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Einführung ins Dossier

Was ist Suffizienz? Als forum mich darum bat, in das vorliegende Dossier einzuführen, stand diese Frage ganz oben in meinen Notizen. Die offizielle Definition ist simpel und doch etwas vage. Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) beschreibt Suffienz als Zusammenschluss von „Mittel[n] und tägliche[n] Praxen, die es uns erlauben, unsere Bedürfnisse an Energie, Material, Land und Wasser zu reduzieren, innerhalb der planetaren Grenzen zu leben und gleichzeitig das menschliche Wohlbefinden zu verbessern“. 

Ganz schön ambitioniert. Und irgendwie unklar. Fast, als wolle man zwei Welten zusammenführen: Es erscheint paradox, Wohlbefinden und Lebensqualität von der Erhöhung des Ressourcenverbrauchs zu entkoppeln – das gab es in der Menschheits­geschichte noch nie. Gleich­zeitig – im Schatten der voranschreitenden Klima­krise und besonders für Luxemburg als zweitgrößte Konsumnation weltweit – auch ein nötiger Schritt.

© Carlo Schmitz

Gute Praxen und Beispiele für suffizientes Leben gibt es in Luxemburg schon viele: solidarische Landwirtschaftspraktiken, bei denen Verbraucher*innen direkt bei lokalen Produzent*innen kaufen, dadurch Transportwege vermeiden und die damit verbundene Energienutzung einsparen, gleichzeitig lokale Verbindungen knüpfen und sich besser ernähren. Pilot­projekte wie das Äerdschëff in Redingen – ein nachhaltiges, autarkes Gebäude, welches als Lern- und Demonstrationszentrum fungiert. Repaircafés, die regelmäßig von Freiwilligen organisiert und durchgeführt werden, um der Tendenz der Wegwerfgesellschaft entgegenzuwirken. Solche Initiativen vernetzen die teilnehmenden Bürger*innen untereinander und motivieren sie dazu, selbst handwerklich aktiv zu werden.

Es erscheint paradox, Wohlbefinden und Lebensqualität von der Erhöhung des Ressourcenverbrauchs zu entkoppeln.

Ein wiederkehrendes Element der Suffizienz ist der soziale Zusammenhalt: Bei den genannten Beispielen liegen das Erschaffen zwischenmenschlicher Beziehungen, der Austausch und die sinnvolle Gestaltung von Freizeit im Mittelpunkt. In einer Welt des stetig zunehmenden Individualismus und des damit zusammenhängenden Konsums bleiben diese Dinge immer öfter auf der Strecke. Die Lebensweise vieler Menschen tut ihnen als sozialen Wesen nicht gut. Deshalb suchen viele aktiv nach einem Ausgleich – und suffiziente Aktionen liefern ihn. 

Erfolgreiche Beispiele aufzuzählen ist allerdings immer leicht: Viel schwieriger wird es bei der systemischen Umsetzung. Der Schritt ist komplex: Denkt man Suffizienz nämlich weiter, findet man ihre Elemente in viel grundlegenderen Ebenen unserer Gesellschaft: in den Lebensstilen der Bürger*innen, der Energiewende, der Wirtschaft oder der generellen Struktur. Die Energiewende beruht auf drei Säulen: der Energieeffizienz – also die Art, wie wir existierende Prozesse mit weniger Energie realisieren –, dem Ausbau erneuerbarer Energien und der Suffizienz. Einen Überblick über das Dreigestirn aus Effizienz, Konsistenz und Suffizienz liefert in diesem Dossier der deutsche Umwelt- und Entwicklungsforscher Wolfgang Sachs. 

Luxemburg arbeitet derzeit übrigens nur an den ersten beiden Säulen. Der aktuelle nationale Energie- und Klimaplan des Energie- und des Umweltministeriums erwähnt das Thema Suffizienz (noch) nicht sehr oft. Dies hat nichts mit schlechtem Willen oder Inkompetenz zu tun, sondern mit der holistischen Natur des Begriffes: Suffizienz lässt sich weder auf zwei Ministerien begrenzen noch spielt sie in ausschließlich einem Teil des gesellschaftlichen Konstruktes eine Rolle. 

