- Medien, Zeit
Rhythmus als Ressource
Zur Digitalisierung von Aufmerksamkeit
Lesezeit: 6 Minuten
Dass unsere Aufmerksamkeit eine kostbare Ressource darstellt, ist zu einem Topos der Selbstoptimierungsliteratur avanciert. In der „Ablenkungsgesellschaft“, so warnt ein Artikel ausgerechnet auf dem sozialen Karriere-Netzwerk XING, müssen wir behutsam mit ihr umgehen, damit wir nicht verlernen, uns zu konzentrieren.1 Und ein Beitrag im Online-Journal Medium erinnert uns daran, dass „to divvy up this resource is a valuable, life-long skill.“2
Was hier als Imperativ der Achtsamkeit formuliert wird, rekurriert auf das Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie, das in Abgrenzung zu sozialwissenschaftlichen Konzepten der Gesellschaft entwickelt wurde. Wenn Ökonomie die Gesellschaft als etwas beschreibt, das um knappe Ressourcen organisiert ist, gehen Begriffe wie Informations-, Kommunikations- oder Wissensgesellschaft am Wesen unserer Gesellschaft vorbei. Denn an den Ressourcen Information, Kommunikation und Wissen besteht offenkundig kein Mangel. Knapp ist vielmehr die Verarbeitungskapazität, auf welche die Flut dieser Angebote trifft. Um sie wird konkurriert, nicht nur von Medienanbietern und Werbefachleuten, sondern auch von Lehrern, Wahlkämpfern, Professoren, Kuratoren und Pastoren.3
Das erklärt, weshalb Information und Kommunikation im Web 2.0 oftmals kostenlos sind. Die attention merchants4 des 21. Jahrhunderts verkaufen nicht uns Wissen oder Kommunikationsmöglichkeiten, sie verkaufen unsere Aufmerksamkeit an Dritte, bei denen es sich überwiegend um Anbieter von Werbung handelt. Auf Facebook, Instagram oder X sind wir mithin das Produkt, nicht die Kunden: Versteigert werden unsere Erfahrung, unsere Gewohnheiten, unsere Zeit. Auch wir konkurrieren um die Aufmerksamkeit anderer, und einige können als „Influencer“ selbst wirtschaftlich profitieren. Wer hingegen nur klickt, likt und ab und an postet, wird genau vermessen und dann mit anderen Datenpersonen zu Paketen verschnürt, die sich verauktionieren lassen: potenzielle Autokäufer, Kinogänger, Fußballfans, ADR-Wähler.
Wer hingegen nur klickt, likt und ab und an postet, wird genau vermessen und dann mit anderen Datenpersonen zu Paketen verschnürt, die sich verauktionieren lassen: potenzielle Autokäufer, Kinogänger, Fußballfans, ADR-Wähler.
Was aber ist Aufmerksamkeit? Jonathan Crary definiert sie als „relative Fähigkeit des Subjekts, gewisse Inhalte eines sensorischen Felds auf Kosten anderer im Interesse des Festhaltens an einer geordneten und produktiven Welt selektiv zu isolieren“.5 Diese Fähigkeit zur Selektion wird nach Crary mit Beginn der Moderne, also seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zunehmend wichtig – und da sie benötigt wird, wird sie durch Techniken der Stimulation und Manipulation von Wahrnehmung auch gezielt trainiert. Nach Crary sind es nicht zuletzt technische Medien wie Fotografie und Kino, die die Herstellung von Aufmerksamkeit vorantreiben. Sie erzeugen ein System sensorischer Reize, das Wahrnehmung auf bestimmte Elemente ausrichtet und so als soziale und ökonomische Ressource erschließt. Auch „das Fernsehen und der Personal Computer“, also die Medien des späten 20. Jahrhunderts, sind nach Crary weiterhin Werkzeuge des „Aufmerksamkeitsmanagements“, die „Körper zugleich kontrollierbar und nützlich machen, gerade wenn sie die Illusion der Auswahl und der ‚Interaktivität‘ verbreiten.“6
Besonders in der digitalen Welt spielt diese Illusion der Interaktivität eine entscheidende Rolle. Denn um Aufmerksamkeit berechenbar zu machen, benötigen die attention merchants Daten. Große Plattformen wie Facebook und Instagram werten daher nicht nur aus, was wir anklicken oder aktiv als unsere Interessen angeben, sondern greifen auf subtilere Datensätze zurück: die Verweildauer bei bestimmten Inhalten und Stories, Cursorbewegungen, sogenannte Click-Through-Raten bei Werbebannern, ja sogar typische Handlungsfolgen und Tagesabläufe. Auf diese Weise wird dafür gesorgt, dass die Werbeangebote zum richtigen Zeitpunkt erscheinen und zur aktuellen Stimmung passen. Um all diese Informationen erheben zu können, werden Interaktionsangebote gemacht, die einfach auszuführen und leicht auszuwerten sind: Hier können wir einen Like hinterlassen, dort jemandem folgen oder etwas in der Merkliste speichern – alles mit einem Klick. Solche Angebote, welche die Medientheorie unter dem Begriff Affordanz fasst, öffnen keineswegs Raum für freies Handeln, vielmehr provozieren sie zu schnellen Entscheidungen, die statistisch auswertbar sind und die keine große Reflexion erfordern. „Doing must be easier than thinking“, wie es in einem erfolgreichen Handbuch der Szene mit dem sprechenden Titel Hooked unumwunden heißt.7
