- Zeit
Arbeiten, um zu leben oder leben, um zu arbeiten?
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Arbeit verändert sich, Arbeit verändert uns. Was macht diese Veränderung mit uns? Und wohin wird und sollte die Arbeitswelt sich entwickeln?
Die Arbeitswelt ist im steten Wandel, doch erscheint mir, als hätte die Corona-Pandemie diese Entwicklung beschleunigt oder vorangetrieben. Seit 2020 wird vermehrt über alternative Arbeitsmodelle diskutiert. Die Corona-Pandemie war an sich die Disruption, die von heute auf morgen das Homeoffice eingeführt hat, eine Arbeitsform, die vor dieser Zeit eher marginal genutzt wurde. Und dennoch verändert sich die Arbeitswelt nicht in der Geschwindigkeit, wie noch vor 15 Jahren mit der rasanten Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz angenommen.
Arbeit, Arbeitsbedingungen, Qualität des Arbeitsplatzes sowie weniger Arbeitszeit bewegen seit jeher die Gemüter der Gesellschaft. Und seit jeher liegen sie in der DNA linker Parteien und natürlich auch der Gewerkschaften. Interessant ist jedoch, dass auch die rechten Parteien sich diesem Thema vermehrt angenommen haben, allerdings auf eine andere Art und Weise: Flexibilität gegenüber der Arbeitszeit und der Disponibilität des Arbeitnehmers, Bezahlung der Überstunden, Karenztage oder noch Sonntagsarbeit.
Arbeitszeitverkürzungen waren bislang immer das Resultat gewerkschaftlicher Kämpfe und die letzte Arbeitszeitverkürzung via Gesetz gab es in Luxemburg in den 70er Jahren.
Linke Parteien werden oft als Parteien der Arbeit, jedoch auch als Parteien des Müßiggangs, in dem Anstrengung und Bemühung weniger wert seien, Parteien, die ein Recht auf Arbeit fordern, jedoch keine Pflicht auf Leistung wollen, angesehen. Dies entspricht jedoch nicht dem Anspruch, den viele linke Parteien an sich selbst und auch an die Gesellschaft haben. Natürlich finden diejenigen, die weniger Glück im Leben hatten und die, die in weniger wohlhabenden Familien aufgewachsen sind, die nötige Unterstützung bei diesen Parteien, denn in unserer Gesellschaft soll Platz für jedermann sein und es ist unsere Pflicht, auch den Schwächeren unter uns zu helfen. Doch die Linken sehen Arbeit (in ihren Wertvorstellungen) als wichtigen Pfeiler unserer Gesellschaft, als wertvoll an. Es ist gut zu arbeiten, etwas zu produzieren, die Gesellschaft voranzubringen.
Doch wie lange muss oder soll man arbeiten?
Zwei gegensätzliche, zugegebenermaßen extrem formulierte Standpunkte, stehen sich hier gegenüber:
Arbeit ist die neue Religion, ergibt einen Sinn im Leben vs. Arbeit tötet den Menschen innerlich ab, nimmt ihm die Freiheit zum selbstbestimmten Leben.
Arbeitszeitverkürzungen waren bislang immer das Resultat gewerkschaftlicher Kämpfe und die letzte Arbeitszeitverkürzung via Gesetz gab es in Luxemburg in den 70er Jahren. Seitdem beträgt die Wochenarbeitszeit 40 Stunden, auch wenn es die Möglichkeit gibt, in Kollektivverträgen geringere Arbeitsperioden festzulegen. Die LISER-Studie aus dem Jahr 2023 hat sich mit vielen Aspekten der Arbeit, der Arbeitszeit und deren positiven sowie negativen Impakten auseinandergesetzt.1 Sie ist ein wichtiges Dokument hin zu mehr Rationalität und weg von Emotionalität in der Debatte über die Arbeitszeit.
Es gibt verschiedene Formen von Arbeitszeitverkürzung:
- der verkürzte Arbeitstag
(z. B. der 6-Stunden-Tag)
- die verkürzte Arbeitswoche
(z. B. die 4-Tage-Woche)
- das verkürzte Arbeitsjahr
(z. B. weitere Urlaubstage)
- die verkürzte Lebensarbeitszeit
(z. B. Senkung des Renteneintrittsalters, Laufbahnunterbrechungen, Elternzeit …)
Die Ziele dieser Studie waren klar: Welches sind die positiven und negativen Auswirkungen einer Arbeitszeitverkürzung? Die Antworten sind komplex und situationsabhängig. Klar ist jedoch, dass man sich dem Thema nicht entziehen kann, indem man die Diskussion verweigert. In fast jedem Land Europas wird die Diskussion geführt. Automatisierung, KI, verbesserte Prozesse müssen auch den arbeitenden Menschen zugutekommen. Die Produktivitätssteigerung muss zugunsten der Bevölkerung geschehen. Arbeitszeitverkürzung wäre eine Lösung.
