15 Jahre PISA: eine Bilanz für Luxemburg

„Without data, you are just another person with an opinion“(W.E. Deming)

Ähnlich wie in der Medizin oder in der Wirtschaft sollten auch in der Bildung Entscheidungen evidenzbasierend, also datengestützt getroffen werden, um so einen möglichst hohen Bildungserfolg zu erzielen. Mit der Entscheidung einer Teilnahme an der internationalen Schulleistungsstudie PISA im Jahr 2000 hat auch Luxemburg sich bewusst den Staaten angeschlossen, welche ihre Bildungslandschaft verstärkt datengestützt steuern wollen. Seither wurden im Dreijahresrhythmus jeweils die drei Schwerpunktbereiche Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften zweifach erfasst. Mit dem Abschluss des zweiten kompletten Erhebungszyklus mit PISA 2015 bietet es sich an, Bilanz zu ziehen.

Unter dem Durchschnitt, bildungsungerecht aber stabil

Basierend auf den gesamten bisher verfügbaren PISA-Daten, können drei empirische Kernergebnisse isoliert werden, welche nach sechsfacher, unabhängiger Messung als unmissverständlich gelten müssen. Das erste betrifft die unterdurchschnittlichen Leistungen der Luxemburger Schülerschaft im internationalen Vergleich. Unter leichten Vorbehalten an den 2000er und 2003er Daten, positioniert sich das luxemburgische Schulwesen über die ganzen Jahre in allen Bereichen knapp, aber dennoch statistisch signifikant, unter dem OECD-Mittelwert und somit international im unteren Mittelfeld. Zudem hat Luxemburg über alle Zyklen und Testbereiche hinweg mehr leistungsschwache und weniger leistungsstarke Schülerinnen und Schüler als der OECD-Durchschnitt. Dies erklärt zum Teil das unterdurchschnittliche Gesamtergebnis. Das von PISA gezeichnete Bild zur Kompetenz der Luxemburger Schülerschaft ist messstabil und stimmt mit den Befunden aus vergleichbaren nationalen Kompetenzmessungen, wie dem nationalen Bildungsmonitoring „Épreuves Standardisées“, kurz „ÉpStan“ überein. Die Erkenntnis eines generellen Leistungsproblems im nationalen Bildungssystem sollte somit als empirisch erwiesen gelten.

Wenngleich eng an das generelle Leistungsproblem gekoppelt, ist ein zweiter wichtiger Befund die große Bildungsungerechtigkeit. Ausnahmslos zeigen alle bisherigen PISA-Erhebungen, dass große Leis-tungsunterschiede zwischen Schülergruppen unterschiedlicher sozio-ökonomischer und -kultureller Herkunft vorherrschen. Der Bildungserfolg ist also stark von den Schülerhintergrundmerkmalen (wie z.B. Migrationshintergrund, zu Hause gesprochene Sprache, elterliches Bildungs- und Einkommensniveau, Bildungsressourcen) abhängig. Die Leistungsunterschiede aufgrund der Schülerherkunft wirken kumulativ; statistisch gesehen treten ungünstige Faktoren also häufig gemeinsam auf und sind oft miteinander verwoben. Die besagten Disparitäten liegen bei PISA zyklusübergreifend in der Größenordnung von mehreren Jahren Beschulung in allen Kompetenzbereichen. Solche Bildungsungleichheiten gibt es selbstverständlich nicht nur in Luxemburg. Jedoch zeigt die gesamte bisher verfügbare PISA-Datenbasis, dass die Leistungsunterschiede hierzulande wesentlich ausgeprägter ausfallen als in nahezu allen anderen PISA-Teilnehmerstaaten. Die PISA-Befundlage zur nationalen Bildungsungerechtigkeit ist wiederum messstabil und deckungsgleich mit den Ergebnissen aus vergleichbaren nationalen Studien. Somit kann die Erkenntnis, dass sich der Schülerhintergrund substantiell auf den Verlauf der Bildungslaufbahnen auswirkt, als empirisch abgesichert betrachtet werden.