Überlegungen über unser Wirtschaftsmodell und die Natur des Wirtschaftswachstums sind daher unumgänglich: Ist Suffizienz mit Wachstum und Kapitalismus vereinbar? Nicht nur die Meinungen der Autor*innen dieses Dossiers gehen hierbei auseinander: Während Elisha Winckel die Idee des grünen Wachstums in Luxemburg kritisiert, plädiert Carlo Thelen von der Chambre de Commerce für den Erhalt des Wachstums. Marc Baum geht dagegen noch einen Schritt weiter und behandelt die Suffizienz als Endgegnerin des kapitalistischen Systems. 

Es gibt also noch viel zu tun, sowohl bei der Definition der Maßnahmen als auch bei den Modellen zur Umsetzung. Dabei muss nicht zwingend auf schon fast dys­topisch anmutende Rationierung zurückgegriffen werden, über die Raymond Klein in einer Rezension des französischen Magazins Socialter schreibt: Wenn wir unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben so gestalten, dass die angenehmste Art zu leben auch die umweltfreundlichste ist, muss man nicht über Restriktionen, Rationierung oder Verzicht sprechen und kommt einer erhöhten Lebensqualität trotzdem wieder näher. 

Bis die großen, systemischen Veränderungen kommen, lohnt es sich vielleicht, Suffizienz im Kleinen zu praktizieren.

Aus pragmatischer Sicht müssen wir über Stadt- und Landesplanung nachdenken: Wie bringen wir Arbeit und Wohnraum näher aneinander? Wie verbessern wir die Lebensqualität der Bürger*innen, reduzieren dadurch beispielsweise die Zeit im Auto und erhöhen die mit Familie und Freund*innen? Ein konkretes Beispiel dafür, wie der Ort der Zukunft aussehen kann, liefert Guy Spanier als ehemaliger Klimaberater und Nachhaltigkeitsberater der Gemeinde Schifflingen. Auch Rebecca Baden, die für ihre Reportage das Äerdschëff in Redingen besucht hat, stellt eine konkrete Ausarbeitung der Suffizienz im Detail vor. Wer sich nach der Lektüre des Dossiers nach draußen wagt, wird also sehen: Suffizienz ist mancherorts bereits fest im Alltag verankert. 

© Carlo Schmitz

Bis die großen, systemischen Veränderungen kommen, lohnt es sich vielleicht, Suffizienz im Kleinen zu praktizieren: Denn Suffizienz kann sich bereits in unserem persönlichen Lebensstil verbergen, wie die Achtsamkeitstrainerin Berenice Boxler im Dossier schreibt. Dahinter stecken hochphilosophische Fragen: Bringt unsere Lebensweise uns ans Ziel? Ist unser Ziel richtig definiert? Ist der Weg des Konsums der Richtige – oder lenkt er nur vom Wesentlichen ab? Boxlers Kredo: Lasst uns zurück ins Jetzt kommen und unser Wohlbefinden nicht an Materiellem festmachen. 

Sie sehen: Die einzelnen Beiträge des aktuellen forum-Dossiers beleuchten sehr unterschiedliche Aspekte der Gesellschaft, in denen wir in Zukunft suffizienter agieren können. Mit dem Hintergrundwissen dieses Dossiers erscheint die Definition des Begriffes Suffizienz schließlich gar nicht mehr so schwer: mit weniger besser leben. Vielleicht nehmen Sie als Leser*in einige Ideen mit, die es erlauben, die Welt von morgen gemeinsam regenerativ, resilient und lebenswert zu gestalten.  


Benjamin Klein ist Umweltwissenschaftler bei der luxemburgischen Transitionsbewegung CELL und beschäftigt sich mit den Bereichen nachhaltiges Bauen, Energie-wende und der Koordination der Repair-cafés. Er ist seit 2012 bei unterschiedlichen gemein-nützigen Projekten aktiv, die allesamt in die Kategorie „Grassroots“ fallen.

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