- Suffizienz
Schulausflug in die Suffizienz
Wo die wilden Kerle kleben

Das Redinger Äerdschëff läuft durch Selbstversorgung und soll jungen Menschen Klimakompetenzen beibringen. Hat ein solches Projekt in Luxemburg Zukunft?
In der Küche des Äerdschëff in Redingen stehen sechs Geräte: eine Kaffeemaschine und ein Wasserkocher, eine Waschmaschine, eine Mikrowelle, ein Ofen und ein schwarzes Fass, das Regenwasser auf Trinkwasserqualität filtert. Nur einen Kühlschrank sucht man in dem mit warmem Holz und dunklen Fliesen verkleideten Raum vergeblich. „Der steht im Bad“, sagt Katy Fox, die das Projekt Äerdschëff konzipiert hat und leitet. Sie meint damit einen sogenannten „Wüstenkühlschrank“ aus Ton. Er funktioniert genau wie der große Erdkeller – ein unterirdischer Kühlraum im Garten – ohne Strom.
Mit alternativen Funktionsweisen für energiebetriebene Prozesse soll das Äerdschëff seine Besuchenden zum Nachdenken anregen, erklärt Fox. Ihr Team experimentiert mit energiearmen oder energielosen Bewässerungs- und Heizsystemen, Lowtech im Gegensatz zu Hightech und selbst kultivierten oder regionalen Nahrungsmitteln. Die Prämisse: Suffizienz und Selbstbegrenzung anstelle eines Lebens im Überfluss. „Das klingt wahrscheinlich extrem, oder?“, fragt Fox. Ist es das?

Nach Angaben der Europäischen Umweltagentur hatte Luxemburg 2020 mit 14,4 Tonnen CO2 den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch der gesamten EU. Beim Overshoot Day 2023 lag Luxemburg weltweit an zweiter Stelle, direkt hinter Katar: Schon am 14. Februar waren hierzulande alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht, die der Planet innerhalb eines Jahres wiederherstellen kann. Das bedeutet: Würden alle so leben wie wir in Luxemburg, benötigte die Menschheit acht Erden. Braucht es nicht gerade da Projekte, die zeigen: Es könnte auch anders gehen?
„Das klingt wahrscheinlich
extrem, oder?“, fragt Fox.
Ist es das?
„Luxemburg ist bei Veränderungen zäh, weil diese oft aus einer Not heraus kommen und wir hier sehr privilegiert sind“, sagt Katy Fox, während ihre Finger an einem Maßband herumzupfen. Am Anfang des Gesprächs wandert ihr Blick nur selten von ihren Händen ab. Doch je mehr sie über Umweltschutz und das Äerdschëff erzählt, desto lebhafter werden ihre Gesten. Fox ist Anthropologin und Lehrerin, nebenbei entwirft und gestaltet sie freiberuflich Permakulturen. 2010 gründete sie das Centre for Ecological Learning Luxembourg (CELL), 2014 hatte sie zusammen mit anderen die Idee für das Äerdschëff, 2019 startete der Bau für das Projekt. Hauptzielgruppe: Schulklassen und andere junge Menschen.
Wie erklären wir Jugendlichen die Klimakrise?
Von außen wirkt das Äerdschëff unscheinbar und gleichzeitig etwas mysteriös. Wie ein vergessener Schuhkarton liegt das lange Gebäude auf einer Wiese zwischen dem kargen Block einer Luxemburger Supermarktkette und dem Atert-Lycée. Erst beim genauen Hinschauen erkennt man die Windmühle im Garten, die Solarplatten auf dem Dach, die Grünpflanzen hinter der langen Glasfront und die von den Schülern und Schülerinnen des Gymnasiums bemalten Fliesen.
Die Grundidee der Earthships stammt aus den USA, entwickelt vom Architekten Michael Reynolds in den 1970er Jahren. Bis heute vermarktet seine Firma Earthship Biotecture die Idee im Bundesstaat New Mexico, organisiert dort Workshops für die Bauweise und die autarke Wärme-, Wasser- oder Stromversorgung. Auch Fox besuchte die Earthship Academy für ihre Fortbildungen. Obwohl in den USA viele earthships privat genutzte Häuser sind, existieren heute auf der ganzen Welt ähnliche Bauten, wenn auch mit Anpassungen an das Klima der jeweiligen Region. Die earthships sind Gemeinschaftszentren, Schulen und wissenschaftliche oder edukative Projekte.

