Ausländerwahlrechts zusammen. Seither sind auch die großen gesellschaftlichen Reformbestrebungen weitgehend von der politischen Agenda verschwunden. Die drei Regierungsparteien wandten sich zunehmend ihrem eigenen Elektorat zu.
Die DP verstand es bei Zwistigkeiten stets, sich als Mittelsmann in Stellung zu bringen und so die Hauptfäden zu ziehen. Das von ihr bekleidete Finanzministerium erlaubte es ihr, bei allen wichtigen Entscheidungen stets das letzte Wort zu haben. Gerne trat Bettel als stolzer Schiffskapitän auf, der zwar die Route vorgibt, aber keine unilateralen Entscheidungen trifft.[2] Ausgerechnet in seinem zehnten Amtsjahr verriet er, dass er sich motiviert und voller Energie fühle, weiterzumachen – trotz seines in der ersten Legislaturperiode verkündeten Einsatzes für eine Begrenzung der Amtsdauer eines Ministers auf zehn Jahre. Die multiplen Krisen hätten ihn nicht verzweifeln lassen, erklärte Bettel. Im Gegenteil: Sie hätten ihn vielmehr dazu angespornt, „pragmatische Lösungen im Interesse der Menschen zu finden“.[3]
Von allen geliebt zu werden, ohne Position beziehen zu müssen: Das ist die Rolle, die sich der Premier in seiner Amtszeit aneignete. Bettel wolle „ein offenes Ohr für die kleinen Leute, ihre kleinen Sorgen, ihre kleinen Vergnügen zeigen“, erklärte er seine Vorhaben. „Stets Politik auf das Menschliche reduzieren, ob mit Frau Schmit oder mit Herrn Macron.“[4] Doch wie sehen seine Lösungsansätze konkret aus?
Bettels Sozialdialog: Wie er sich die Tripartite zu eigen macht
All die Jahre machte Xavier Bettel nie einen Hehl aus seiner mangelnden Wertschätzung für die Tripartite. Allein auf Wunsch der Gewerkschaften hatte er Ende 2021 scheinbar lustlos eine einberufen. Dann aber muss er begriffen haben, dass das Tripartite-Event ihm als Premier-Kapitän in Krisenzeiten regelrecht auf den Leib zugeschnitten ist. Anders lässt es sich nicht erklären, dass der CGFP-Präsident Romain Wolff knapp vier Monate später bereits von einer akribisch vorbereiteten „richtigen Tripartite“ schwärmte.
Xavier Bettels Hang zur Dramaturgie, sein libertär-modernes Auftreten, seine außergewöhnlichen Kommunikationsfähigkeiten und durchaus sympathisch wirkende Chuzpe erlauben es dem routinierten Darsteller seither, sich als Wächter des sozialen Friedens in Szene zu setzen. Die gerade beendete März-Runde der Tripartite brachte fiskale Maßnahmen im Bereich des Wohnungsbaus und der Förderung von Solaranlagen hervor – Entscheidungen, die üblicherweise im Regierungsrat beschlossen werden. Die Tripartite mutiert damit vermehrt zu einer Art Nikolaustag, an dem allerlei Nettes verteilt wird. Bettels Bereitschaft, Konventionen zu missachten, hat ihm dabei längst Vergleiche mit dem für seine Dreistigkeit berüchtigten, früheren Briten-Premier Boris Johnson eingebracht.
Doch hinter alledem scheint es, als gründe Bettels überstützt einberufene März-Tripartite nicht auf dem Anliegen, die soziale Not zu begrenzen. Vielmehr entstand der Eindruck, dass dem Premier klar geworden war, dass die auslaufenden Unterstützungs-Maßnahmen die Inflation anheizen würden. In der verqueren Logik, dass der Staat seine Ausgabenpolitik mit Preisstabilität begründet – sei es beim nicht-selektiven Preisdeckel für Strom und Gas oder bei der Kostenübernahme der Indextranche –, bekämpft die Regierung die Inflation mit fiskalpolitischen Mitteln und erzeugt dadurch eine teure und schwierig zu beendende staatliche Bezuschussung.
Die DP reguliert ihre Finanzpolitik nach Belieben
Vor wirksameren Maßnahmen scheuen sich die Liberalen allerdings. Die DP als Partei der Angekommenen hält trotz Anraten der Europäischen Zentralbank nichts davon, die Steuern für Bessergestellte zu erhöhen – auch wenn sich damit der Druck auf das Staatsbudget gegenfinanzieren ließe. Vermögens- und höhere Erbschaftssteuern sind für die Liberalen ebenfalls tabu.
Weitaus diffuser begegnen sie Problemlagen außerhalb ihres Elektorats: Die DP nimmt Armut nicht als strukturelles Problem wahr. Öffentlichkeitswirksam unterstützt sie zwar Maßnahmen wie gratis Schulbücher, kaum ins Gewicht fallende Ermäßigungen der Mehrwertsteuer oder neuerdings die Verteilung von zeitlich begrenzten Steuerkrediten als soziale Beruhigungsmittel. Strukturelle Reformen allerdings schiebt die Partei auf die lange Bank. Folglich steigt das Armutsrisiko in Luxemburg kontinuierlich an.
