- Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Medien, Politik
L’Europe: 12 points !
Der Eurovision Song Contest als Forum europäischer Öffentlichkeit
Europa wählt. Der Titel der aktuellen forum-Ausgabe trifft gleich zwei Nägel auf den Kopf. Zwischen dem 23. und 26. Mai werden in allen EU-Mitgliedsstaaten die Wahlen zum nächsten Europäischen Parlament durchgeführt. Die Woche davor, und zwar am 14., 16. und 18. Mai, finden die Wahlen zur/m nächsten Sieger*in des Eurovision Song Contest (ESC) statt. Dieser Beitrag will beide Wahlen in einen emphatischen Zusammenhang bringen.
Öffentlichkeit
Vermutlich hat kein/e Autor*in so wie Jürgen Habermas und kein Buch wie seine 1962 veröffentlichte Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit so nachhaltig die Debatte über einen normativen Begriff von Öffentlichkeit geprägt. Habermas leitete die Genese bürgerlicher Öffentlichkeit aus den Salons, Lesegesellschaften und Kaffeehäusern einer entstehenden bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert ab, die er als Forum politischer Selbstvergewisserung und Willensbildung verstanden wissen wollte. An diesen Orten formulierte sich auch das Selbstbewusstsein eines liberalen und aufgeklärten Bürgertums. Die Regeln in dieser Diskursarena bestanden im gleichen Zugang aller zu den Orten und Foren der Öffentlichkeit, der Freiheit der Themenwahl durch die Teilnehmenden und der gemeinsamen und gewaltfreien Ermittlung des Richtigen über die Kraft des besseren Arguments. Publizistische Organe dieser Selbstvergewisserung waren die sich zunehmend verbreitenden Zeitungen, Periodika und Zeitschriften.1 Sowohl die historische Beschreibung als auch die normative Konturierung des Habermas’schen Öffentlichkeitskonzepts, das er 1981 zu einer Theorie des kommunikativen Handelns ausbaute2, sind in der Folge von verschiedenen Seiten – beispielsweise feministisch oder marxistisch – stark kritisiert worden. Dennoch kommt man bis heute nicht umhin, sich mit den von Habermas explizierten Bedingungen der Möglichkeit von Öffentlichkeit auseinanderzusetzen, wenn man über das Thema nachdenkt.
Europäische Öffentlichkeit?
Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht kam die Frage nach der Existenz einer europäischen Öffentlichkeit auf. Gab es sie? Sollte es sie geben? Wie könnte sie entstehen und aussehen? Was wären ihre Selbstverständigungsorgane, und in welcher Sprache würden diese erscheinen? Der Punkt der Sprache ist einer unter vielen, der viele daran zweifeln ließ, dass so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit überhaupt möglich wäre. Habermas hingegen betonte, dass neben einer Verfassung eine europaweite politische Öffentlichkeit nötig wäre, um existierende Demokratiedefizite in der EU zu beheben.3
In einem Beitrag aus dem Jahr 2017 unterscheidet Javier Ruiz-Soler drei Positionen in der Forschung zur europäischen Öffentlichkeit.4 Die erste verstehe europäische Öffentlichkeit als eine „homogene supranationale und horizontale Öffentlichkeit oberhalb der nationalen Öffentlichkeiten“. Die Probleme, die Forscher dieser Gruppe für das Entstehen einer solchen Öffentlichkeit ausmachen, sind die unterschiedlichen europäischen Sprachen, die jeweiligen nationalen Medien sowie kulturelle Unterschiede. In der zweiten Gruppe werde europäische Öffentlichkeit nicht supranational konzipiert, sondern als Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten gedacht. In diesem Verständnis, das laut Ruiz-Soler die breiteste Zustimmung in der Öffentlichkeitsforschung findet, werden in einer europäischen Öffentlichkeit dieselben „europäischen Angelegenheiten (…) gleichzeitig nach ähnlichen Relevanzkriterien diskutiert“. Die dritte Position kritisiert, dass die ersten beiden Gruppen Kriterien nationaler an transnationale Öffentlichkeiten anlegten. Dies sei aber grundfalsch und verdecke die Tatsache, dass es bereits „sich überschneidende(n) europäische(n) Öffentlichkeiten mit teilweise transnationalem Charakter“ gebe. Organe solcher europäischen Öffentlichkeiten könnten Zeitschriften wie politico sein, aber auch die zahlreichen transnational existierenden Gruppen in den diversen sozialen und akademischen Netzwerken.