Wenn es nach Fox und ihrem Team geht, fungiert auch das Äerdschëff als Bildungsstätte. Die Jugendlichen sollen hier sehen, dass gewohnte Dinge auch anders gelingen könnten. Systeme hinterfragen. „Skills“ mitnehmen für die Zeit, in denen sie selbst Entscheidungen treffen dürfen. Dafür bekommen sie Werkzeuge an die Hand, entwickeln Ideen und setzen die Lösungen gemeinsam um.
„Es geht darum, dass sie ein Projekt starten, weil sie es selbst für sinnvoll halten“, so Fox. Entsprechend vielfältig ist die bisherige Projekthistorie: Die Volontierenden, viele von ihnen Schulabbrechende, entwickelten Außenbänke, einen Pizza-Ofen, ein Aquaponik-Bewässerungssystem, in dem Fischexkremente als Nährstoffe für Pflanzen genutzt werden, und eine Fliegenzucht zur Fütterung der Aquaponik-Fische.
Die Grundidee der Earthships stammt aus den USA,
entwickelt vom Architekten Michael Reynolds
in den 1970er Jahren.
Im Gegensatz zu anderen Ausflugszielen in diesem Bereich erklärt beim Äerdschëff also niemand den Besuchenden, wie sie ihren Joghurtbecher recyceln sollen. „Das ist nicht unser Diskurs“, erklärt Fox. Stattdessen bewegt sie eine viel umfassendere Frage: „Wie erklären wir Menschen zwischen zwölf und 15 Jahren, dass wir uns in eine Richtung bewegen, die die Grenzen des Wachstums in Frage stellt – und das teilweise sehr schnell?“
Tatsächlich beschäftigen der Klimawandel und seine Folgen jüngere Menschen besonders. In der Studie „Youth Survey Luxembourg“ von 2019 gaben 83,5 Prozent der Jugendlichen an, Angst vor dem Klimawandel zu haben. In der Klimaumfrage der Europäischen Investitionsbank (EIB) von März 2023 befürworten 69 Prozent der unter 30-Jährigen in Luxemburg strengere staatliche Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel.
Kein Hippie-Hobby, sondern pure Notwendigkeit
Hier setzt auch das Äerdschëff an. „Das Problem sind oft die kollektiven Infrastrukturen“, sagt Fox: der fehlende Ausbau des öffentlichen Transportnetzes, der hohe Stellenwert der Auto- und Fossilindustrie in Luxemburg, der mangelnde Umweltschutz bei Bauvorhaben, die Scheu vor der Produktwiederverwertung einer Kreislaufwirtschaft oder einer Kultur des Teilens. Während Luxemburg 2021 mit 681 Autos pro 1.000 Einwohnenden die höchste Pkw-Dichte der EU hatte, symbolisiert bereits der Bau des Äerdschëff Sparsamkeit beim Konsum.
Die Holzdecke in den Räumen ist mit Sargholz verkleidet, das wegen eines Wasserschadens nicht verbaut werden konnte. Die Fenster waren eine Fehlbestellung eines Bauunternehmens in einem anderen Projekt. Die Fliesen auf dem Boden sind alte Küchenarbeitsplatten, die Küche gebraucht. Beim Bau habe das Team viele Schrauben und Lehmkleber benutzt, erklärt Fox. So bleibe das Äerdschëff rückbaubar und könne irgendwann wieder vollständig in seine Einzelteile zerlegt werden.

Ja, all das mag auf viele Menschen in Luxemburg tatsächlich extrem wirken. Doch das radikale Umdenken ist für Fox kein träumerisches Hippie-Hobby, sondern eine Notwendigkeit; eine Vorsorge für das Unvermeidbare. „So wie es jetzt ist, verbrauchen wir zu viele Ressourcen“, sagt sie. „Für mich ist absehbar, dass sich unser heutiges Leben schnell verändern kann.“ Doch wie bringt man einer von Individualismus und Konsumfreiheit verwöhnten Bevölkerung bei, dass sie sich künftig einschränken soll?