Erfolgreiche flexible Arbeitszeitmodelle
Flexible Arbeitszeitmodelle, die bereits erfolgreich umgesetzt wurden, gibt’s. Und die funktionieren auch. In allen Bereichen.
So etwa in Großbritannien: Dort testeten 2022 61 Unternehmen mit rund 2.900 Mitarbeitenden ein halbes Jahr lang die 4-Tage-Woche ohne Lohneinbußen – und waren offenbar überzeugt: 56 Firmen beschlossen anschließend, das Modell erst einmal beizubehalten. Die Mitarbeitenden waren der Studie zufolge ausgeglichener und gesünder, die Produktivität hat sich sogar erhöht. Das zeigt: Für viele Unternehmen ist das mittlerweile mehr als ein Versuch, sie bleiben dabei.
Deutlich geworden ist auch: Die Vorteile der 4-Tage-Woche halten an und verpuffen nicht nach wenigen Monaten. Mitarbeitende sind weniger krank, kündigen seltener und es ist auch einfacher, Fachkräfte zu finden. Die letzte Feststellung ist für den luxemburgischen Arbeitsmarkt, der mit fast 50 % an Grenzgängern doch sehr außergewöhnlich ist, eine sehr wichtige Erkenntnis.
Neue Arbeitszeitmodelle sind natürlich in manchen Bereichen schwerer umzusetzen als in anderen. Im Pflegebereich wird die Umsetzung komplexer und die Produktivität exakt aufrechtzuerhalten, ist schwieriger.
Es gebe sehr gute Erfahrungen darüber, dass die 4-Tage-Woche mit einer hohen Zufriedenheit, einer besseren Gesundheit und einer höheren Work-Life-Balance einhergehe. Insbesondere die Zufriedenheit ist ein wichtiger Punkt. Je weniger man arbeite, desto mehr Zeit habe man für andere alltägliche To-dos – den Haushalt, die Kinderbetreuung oder Hobbys und dann wäre noch Zeit für die Erholung oder zum Leben übrig. Diese Einsicht hat auch die LISER-Studie ergeben: Wir wollen eigentlich nicht unser gesamtes Leben der Arbeit opfern, sondern es soll auch noch etwas darüber hinaus geben. Durch die zusätzliche Freizeit sind die Mitarbeiter ausgeruhter und können sich gleichzeitig darauf konzentrieren, die Arbeit in kürzerer Zeit zu erledigen. Durch die geringere Arbeitszeit haben sie auch einen enormen Anreiz, effizienter zu arbeiten. Diese Strategie erfordert jedoch, dass die Organisation als Ganzes die Strategie annimmt, indem sie technologische und kulturelle Veränderungen umsetzt, die erforderlich sind, um effizientere Arbeitsweisen zu ermöglichen.
Die Studie ist besonders ermutigend in Bezug auf Produktivität, ein Argument, welches von Arbeitgebern immer wieder verständlicherweise als Kritikpunkt hervorgehoben wurde.
Indem man die Bezahlung und Produktivität beibehält, ändert man die Denkweise innerhalb eines Unternehmens von einem zeitorientierten Ansatz hin zu einem, der sich auf Leistung und Selbstorganisation konzentriert. Demnach eher ein: Nicht leben, um zu arbeiten, doch die Arbeit im Leben integrieren und das Leben lebenswert machen. Ähnliche Ergebnisse hat Lasse Rheingans, ein Geschäftsführer aus Deutschland, feststellen können. Schon 2017 hat er in seinem Unternehmen den 5-Stunden-Tag eingeführt. Eine viel bessere Lebensqualität, bessere Stimmung im Betrieb, motivierte und glückliche Mitarbeiter, hohe Produktivitätssteigerung, keine Schwierigkeiten, Mitarbeiter zu finden, weniger Krankheitstage, kurz: ein Modell des Erfolgs. Ein 5-Stunden-Modell, in dem folgende Punkte zentral sind:
- Verantwortung der Mitarbeitenden für die eigenen Tagesziele
- Vermeidung von Ablenkung, zum Beispiel keine Push-Benachrichtigungen auf dem Handy
- effiziente Meetings, um Zwischenstände zu teilen und Transparenz herzustellen
- Prozesse verbessern und automatisieren
- Möglichkeiten für soziale Zeit als Ausgleich für fehlende Flurgespräche bewusst einplanen
- regelmäßiges Feedback für die Weiterentwicklung des 5-Stunden-Tages einplanen
Neue Arbeitszeitmodelle sind natürlich in manchen Bereichen schwerer umzusetzen als in anderen. Im Pflegebereich wird die Umsetzung komplexer und die Produktivität exakt aufrechtzuerhalten, ist schwieriger. Man kann ja nicht plötzlich schneller pflegen, das kann nicht funktionieren. Und in diesen Berufen ist auch Homeoffice keine Alternative.
