Filigranes Fanal

Das Kaddish von Shelomo Selinger

Ästhetisch eindrucksvoll, wachrüttelnd und mahnend wirkt das Kaddish vor der Notre-Dame-Kathedrale – eine filigrane Skulptur, an die sich die Luxemburger:innen wohl noch gewöhnen müssen und die Hoffnung gibt …

Kunstwerke im öffentlichen Raum fristen oft ein trauriges Dasein. Nach der Einweihung bleiben sie meist unbeachtet, vermodern und kein Mensch interessiert sich mehr für sie. Die Gëlle Fra (1923) von Claus Cito mag da eine Ausnahme sein. Gilt sie doch als Luxemburgs nationales Denkmal und überstand zahlreiche Polemiken – nicht zuletzt durch die künstlerische Intervention von Sania Ivekovic, die ihr einen Bauch verpasste, um darauf hinzuweisen, dass nicht ausschließlich Männer die Helden (im Ersten Weltkrieg) waren, und dank ihrer Reise zur Weltausstellung nach Shanghai 2010. Zuletzt wurde „Lady Rosa“ auf der Bühne verhandelt. Was Kunst doch vermag, wenn man sie weit fasst und kritisch hinterfragt! Spätestens nach dem Theaterstück Moi, je suis Rosa von Nathalie Ronvaux, auf der Bühne verkörpert durch die wunderbare Céline Camara, habe ich mich mit der Gëlle Fra versöhnt und bin auch irgendwie froh über dieses Denkmal. Also froh im deutschen Sinne, verliebt bin ich nicht in sie.

Nach der jüdischen Kabbala gibt es noch Hoffnung auf Erden, solange es in jeder Generation 36 Gerechte unter uns gibt.

Eine andere Skulptur nationaler Bedeutung, an die sich die Luxemburger:innen wohl erst noch gewöhnen müssen – und die etwas wie Dankbarkeit und die Hoffnung auf Gerechtigkeit in mir auslöst –, ist das Kaddish. Und nein, es handelt sich nicht um das jüdische Totengebet, auch, wenn dies denselben Namen trägt und sich der Künstler Selinger mit seinem Werk natürlich mittelbar darauf bezieht.

Die Granit-Skulptur Kaddish (3m30 x 1m20 x 0m90) des Bildhauers Shelomo Selinger wurde am 17. Juni 2018 an prominenter Stelle, vor der „Kathedrale unserer lieben Frau“ eingeweiht. Das Licht auffangend und oszillierend, erinnert sie an ein wenig ruhmreiches Kapitel der Luxemburger Geschichte, das nicht zuletzt durch die Publikation des Artuso-Berichts öffentlich Anerkennung fand: die Verschleppung und Ermordung der Luxemburger Juden während der deutschen Besatzung. Knapp 70 Jahre später würdigt dieses Denkmal die Opfer und mahnt die Vorbeischlendernden, nicht wegzuschauen, wenn Unrecht vor ihrer Haustür geschieht.

© Philippe Reuter / forum

Der französisch-israelische Bildhauer Shelomo Selinger, der selbst neun Konzentrationslager und zwei Todesmärsche überlebt hat, hat einen Teil seiner schmerzvollen Erfahrung in die Skulptur in Stein gemeißelt. In dem Kaddish verschmelzen Leben und Tod miteinander, und trotz seiner steinernen Konsistenz ist das Werk eine filigrane Skulptur, die Hoffnung gibt. Denn neben den Köpfen, die in die Höhe ragen und jenen, die sich ducken (jene, die einst wegschauten), um dann zu Flammen zu werden, hat der Künstler die hebräischen Buchstaben (ל) Lamed und (ו) Vav darin verwoben. Der Buchstabe mit dem Zahlenwert 30 und der 6. Buchstabe des hebräischen Alphabets ergeben 36. Nach der jüdischen Kabbala gibt es noch Hoffnung auf Erden, solange es in jeder Generation 36 Gerechte unter uns gibt.

Dass die Skulptur nicht versteckt in einem Park errichtet wurde, geht auf die Jüdische Gemeinschaft und zwar direkt auf die Initiative von Claude Marx zurück. Marx hat den Zweiten Weltkrieg, als Kind versteckt bei „Gerechten“, überlebt und sich dafür eingesetzt, dass das Denkmal vor der Notre-Dame-Kathedrale aufgerichtet wird.

So steht das Kaddish-Denkmal heute nicht nur an der Stelle, an der die einstige Synagoge stand. Es steht an einer Stelle, an der kein Luxemburger mehr vorbeikommt, ohne es zu sehen, und an einem Platz, an dem katholische Luxemburger:innen vorbeigehen, wenn sie am Sonntag oder am Nationalfeiertag in die Kirche gehen, und an dem sich die Staatsbeamt:innen vorbeischieben müssen, wenn sie in die Staatskantine gehen, um sich zu nähren. 

Ähnlich wie der Roman Kaddisch für ein nicht geborenes Kind des Schoah-Überlebenden Imre Kertész, ist das Kaddish eine späte und sehr persönliche künstlerische Auseinandersetzung mit den Gräueln des Nationalsozialismus und es ist ein Fanal. Auf das sich die deutschen Verbrechen gegen die Menschheit, an denen auch Luxemburger:innen seiner Zeit durch Kollaboration ihren Anteil hatten, nie wieder wiederholen mögen!  


Anina Valle Thiele ist freie Kulturjournalistin und versteht sich gut mit Eseln.

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