Die Kernfrage, der PISA über die großflächigen Datenerhebungen im Dreijahresrhythmus nachgeht, ist der Trend: Wie entwickeln sich die Kompetenzniveaus und die Leistungsdisparitäten über die Zeit? Für Luxemburg zeichnet sich hier ein dritter bedeutungsvoller Befund ab, nämlich eine relative Stabilität des Bildungssystems. Zwar gibt es über die Jahre hinweg Fluktuationen, aber ein eindeutiger Trend ist weder aufwärts noch abwärts auszumachen. Diese Stabilität kann im Falle von Luxemburg als Teilerfolg interpretiert werden, denn das Großherzogtum hält das Niveau trotz des manifesten sozio-demographischen Wandels der Schülerschaft, welche eigentlich eine Leistungsminderung vermuten lassen würde. In den PISA-Anfangsjahren wiesen nur knapp ein Drittel der PISA-Teilnehmer in Luxemburg einen Migrationshintergrund auf, wobei es 2015 fast die Hälfte war. Ein auf den ersten Blick nicht sichtbarer positiver Trend über den gesamten PISA-Zeitraum existiert demnach dennoch, nur so ist das beobachtete Status-Quo-Phänomen überhaupt möglich.

Das mittlere Kompetenzniveau der einheimischen Schülerschaft ist über die Jahre hinweg relativ stabil geblieben, während bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ein klarer stetiger Aufwärtstrend zu beobachten ist. Diesem Ergebnis kann man entnehmen, dass die Schulen sich förderlich über die Jahre hinweg an ihre extrem heterogene Schülerschaft angepasst haben. Im Gesamtbild zeigt sich diese positive Entwicklung leider nicht, da die Einheimischen weiterhin über einen substantiellen Leistungsvorsprung von ungefähr anderthalb Jahren Beschulung verfügen. Gleichzeitig verschiebt sich die Zusammensetzung der Gesamtgruppe in Richtung mehr Schüler mit Migrationshintergrund. Das Ausbleiben eines übergreifenden Kompetenztrends wird auch in nationalen Studien beobachtet. Somit kann die Erkenntnis, dass das nationale Schulsystem insbesondere von Stabilität geprägt ist, als empirisch untermauert angesehen werden.
Erklärungsansätze

Wie erklären sich diese oben angeführten Hauptbefunde im nationalen Kontext? Die spezifischen Charakteristika von Luxemburg, insbesondere der schnelle demographische Wandel sowie die traditionelle Mehrsprachigkeit wirken auch auf das Bildungswesen ein. Da Luxemburg ein sehr kleines Land ist mit einer Wirtschaft, die auf Zuwanderung angewiesen und ausgelegt ist, vollzieht sich der demographische Wandel, was eine logische und natürliche Konsequenz einer globalisierten Welt darstellt, wesentlich schneller als anderorts. Infolge ist das luxemburgische Schulsystem mit einer noch nie dagewesenen Heterogenität der Schülerschaft konfrontiert, welche alle Bildungsakteure vor große Herausforderungen stellt.

Weiterhin ist das Schulwesen, ähnlich wie das Land, mehrsprachig aufgebaut. Die Ansprüche im Bereich des Sprachenlernens sind extrem hoch und werden für die gesamte Schülerschaft gleichartig angewandt mit dem Ziel, eine nahezu perfekte Drei- wenn nicht sogar Viersprachigkeit zu erreichen. Sprachen haben somit einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert im Schulsystem und dies betrifft über das eigentliche Sprachenlernen hinaus auch die über die Bildungslaufbahnen hinweg wechselnde Nutzung unterschiedlicher Unterrichtssprachen in anderen Kompetenzbereichen. Das extrem ambitionierte Ziel Mehrsprachigkeit der gesamten Schülerschaft durch die Bildung zu erzielen, basiert auf mehreren impliziten und teilweise historisch gewachsenen, systemischen Annahmen, wie mitunter einer gemeinsamen muttersprachlichen Basis, welche heutzutage jedoch nicht mehr zutreffen. So spricht zum Beispiel nur noch jedes dritte neueingeschulte Kind Luxemburgisch als erste Sprache. Weiterhin wird ein automatischer Transfer von Luxemburgisch als Mutter- oder Integrationssprache auf Deutsch als Unterrichts- und Alphabetisierungssprache vorausgesetzt, eine empirisch nicht belegte Annahme, die eigentlich so nicht zutrifft.