Deshalb sollten sich Unternehmer eine komplette Umstrukturierung von Betrieben überlegen. Unternehmen müssten sehr genau darüber nachdenke, wer welche Aufgaben übernimmt oder gegebenenfalls mehr Beschäftigte einstellen, was natürlich mit mehr Kosten verbunden wäre. Aber ein Arbeitsmarkt, an dem Fachkräftemangel europaweit auf der Tagesordnung steht, an dem Fahrtwege nach Luxemburg extrem zeitraubend sind und wo sich die Einkommensschere bei Mindestlohnverdienern aus Luxemburgs Nachbarländern stets verkleinert, müssen Alternativmodelle auch Lösungen sein, damit unsere Wirtschaft weiter die notwendigen Arbeitskräfte anziehen kann. Die aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt erlaubt es den Bewerberinnen und Bewerbern, Ansprüche zu stellen und sich den Arbeitgeber gezielt auszusuchen.

Auch in Luxemburg haben einige Unternehmen den Zeitgeist erkannt. Flibco hat sich für eine 32-Stunden-Woche, verteilt auf 4 Tage bei vollem Gehalt, für seine Mitarbeiter entschieden und die Beschäftigten sind von der Arbeitszeitverkürzung überzeugt. Die Einführung der 4-Tage-Woche hat sich als erfolgreich erwiesen, sodass die Effizienz mindestens auf demselben Niveau blieb. Sie haben erkannt, dass innovative Lösungen den Fachkräftemangel beheben können.
Die Raiffeisenbank hat seit dem 1. Januar 2023 ein flexibles Arbeitszeitmodell eingeführt. Jedem Mitarbeiter stehen acht freie Stunden im Monat zusätzlich zu den offiziellen Urlaubs- und Ruhetagen zur Verfügung. Eigentlich eine 38-Stunden-Woche. Auf die Probezeit folgte eine sehr positive Bilanz: 80 % der zusätzlichen Stunden werden genutzt, quer durch alle Funktionen und Führungsebenen des Unternehmens. Die Produktivität ist nicht gesunken und die Direktion ist äußerst zufrieden. Die Personalfluktuation ist mit dem Projekt „Quality Time“ weniger geworden.
Es gibt sie also, die erfolgreichen Alternativmodelle, die beweisen, dass Arbeitszeitverkürzung möglich ist. Neben den für Unternehmen nicht immer einfachen Umstellungen, die sicherlich auch mit Ängsten und Herausforderungen einhergehen, sind die Vorteile unbestreitbar.
Die Konsequenzen von „zu viel Arbeit“ haben ihren Preis:
- 745.000 Menschen sterben weltweit pro Jahr an den Folgen von zu langen Arbeitszeiten.
- 1,7 Milliarden Überstunden wurden im Jahr 2020 allein in Deutschland geleistet – und mehr als die Hälfte wurde nicht bezahlt.
- 2020 wurden laut der Krankenkasse DAK doppelt so viele Fehltage wegen psychischer Belastung registriert wie zehn Jahre zuvor.2
- Genügend Zeit für Regeneration ist also besonders wichtig, damit die Arbeitsbelastung nicht zu hoch wird.
Bessere Organisation, mehr Eigenverantwortung, Prozesse vereinfachen und modernisieren, Produktionssteigerungen und die daraus resultierenden Gewinne an die Arbeitnehmer weitergeben, weniger arbeiten … die Diskussion um die Veränderung der Arbeitswelt und um eine Arbeitszeitreduktion wird und soll uns noch lange beschäftigen. Der europaweite Fachkräftemangel wird diese Diskussion noch verschärfen. Die in naher Zukunft zu führenden Debatten über die Kollektivgesetzgebung werden neue Möglichkeiten eröffnen. Lasst uns diese Möglichkeiten nutzen, zugunsten unserer Arbeitnehmer und zugunsten der Unternehmer. Politik heißt Innovation, Fortschritt und nicht nur verwalten und alles lassen, wie es ist. Nur so werden sich die Gesellschaft und Wirtschaft weiterentwickeln. Luxemburg muss aufpassen, den Anschluss nicht zu verpassen!
Georges Engel ist Politiker, ehemaliger Bürgermeister der Gemeinde Sanem, war Arbeits- und Sportminister. Seit 2012 ist er Abgeordneter in der Kammer.
1 https://tinyurl.com/etudeLISER (letzter Aufruf: 27. August 2024)
2 https://tinyurl.com/Uno-Studie (letzter Aufruf: 27. August 2024)
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