Die jahrzehntelange Deregulierung zum Wettbewerbsstaat belastet den einstigen Wohlfahrtsstaat stark. Selbst ohne hohe Staatsschulden bereitet die implizite Verschuldung Luxemburgs der zukünftigen Generation Sorgen, besonders wegen hohen Leistungsversprechen der Sozialversicherungssysteme. Während eine in zunehmendem Maße von Permakrisen heimgesuchte und labiler gewordene Gesellschaft auf resistente soziale Sicherheitsnetze angewiesen ist, verzettelt sich die Regierung einerseits in hastig ausgehandelten, kaum bezifferten und sozial nicht selektiven Hauruck-Maßnahmen und andererseits in PR-trächtigen Förderungen mit bürokratischer Kopflastigkeit und kurzlebiger Wirksamkeit.
Gute Finanz-Fachkräfte, schlechte Einheimische: Bettels gefährlicher Diskurs
Das Mantra der liberalen Politik – die Bevorzugung von Effizienz gegenüber Gleichheit und Gerechtigkeit – hallt dabei durch die Regierungspolitik. Besserverdiener gelten als bessere Ressourcenverwerter gegenüber anderen Lohngruppen. Dies dient der Legitimierung durchweg ungleicher Steuerpraktiken.
Als Beispiel dient das kürzlich aufgewertete „Régime impatrié“. Es gewährt hochqualifizierten Immigrierten – oft Führungskräfte des Finanzplatzes –, eine teilweise oder vollständige Steuerbefreiung für Kosten, die ihnen durch den Umzug nach Luxemburg entstanden sind. Premier Bettel und die DP-Finanzministerin Yuriko Backes begründeten die Entscheidung mit ihrer Standortpolitik. Gleichzeitig weichen sie der Frage nach Steuergerechtigkeit aus – gerade in Zeiten der Wohnungsnot ein bedenklicher Schritt.
In seinem Jahresendinterview[5] ging Xavier Bettel noch einen Schritt weiter: Er unterschied dort zwischen Einheimischen, die das Finanzzentrum kritisieren, und ausländischen Talenten, die es gedeihen lassen. Dabei lobte er die tugendhafte Arbeitsethik der eingewanderten Fach- und Führungskräfte des Finanzplatzes und unterstellte den Luxemburgern diesbezüglich einen Mangel. Eine verfängliche Gesinnung – vor allem hinsichtlich der fortschreitenden gesellschaftlichen Spaltung, deren Entwicklung er mit derart pauschalisierenden Aussagen fördert.
Die DP verkleidet Arbeitsmarktpolitik als Bildungspolitik
Auch andere DP-gesteuerten Lebensbereiche geraten zusehends in eine Logik des Marktes und verlieren an gesellschaftlicher Akzeptanz. Das betrifft auch das Projekt der kostenfreien Kinderbetreuung. Der Anti-CSV-Koalition entsprungen, gründete es auf einer Politik der Frauenemanzipation und des verbesserten Zugangs von Frauen zum Arbeitsmarkt.
Diese durchaus populäre Maßnahme wurde in den letzten Jahren zu einem System von unentgeltlichen Leistungen ausgebaut. Eine Alternative für Eltern, die ihre Kinder zuhause erziehen möchten, fehlte allerdings. Und auch das staatliche Modell der kostenfreien Kinderbetreuung leidet mittlerweile an seinem Erfolg: Die Strukturen sind überlaufen, auch weil das Modell dazu verleitet, dass Kinder zu lange dort verweilen.
Es ist schwer nachzuvollziehen, dass das zuständige DP-geführte Ministerium einerseits ein Modell der Kinderbetreuung bevorzugt, das Eltern für den Arbeitsmarkt verfügbar macht, es andererseits aber nicht schafft, die Voraussetzungen für eine gute Betreuungsqualität zu bieten. Auch diese von den Liberalen als Bildungspolitik verkleidete Arbeitsmarktpolitik stößt gerade jenen Milieus sauer auf, denen nur zu oft der Vorwurf gemacht wird, populistische Positionen zu beziehen.
Die gesellschaftlichen Paradigmen sind nämlich nicht nur auf dem sozioökonomischen, sondern auch auf dem soziokulturellen Feld in die Krise geraten. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz[6] spricht demnach nicht nur von sozialen Aufstiegs- und Abstiegsprozesse, sondern auch von kulturellen Aufwertungs- und Entwertungsprozessen der jeweiligen Milieus. Der von ihm verteidigte Ansatz wirbt für einen stärker auf Regeln setzenden, sogenannten „einbettenden Liberalismus“. Es geht darum, die progressiven Errungenschaften einer liberalen und pluralistischen Gesellschaft zu bewahren, dabei aber die vulgäre Art eines zu stark auf das Individuum konzentrierten Liberalismus abzustreifen. Das Gemeinwesen und der Staat sollen in dem Modell ihre entscheidende Rolle als Regulator für legitimes Handeln zurückerlangen.
Die Luxemburger Liberalen sollten Reckwitz lesen.
[1] Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin, Suhrkamp, 2019.
[2] https://www.tageblatt.lu/headlines/premier-xavier-bettel-im-neujahrsinterview-wir-leben-in-einer-zeit-von-polikrisen (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 7. März 2023 aufgerufen)
[3] https://www.wort.lu/de/politik/ja-ich-will-premierminister-bleiben-634e9fa4de135b92369bdb11
[4] https://www.land.lu/page/article/680/334680/DEU/index.html
[5] https://www.land.lu/page/article/095/340095/FRE/index.html
[6] Ebd.
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