Die umfassenden Datenarchive, die auf diese Weise entstehen, sind auf die Berechnung der Zukunft ausgerichtet. Die Verbindung von Prognostik und Empfehlung bildet den Kern des ökonomischen Versprechens der Personalisierung, das letztlich auf die Herstellung von Gewinnsicherheit hinausläuft: Wenn nur noch angeboten wird, was mit hinreichender Sicherheit auch gekauft wird, ist jedes wirtschaftliche Risiko eliminiert. Diese Prognostik funktioniert insofern kybernetisch, als sie auf stetigen Wandel programmiert ist: Wenn wir uns ändern, ändert sich die Prognose in einem Wechselspiel von „Feedback und Anpassung“8 mit uns. Die Verdatung menschlichen Verhaltens folgt so zwar einerseits quasi-kriminologischen Mustern,9 was zu den bekannten Befürchtungen beiträgt, Facebook wisse mehr über uns als selbst unsere engsten Bezugspersonen.10 Andererseits ist sie jedoch gerade nicht auf die Fixierung unserer Identität ausgerichtet; vielmehr definiert sie Menschen als Rhythmen, als Abfolgen serieller Handlungen, die vorausberechnet und, indem auch die Bedingungen für ihren Wandel analysiert werden, gezielt herbeigeführt werden können.11
Diese wirtschaftliche Utopie einer ständig sich anpassenden Prognostik, auf die das Design digitaler Medien zielt, lässt die Zukunft als Zeitdimension tendenziell kollabieren: Wenn alles, was geschieht, im Voraus antizipiert wird, wird die Zukunft auf die Gegenwart reduziert. Dem entspricht die Zeitwahrnehmung, welche die Nutzung der Medien erzeugt: Sind diese so rhythmisiert, dass wir lange dabei bleiben, dass wir bingewatchend oder spielsüchtig, im Kaufrausch oder im „Rabbit Hole of Radicalization“12 vor dem Monitor verharren, fühlen wir uns in einer stehenden Gegenwart, einem ewigen Jetzt. Wir sind dann, wie es die Fernsehwissenschaft schon vor 50 Jahren auf den Begriff brachte, im Flow,13 also in einem Zustand der Immersion, der gefesselten Aufmerksamkeit.

In einem in den USA vieldiskutierten Buch argumentiert die marxistische Kulturkritikerin Anna Kornbluh, dass auch der ästhetische Modus der Werke, die wir auf diese Weise rezipieren, zunehmend einer der Unmittelbarkeit, der immediacy ist. Kunst und Kultur zielten heute auf die Herstellung von Echtheit, Authentizität und Nähe, auf eine Auslöschung von Distanz und Repräsentation. Kornbluh findet diese Tendenz in unterschiedlichsten Strömungen der Gegenwartskultur am Werk, etwa in der Autofiktion eines Karl Ove Knausgård, in postkolonialen Formen der Autotheorie, in der Post-Continuity-Ästhetik des gegenwärtigen Actionfilms, aber auch in der Facebook-Timeline oder in der Selbstinszenierung der Kardashians auf Instagram. „After postmodernism’s skepticism and irony, immediacy’s authentications and engrossments now plat realness. Where postmodernism revels in mediation – intertextuality, irony, the meta – immediacy negates mediation to effect flow and indistinction.”14
Kornbluhs Polemik ist kaum um Differenzierung bemüht; gleichwohl findet sie mit den traditionsreichen Gegensatzpaaren von Medium und Unmittelbarkeit, Präsenz und Repräsentation eine Formel für die spezifische Zeitlichkeit der Aufmerksamkeitsökonomie. Denn Zeit ist selbst an Repräsentation gebunden: Der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung unzugänglich, bedarf sie einer medialen Verdinglichung, etwa in Form von Uhren und Kalendern, um überhaupt in Erscheinung zu treten. Gleichzeitig geht Zeitbewusstsein aus dem Akt der mentalen Repräsentation selbst hervor: Indem das Erlebte im Gedächtnis wiederholt, also repräsentiert wird, entsteht ein Intervall zwischen erlebter und erlebender Gegenwart, das als Zeit wahrgenommen wird.15 Insofern Repräsentation auf Symbolisierung angewiesen ist, können Schrift und Sprache als notwendige Voraussetzungen dafür gelten, dass Zeit in Erscheinung treten kann.