Um mit der im internationalen Vergleich sehr hohen Diversität umzugehen, greift das luxemburgische Schulsystem exzessiv und vorzugsweise kombiniert auf zwei hochgenerische und deshalb verhältnismäßig ineffiziente Strategien zurück: Klassenwiederholungen und relativ frühe Leistungsgruppierungen in unterschiedlich anspruchsvollen Schulformen. Beide Maßnahmen sind weitestgehend mit dafür verantwortlich, dass die Bildungsdisparitäten zwischen Schülergruppen unterschiedlicher sozio-ökonomischer und -kultureller Herkunft sich zu der Größenordnung entwickeln können, wie wir es hierzulande beobachten.

Weiterhin werden anspruchsvollere Lernangebote fächerübergreifend vermindert, auch dort wo Schülerinnen und Schüler möglicherweise Teilstärken aufweisen. Schülerinnen und Schüler mit Teilleis-tungsschwächen, welche im mehrsprachigen Schulsystem oft direkt oder indirekt sprachbedingt sind, werden somit nicht etwa in ihrer Teilschwäche unterstützt und gefördert, sondern werden in allen Bereichen systematisch ausgebremst. Die Maßnahme des Sitzenbleibens wirkt sich dabei besonders negativ auf die durchschnittliche Gesamtleistung bei PISA aus, da die Stichprobe altersbasiert ausgelegt ist und somit nahezu alle Fünfzehnjährigen an der Studie teilnehmen und dies unabhängig von der erreichten Klassenstufe.

Aus den Erklärungsansätzen lässt sich folgende Arbeitshypothese ableiten: Um das generelle Leistungsproblem in den Griff zu bekommen, müssen die systematischen Leistungsunterschiede abgebaut werden, indem gelernt wird, adäquater mit der heterogenen Schülerschaft umzugehen. Die Sprachenpolitik und -anforderungen müssen grundlegend überdacht werden, damit Sprachen als Bildungschancen und nicht als Hindernisse dienen. Die oben genannten generischen Maßnahmen im Umgang mit Heterogenität sollten zudem durch spezifische pädagogische Maßnahmen ersetzt werden. Eine diverse Schülerschaft benötigt ein flexibles, aufgeschlossenes, diversifiziertes und schülerzentriertes Schulsystem, damit möglichst viele Schülerinnen und Schüler ihr jeweiliges Potential optimal ausschöpfen und entfalten können. Wichtig ist noch, in Bezug auf den Umgang mit Sprachen, zu betonen, dass anders nicht zwingend weniger bedeutet; ganz im Gegenteil.

Wandel im Bildungswesen durch PISA

Was hat PISA erreicht? Ein großer Erfolg von PISA liegt darin, die Entwicklung zu einer evidenzbasierten Steuerung vom nationalen Bildungssystem vorangetrieben zu haben. Diskussionen über Bildung wurden in den letzten Jahren zunehmend mit Daten angereichert. Zudem ist es auch PISA zu verdanken, dass heute hochrelevante öffentliche und politische Diskussionen über Bildungsgerechtigkeit geführt werden. Mit PISA wurden im Bildungswesen die Weichen in Richtung Qualitätskultur gestellt. Aus der Studie ließ sich erschließen, dass sich erfolgreichere Bildungssysteme vor allem durch eine systematische Qualitätssicherung unterscheiden. Dazu müssen Bildungsziele oder Standards explizit ausformuliert, das Schulwesen über diese Standards gesteuert und schließlich systematisch überprüft werden, ob diese Ziele auch erreicht werden. Luxemburg hat sich über die letzten Jahre genau auf den eben beschriebenen Weg begeben und in diesem Zusammenhang wichtige und bis dato nichtvorhandene Expertise in Sachen Qualitätsentwicklung und -sicherung im Bildungswesen aufgebaut. Diese wurde sowohl innerhalb des Bildungsministeriums als auch auf Seiten der Universität Luxemburg nachhaltig in der nationalen Bildungslandschaft verankert. Luxemburg ist somit exzellent aufgestellt, um die substantiellen Herausforderungen und zwingend notwendigen Renovierungsmaßnahmen, vor denen das Bildungswesen und damit auch das Land stehen, kompetent, zuversichtlich und datengestützt anzugehen.

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