Hier ist nicht der Raum, um die Herausforderungen der Digitalisierung für politische Öffentlichkeiten zu diskutieren5, und auch nicht der Platz, um das Problem von Öffentlichkeit und Gegen-Öffentlichkeiten auf einer europäischen Ebene aufzuwerfen, was sicherlich wichtig wäre, wenn man an die derzeit stattfindende Vernetzung einer rechtspopulistischen, identitären und faschistischen Gegen-Öffentlichkeit in Europa denkt. Worum es hier vielmehr gehen soll, ist die Suche nach Inspiration für eine mögliche europäische Öffentlichkeit aus dem Geiste der Musik.
Europa schaut zu
Bereits ein Jahr vor der Unterzeichnung der Römischen Verträge und der Einbindung Deutschlands in eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit den drei Benelux-Ländern, Frankreich und Italien veranstaltete die Europäische Rundfunkunion (EBU) erstmals den Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne, wie der ESC damals noch hieß.6 Neben den sechs Ländern, die sich als EWG zusammenfinden sollten, war auch die Schweiz vertreten und siegte mit Lys Assia und ihrem Beitrag Refrain in Lugano, dem ersten Austragungsort des Musikwettbewerbs. Seit 1956 findet der ESC jedes Jahr statt, seit 1958 stets im Land des Vorjahressiegers (mit wenigen Ausnahmen, zuletzt 1980). Die Zahl der teilnehmenden Länder hat sich im Verlauf der Geschichte des ESC zunehmend erhöht. Bedingung für eine Teilnahme ist die Mitgliedschaft in der EBU. Im Gegensatz zur EU spielt nicht die Geografie, sondern allein der Wille, Teil der EBU zu sein, eine Rolle. Sogar – das Beispiel ist bisher einmalig – ein Land wie Australien, das nicht in der EBU ist, sich aber aufgrund eines starken Interesses am ESC dafür qualifiziert hat, darf seit 2015 am Wettbewerb teilnehmen. Entscheidend für die Bedeutung des ESC für eine europäische Öffentlichkeit ist jedenfalls, dass Europa zuschaut, wenn dieser Wettbewerb stattfindet. Freilich nicht jede und nicht jeder schaltet ein, aber keine überregionale europäische Tageszeitung, keine Nachrichtensendung berichtet nicht darüber. Und immerhin sind es rund 200 Millionen Menschen weltweit, die den Wettbewerb verfolgen.Selbstverständlich gibt es andere europäische Events mit einer noch größeren Reichweite. Nehmen wir nur die Fußball-Europameisterschaft. Der grundlegende Unterschied besteht aber in einer Regel, die sehr viel mit der Frage nach nationalen Identitäten und einer europäischen Sichtweise zu tun hat. Beim ESC kann man weder in den Halbfinal-Runden, die es seit 2008 gibt, weil 2004 sehr viele neue Länder der EBU beigetreten sind, noch im Finale, das traditionell am Samstagabend stattfindet, für das eigene Land abstimmen. Während nach Fußballländerspielen, insbesondere nach denen von Europa- oder Weltmeisterschaften, Menschen mit Fahnen des eigenen Landes durch die Straßen laufen und bereits während des Spiels mit der eigenen Mannschaft mitfiebern, funktioniert der ESC geradezu anti-national. Man darf nicht für das eigene Land abstimmen. Das heißt, selbst wenn man innerlich den Beitrag aus dem eigenen Land unterstützt und hofft, dieser möge gewinnen, ist man gezwungen, sich auf die Beiträge der anderen Länder einzulassen, um seinen Favoriten zu ermitteln.
