Natalie Bloch

Woran forschen Sie?

Derzeit bereite ich gemeinsam mit Frank Hoffmann vom Théâtre National du Luxembourg und Olivier Frank vom Institut Pierre Werner ein Symposium vor, das den Theaterkanon anders zu denken versucht. Wir möchten danach fragen, welche Dramatiker*innen und welche Stücke im Theater zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind. 

Während zeitgenössische emanzipatorische Bewegungen in erster Linie den bestehenden bildungsbürgerlichen Kanon und die damit verbundenen gesellschaftlichen Machtverhältnisse hinterfragen, zielt unser Symposium darauf ab, Autor*innen und Stücke jenseits des Mainstreams zu entdecken oder wiederzu­entdecken. Wir möchten zudem ergründen, warum die Theaterwelt diese so lange übersehen oder ignoriert hat.

Die Verbindung von Theorie und Praxis, die sich bei diesem Symposium in der Zusammenarbeit zwischen Universität, Theater und Kulturinstitution zeigt, bestimmt meine Forschung insgesamt. Mich interessieren zeitgenössische und historische Formen der performativen Künste – zu denen Internetpräsenz und kultu­relle Performances ebenso gehören wie traditionelle Theater­produktionen – und ihre gesellschaftspolitischen Dimensionen. 

Ein Beispiel für eine interdisziplinäre Arbeit, an der ich wesentlich beteiligt war, ist das im Rahmen der Kulturhauptstadt „Esch2022“ geförderte, interdisziplinäre Projekt Remix Place, in dem es ebenfalls darum ging, wissenschaftliche Forschung und künstlerische Praxis zu verbinden. Ungewöhnlich war bereits die Zusammensetzung des Projektteams: Geograf*innen der Uni arbeiteten mit Künstler*innen aus verschiedenen Ländern zusammen, während ich für den Bezug zur Theaterwissenschaft und -praxis zuständig war. Wir wollten erforschen, welche Beziehungen die Menschen in der luxemburgisch-französischen Grenz­region zu den Orten haben, an denen sie leben oder arbeiten. 

Monatelang durchstreifte unser Team die Landschaften der Terres Rouges und führte über 65 Walking Interviews – eine Methode der Datenerhebung aus der Geografie – mit den Menschen vor Ort. Das mehrere Tausend Seiten umfassende Interviewmaterial werteten wir im Anschluss nicht nur wissenschaftlich aus, sondern präsentierten es auch in einem dreisprachigen dokumentarischen Theaterstück mit dem Titel So Mir, à quels lieux tu appartiens? Eine theatralische Spurensuche im Land der roten Erde und einer hybriden Wanderausstellung, dem Agora Café

Mich interessieren insbesondere die ästhetische Vielfalt und die gesellschaftspolitischen Aspekte in Theatertexten und Inszenierungen. Im besten Fall kann Theater neue Welten eröffnen und den Blick weiten.

Meine Aufgaben während des Projektverlaufs waren viel­schichtig. Ich habe etwa die Umsetzung des Theaterstückes an einem Ort organisiert, der nicht für Theater gemacht ist: der Maison des Arts et des Etudiants auf dem Campus Belval. Neben organisatorischen Dingen, wie der Umsetzung von Bühnenbild, Licht und Publikumsplätzen, habe ich die Regisseurin und Autorin des Theaterstücks, Monika Dobrowlanska, künstlerisch unterstützt und beraten. Für sie lag die Herausforderung darin, aus der Interviewfülle einzelne Geschichten für eine anderthalbstündige Bühneninszenierung auszuwählen und zu einem Stück zu montieren. Dies geschah unter theatralen Gesichtspunkten. Die Geschichten mussten also nicht nur Bemerkenswertes über die Region erzählen, sondern auch szenisches Potential besitzen. 

Dementsprechend präsentierte unser Theaterstück verschieden­ste Stimmen und Positionen: eine Luxemburgerin mit niederländischer Migrationsgeschichte spricht über ihren Kampf um die eigene Identität, Franzosen und Französinnen über die Ver­armung ihrer Region, ein Zwangsrekrutierter berichtet aus der Zeit der deutschen Besatzung und ein Ex-Offizier der russischen Weißen Garde von seiner persönlichen Geschichte. Das Stück wurde im Sommer 2022 dreimal vor ausverkauftem Publikum gespielt.

Besonders war hier nicht nur, dass das Theaterstück ausschließlich aus dokumentarischem Material bestand, sondern dass neben professionellen Schauspieler*innen wie Fabienne Hollwege und Nickel Bösenberg auch Studierende des Theatermasters und sogenannte „Expert*innen des Alltags“ auf der Bühne standen. Zu jenen gehörten etwa drei ältere Damen aus einem Seniorenheim in Villerupt und ein wortgewandter französischer Bürgermeister, die jeweils aus ihrem Leben erzählten. Das Einbinden der ortsansässigen Menschen auf der Bühne und im Publikum war ein wesentlicher Bestandteil unseres Projekts. In anschließenden Publikumsgesprächen konnte jede*r Zuschauer*in die eigene Sichtweise einbringen und mitdiskutieren.

Ergänzend arbeiten wir aktuell an einem Buch, in dem wir das Projekt unter wissenschaftlichen Fragestellungen reflektieren. In meinem Beitrag nehme ich den Aufführungsraum und seine Möglichkeiten der Teilhabe exemplarisch in den Blick. Auch in Zukunft möchte ich das Theater in die Uni bringen und die Uni ins Theater, da ich glaube, dass hierdurch höchst produktive Formen des Austausches und neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe entstehen können.  


Dr. Natalie Bloch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Leiterin des Masterstudiengangs „Theaterwissenschaft und Interkulturalität“ an der Universität Luxemburg. Sie hat Germanistik und Philosophie studiert und in ihrer Dissertation das Verhältnis von Sprache und Gewalt in zeitgenössischen Theatertexten untersucht. 

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