Denn obwohl der Klimaumfrage des EIB zufolge mit 58 Prozent auch in der luxemburgischen Gesamtbevölkerung eine Mehrheit strengere staatliche Klimaschutzmaßnahmen will, stänkern konservative Parteien beständig gegen die vermeintliche Verbotspolitik. Mehr noch: Teile der Bevölkerung stimmen dieser Ansicht zu.
„Es geht bei einer suffizienten Lebensweise nicht darum, den Leuten die Freude am Leben zu nehmen“, sagt Fox. In einer weniger von Effizienz und Produktivität getriebenen Gesellschaft, so ihre Idee, gäbe es sogar mehr Raum fürs eigene Wohlbefinden: für zwischenmenschliche Beziehungen, Zeit mit den Kindern, für Hobbys und gesellschaftliches Engagement. „Wer will schon wöchentlich 50 Stunden arbeiten und täglich zwei Stunden im Stau stehen?“, fragt Fox. Wahrscheinlich würden ihr – besonders nach den Corona-Lockdowns, in denen immer mehr Menschen ihre Work-Life-Balance hinterfragten –, nicht wenige zustimmen. Allerdings: Noch leben wir in einer Wirtschaft, in der es sich viele schlichtweg nicht leisten können, weniger zu arbeiten.
Das scheint auch Fox zu wissen: „Unsere Wirtschaft basiert auf Wachstum, und ohne Wachstum haben wir ein Problem“, sagt sie. „Gleichzeitig wachsen in diesem System auch Dinge, die niemand will: psychische und körperliche Erkrankungen, Umweltverschmutzung, die Klimakrise.“
Die Politik darf das Äerdschëff nicht als Image-Visite sehen
Gegen die gewaltige systemische Natur des Problems wirken die Projektarbeiten des Äerdschëff von außen betrachtet manchmal wie kleine Streichholzflammen: Was, wenn die Jugendlichen die Erkenntnisse vom Schulausflug innerhalb kürzester Zeit vergessen? Wenn die Besuchenden aus der Politik von ihrer Visite beim Äerdschëff nicht mehr mitnehmen als ein Image-Foto für ihren Facebook-Auftritt? Wenn die alternativen Ideen es nie aus dem ländlichen Redingen in die große Welt hinaus schaffen?
Für nachhaltige Veränderungen müssten Wirtschaft und Politik einen Richtungswechsel vorgeben. Doch genau das ist in einem profitorientierten System ein schwieriges Unterfangen – vor allem solange es noch den Anschein macht zu funktionieren. Nur dort, wo Dinge offensichtlich nicht mehr klappen, existiert bereits jetzt Platz für neue Ideen: Die finanziellen Konsequenzen der Energiekrise zwangen uns im vergangenen Winter dazu, weniger zu heizen und alternative Heizmethoden zu erkunden. Die hohen Benzinpreise führen selbst die Auto-Nation Luxemburg dazu, mehr und mehr auf Elektrofahrzeuge umzusteigen.
An manchen Stellen ist sie also schon da: die Not, aus der Veränderung wachsen kann. Ob und wann die Ressourcenknappheit auch Luxemburg härter trifft, lässt sich kaum vorhersagen. Genauso wenig, ob sich das Land nicht schon vorher aus bloßem Interesse weiter für alternative Lebensweisen öffnet. Eines scheint für Katy Fox aber jetzt schon klar: Auch reiche Länder müssen sich früher oder später mit dem Klimawandel befassen. „Man kann Geld auf Probleme werfen und sie dadurch weniger bemerkbar machen“, sagt sie. „Das ändert nichts daran, dass sie existieren.“
In gewisser Weise ist das Äerdschëff also ein vorausschauendes Projekt für die Zukunft unserer Gesellschaft. Und wer weiß: Vielleicht sind die alternativen Funktionsweisen aus Redingen irgendwann nicht mehr extrem, sondern normal. Schließlich kann selbst eine kleine Streichholzflamme einen Flächenbrand verursachen.
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