Ein europäischer Geschmack
Gerade aufgrund der Tatsache, dass es darum geht, den Geschmack eines möglichst breiten europäischen Publikums zu treffen, setzen die verschiedenen Länder seit einiger Zeit zunehmend Teams ein, die sich aus Komponisten mehrerer Länder zusammensetzen. Es geht nicht selten darum, eine Art europäischen Geschmack zu treffen. Um dies zu gewährleisten, wurde, um ein Beispiel zu nennen, beim diesjährigen deutschen Vorentscheid eine Neuerung eingeführt. Wurden bisher nur die Punkte einer Jury sowie die der Zuschauer*innen gewertet, um den deutschen Beitrag für den ESC zu ermitteln, hatte man in diesem Jahr eine dritte Jury eingesetzt, die aus 20 internationalen ehemaligen ESC-Jury-Mitgliedern bestand. Der Gewinner-Song Sister des Duos S!sters, eine Reaktion, wenn man so will, auf die #metoo-Debatte, in dem zu weiblicher Solidarität aufgerufen wird, wurde von einem internationalen Komponisten-Team geschrieben. Das bedeutet nicht, dass klassische Songs, die sich an nationalen Traditionen orientieren, keine Chance auf den Sieg beim ESC hatten: Man denke nur an die Griechin Helena Paparizou (Sieg 2005) oder die Türkin Sertab Erener (Sieg 2003), die klassische griechische bzw. türkische Elemente in ihre Songs integriert hatten, aber in den letzten Jahren konnte kein Song mehr gewinnen, der sich auf eine wie auch immer bestimmte musikalische Nationaltradition berief. Entweder gewannen extrem untypische Lieder (2017 Salvador Sobral für Portugal mit einer Art Wiegenlied, 2016 Jamala für die Ukraine mit einem fast schon experimentellen Stück über die Deportation ihrer Großeltern, Krimtartaren, durch das Sowjetregime im Jahre 1944), oder aber glattgespülter Euro-Pop, wie er in jedem Radio europaweit zu hören sein könnte (Måns Zelmerlöw 2015 für Schweden oder Ell/Nikki 2011 für Aserbaidschan). Aber egal ob experimentell oder Mainstream, es ist in den vergangenen Jahren der Versuch zu beobachten, Musik für den ESC zu produzieren, die weit über die eigenen nationalen traditionellen Geschmacksgewohnheiten hinausgeht.
Das Politische
Nun kann man vielleicht einwenden, dass das alles schön und gut und musikalisch sei, aber politisch irrelevant. Ich würde kontern: Auch oder gerade an sanften Themen kann sich eine imaginierte Gemeinschaft herausbilden. Die Bedeutung von sportlichen Wettkämpfen etwa hat Benedict Anderson als eminent wichtig für die Konstruktion eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls herausgearbeitet.7 Warum also sollte die synchron stattfindende Übertragung eines europäischen Musikwettbewerbs nicht das Gefühl übermitteln, diesen als Europäer*in anzuschauen? Aber man muss, um den politischen Gehalt der Veranstaltung zu bestimmen, nicht hier stehenbleiben.
Immer wieder in der Geschichte des ESC haben sich harte politische Debatten an ihm entzündet. Dies kann man zum Beispiel an Teilnahmeverweigerungen festmachen. 1969 nahm Österreich nicht am Wettbewerb in Madrid teil, um ein Zeichen gegen Franco zu setzen. Als Österreich 2014 den Sieg mit Conchita Wurst erzielen konnte, fühlte sich die Türkei angesichts eines singenden Mannes mit Bart und Abendkleid in der Entscheidung bestätigt, nicht mehr am ESC teilzunehmen. Das Land hatte bereits seit 2013 aus anderen Gründen nicht mehr am Wettbewerb partizipiert. Auch die Teilnahme Israels war bereits Grund für die Nichtteilnahme anderer Länder. Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien und Libanon, alles Mitglieder der EBU, haben aus Protest gegen Israel noch nie am Wettbewerb teilgenommen. Und der diesjährige ESC, der Mitte Mai aufgrund des im Vorjahr erzielten spektakulären Siegs der björk-haft ausgeflippten Netta in Tel Aviv stattfinden wird, wird von den üblichen Verdächtigen schon seit geraumer Zeit von Boykottaufforderungen torpediert.8 Dies ist umso bedauerlicher, als dass gerade bei einer Veranstaltung wie dem ESC der so oft reklamierte kulturelle Dialog stattfindet, wie der Auftritt der israelisch-jüdischen Sängerin Noa und der arabisch-israelischen Sängerin Mira Awad 2009 unter Beweis stellte, die ihren gemeinsamen programmatischen Titel There must be another way auf Hebräisch und Arabisch sangen.