Diese wirtschaftliche Utopie einer ständig sich anpassenden Prognostik, auf die das Design digitaler Medien zielt, lässt die Zukunft als Zeitdimension tendenziell kollabieren: Wenn alles, was geschieht, im Voraus antizipiert wird, wird die Zukunft auf die Gegenwart reduziert.
Im Gegensatz zu einer Kultur der Repräsentation, der Symbolisierung und der Schrift, die oftmals das Gefühl eines Verlustes von Gegenwart bedingt, zielt die von Kornbluh diagnostizierte Ästhetik der Präsenz auf eine Einebnung dieses zeitkonstitutiven Intervalls. Nach Hans Belting ist „das Zeitgefälle, das einmal zwischen Bild und Ereignis bestand“, in der digitalen Kultur daher verschwunden: „Bilder entstehen und entweichen synchron, als wären sie die Ereignisse selbst.“16 Während sich in den Archiven eine verdatete Vergangenheit anhäuft, aus der Zukunft berechnet wird, wird in der Medienerfahrung Zeit zu einer intensivierten Gegenwart, die sich von den attention merchants direkt in Geld umsetzen lässt. Einer solchen Ästhetik der Präsenz sucht Kornbluh einen Modus entgegenzuhalten, der die Repräsentation wieder in ihr Recht setzt, der Nähe durch Distanz, Flow durch das abgeschlossene Werk, Reaktion durch Reflexion kontert. Der uns die Gegenwart entreißt – und sie eben dadurch wieder verfügbar macht.
Kornbluhs Argumentation verbleibt allerdings auf der Ebene der Ästhetik. Wenn unsere gegenwärtige Medienkultur darauf zielt, die Ressource der Aufmerksamkeit durch Techniken medialer Blicklenkung und User Experience Design wirtschaftlich zu verwerten, müsste das Ziel jedoch darin bestehen, auch die medialen Bedingungen dafür zu bestimmen, dass Aufmerksamkeit wieder zu einem Vermögen werden kann, über das wir bewusst verfügen können. Die Anbieter digitaler Dienste haben diesen Bedarf längst erkannt: Der letzte große Schrei auf dem AI-Markt sind persönliche Assistenten, die uns dabei helfen sollen, die Kontrolle über unsere kostbarste Ressource, die Aufmerksamkeit, wiederzugewinnen. Indem sie unsere Ziele und Bedürfnisse verstehen, sollen sie uns dabei helfen, uns den Dingen zu widmen, die wirklich wichtig sind. „Life is in Your Hands“, verspricht die preisgekrönte App 24me.
Freilich können sie das nur, wenn sie genug über unser Leben wissen, wenn sie unsere Rhythmen vermessen, unsere Freundschaften auswerten, unsere Vorlieben erkunden und unsere Hemmungen und Ängste analysieren können. Sollten wir dann einmal nicht genau wissen, was wir eigentlich wollen, können wir es mit ihrer Hilfe herausfinden. Und natürlich werden sie uns dann auch wissen lassen, wo wir es kaufen können.
Johannes Pause ist Research Scientist am Institut für Germanistik der Universität Luxemburg und stellvertretender Studiengangsleiter des Bachelor in Animation.
1 Alexandra Hildebrandt, „Volle Konzentration! Warum Aufmerksamkeit unsere knappste Ressource ist“, in: Xing News, 14. April 2019.
2 Simon Spichak, „Managing Attention Like A Finite Resource“, in: Medium, 7. Oktober 2020.
3 vgl. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München, Hanser Verlag, 2007.
4 Tim Wu, The Attention Merchants. The Epic Scramble to Get Inside Our Heads, New York, Knopf, 2016.
5 Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 2002. S. 25.
6 ebd., S. 66.
7 Nir Eyal, Hooked. How to Build Habit-Forming Products, New York, Penguin, 2014, S. 61.
8 Crary, Aufmerksamkeit, S. 67.
9 Andreas Bernard, Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur, Frankfurt a. M., Fischer Verlag, 2017.
10 vgl. Issie Lapowsky, „How Facebook Knows You Better Than Your Friends Do“, in: Wired,
13. Januar 2015.
11 Elinor Carmi, „Rhythmedia. A Study of Facebook Immune System“, in: Theory, Culture & Society 37 (2020), 5, S. 119–138.
12 Mark Ledwich, Anna Zaitsev, „Algorithmic Extremism. Examining YouTube’s Rabbit Hole of Radicalization“, in: First Monday 25 (2020), 3.
13 Raymond Williams, Television. Technology and Cultural Form, London, Routledge, 1974.
14 Anna Kornbluh, Immediacy, or The Style of Too Late Capitalism, New York, Verso Books, 2024, S. 13.
15 Ralf Beuthan, „Medienphilosophie der Zeit“, in: Mike Sandbothe/Ludwig Nagl (Hg.), Systematische Medienphilosophie, Berlin, De Gruyter, 2005, S. 21–36.
16 Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München, C.H. Beck, 2006, S. 20.
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