Trash, Mainstream und experimentelle Musik
Ein häufig zu hörender Vorwurf gegen den ESC bezieht sich auf die Qualität der Songs. Jedes Jahr wundert man sich erneut, warum beispielsweise das Vereinigte Königreich zum ESC stets das schlechteste Stück schickt, das auf dieser sonst musikalisch so gesegneten Insel zu finden ist. Hier könnte man sich vorstellen, dass einige Länder stärker darauf achten sollten, wirklich die Besten zum Wettbewerb zu schicken und nicht das Mittelmaß. Wenn der Wettbewerb zu einem Wettstreit der wirklich Besten werden würde, könnte er noch weiter an Attraktivität gewinnen. Wobei zugegebenermaßen auf der anderen Seite die Mischung aus gähnender Langeweile, interessanten bis avantgardistischen Stücken, Euro-Mainstream und übersteigertem Trash auch den Charme des Events ausmacht. Der Trash ist von besonderer Bedeutung. Das Trashige des Events hat in LGTBQI-Kreisen, die zur größten Fanbase des Wettbewerbs gehören, schon immer eine gewisse Begeisterung ausgelöst, was auch gut ist, weil somit, wenn auch nur für einige Tage, die internationalen LGTBQI-Aktivist*innen zum Beispiel 2017 in Kiew, 2012 in Baku oder 2009 in Moskau sichtbar wurden, also in Städten, in denen eine Regenbogenfahne eine*n mitunter ins Gefängnis oder Krankenhaus bringen kann. Dennoch, wenn der Wettbewerb ein Wettkampf der Besten wäre, wenn also die halbgaren Produktionen durch mutigere Stücke ersetzt werden könnten, würden sich vielleicht noch mehr Europäer*innen dafür begeistern können.
Emotionale Integration
Häufig wird darüber gesprochen, dass die Institutionen der Europäischen Union nicht dazu geeignet sind, emotionale Integrationsleistungen bei den europäischen Bürger*innen in Gang zu setzen. Tatsächlich, Gefühle kollektiver Identität, so umstritten der Begriff auch sein mag, werden nicht durch Gesetze und Richtlinien konstruiert. Es sind Sagen, Märchen, Geschichten, historische Gründungsmythen, die so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln. Narrative, die auch emotional berühren. Und wenn es um emotionale Ansprache geht, wird bei den EU-Gegnern gern auch mal gelogen, man denke nur an die Kampagnen der Brexiteers, die sich einen feuchten Kehricht um den Wahrheitsgehalt der von ihnen (sogar auf Bussen) plakatierten Informationen geschert haben.9 Ein weiteres Beispiel: Derzeit gibt es ein europaweit florierendes Angebot der extremen Rechten, das mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit spielt. Zugehörigkeit aber impliziert auch immer jemanden, der oder die nicht dazu gehört. Und das aktuelle Angebot der Rechten zieht den Kreis der Teilnehmer der Gemeinschaften sehr eng, nämlich entlang nationalstaatlicher Grenzen und der Herkunft der Vorfahren bis in die dritte, vierte, fünfte Generation. Deshalb ja auch der Begriff der Pass-Deutschen, mit denen einige Rechtspopulisten in Deutschland sich selbst als „echte Deutsche“ abgrenzen und „die anderen“ als eben nicht „echte Deutsche“ stigmatisieren. Europa muss jetzt (!) ein Gegenangebot machen, ein inklusiveres, offeneres und liberaleres – aber eben auch emotionales. Ein emotionaler Baustein zu diesem Gegenangebot könnte der ESC sein. Blicken wir noch einmal auf die Kriterien von Habermas zurück. Betrachtet man den ESC als ein Forum europäischer Öffentlichkeit, so haben mindestens alle Bürger*innen der EU (natürlich noch viel mehr Menschen) Zugang zu diesem Forum, sobald sie über ein TV-Gerät oder einen Internetanschluss verfügen. Die Freiheit der Themenwahl der präsentierten Lieder ist beinahe grenzenlos, und die Ermittlung der/s Sieger*innen verläuft gewaltfrei und über die Kraft der überzeugendsten Darbietung. Letztendlich ist die am ESC teilnehmende Öffentlichkeit einerseits national strukturiert, weil es Länder sind, die gegeneinander antreten, andererseits aber, wenn nicht supra- oder trans-, so zumindest international, weil man nie für das eigene Land abstimmen kann. Voraussetzung zur Bestimmung des besten Beitrags ist für jede/n Zuschauer*in die Auseinandersetzung mit den Präsentationen der (zuletzt) 43 Teilnehmenden.
Es wäre zu überlegen, ob nicht auch die Regularien für die Wahlen zum Europäischen Parlament sich an diesem Verfahren inspirieren könnten. Man würde befördern, dass sich die Parteien, die ihre Europa-Programme bislang stark an nationalen Interessen ausrichten, gezwungen wären, veritable europäische Themen auf die Agenda zu setzen. Man stelle sich nur einmal vor, es gäbe keine nationalen Kandidat*innen mehr für das Europäische Parlament, sondern wahrhaft supra-nationale Listen. Man stelle sich vor, man wählte nicht die CSV oder déi gréng, sondern direkt die EVP oder die Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz. Man stelle sich vor, das Europäische Parlament wäre wirklich ein Europäisches Parlament und nicht bloß die Summe verschiedener nationaler Abgeordneten, die sich mehr oder weniger erfolgreich in Fraktionen zusammenfinden. Könnte das nicht eine ganz neue Bindung der europäischen Wähler*innen an Europa in Gang setzen? Dass dies nicht bloß eine theoretische Idee ist, beweist das wirklich paneuropäische Beispiel Volt.
Zusammenrücken statt auseinander: In Vielfalt geeint
Im Jahr 2016 erhielt der ESC die Karlsmedaille für europäische Medien. In der Begründung für die Vergabe des Preises heißt es, dass Teilnehmer*innen und Zuschauer*innen durch den Wettbewerb einen Eindruck davon bekommen, was ein „gemeinsames Europa“ wirklich bedeuten könnte. „Ein Grenzen überschreitendes Europa, in welchem nationale Unterschiede nicht als negatives Element betont, sondern als bereicherndes Element herausgestellt werden, ein Europa, das die Menschen zusammenrücken lässt.”10 Klingt nach Sonntagsrede, aber manchmal hat der hohe Ton einer solchen Verkündung auch mehr als einen Funken Wahrheit in sich. Und die Begründung verweist auf das Europamotto, das im ESC bereits realisiert ist, in der EU leider noch ein Fernziel darstellt: In Vielfalt geeint.
Eine gute Entwicklung wäre in meinen Augen eine leicht emotionalisierte europäische Integration und ein ESC, der darauf bedacht wäre, noch mehr Zuschauer*innen vor die Schirme zu locken. Der ESC könnte etwas bewirken, was Effekte für europäische Zugehörigkeitsgefühle hätte, und dadurch könnte die Europäische Union interessanter für viele derjenigen werden, die in ihr nur noch ein Monstrum oder eine im besten Falle überflüssige, im schlimmsten Falle bedrohliche anonyme Gefahr sehen. Warum eigentlich, fragt man sich, nimmt Luxemburg nicht mehr an diesem Wettbewerb teil? Recht lang ist der letzte luxemburgische Auftritt her: Es war 1993, Jean-Claude Juncker war noch nicht Staatsminister, als das Großherzogtum zum letzten Mal beim Wettbewerb vertreten war – und zwar mit einer Band namens Modern Times. Als Argument für eine Nicht-Teilnahme führte RTL vor zwei Jahren noch einmal die Kosten und die Befürchtung an, ein kleines Land wie Luxemburg könne sowieso nicht gewinnen.11 Zu den Kosten, die v.a. dann hoch werden, wenn man als Sieger den ESC im Folgejahr organisieren muss, sei hier nichts gesagt. Die Leser*innen mögen sich ihr eigenes Bild machen angesichts der Gelder, die, um nur ein Beispiel zu nennen, in ein neues Fußballstadion gesteckt werden. Wer aber auch nur ein wenig Ahnung davon hat, was rezent in der luxemburgischen Musikszene passiert, man denke nur an Edsun oder Say Yes Dog oder auch an Karma (deren Songs nicht so weit entfernt sind vom portugiesischen Siegertitel aus dem Jahr 2017), fasst sich an den Kopf, wenn Bedenken hinsichtlich der Erfolgschancen auf einen möglichen Sieg geäußert werden. Wenn man, wie ich, davon ausgeht, dass der ESC ein Forum europäischer Öffentlichkeit darstellt, dann darf Luxemburg, der Motor, der Brückenbauer, der Mitbegründer der EU, nicht fehlen. Madame la Ministre, bitte übernehmen Sie!
- Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1990
- Ders., Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1981
- https://www.zeit.de/2001/27/Warum_braucht_Europa_eine_Verfassung_/komplettansicht, letzter Aufruf: 25. April 2019
- http://www.bpb.de/apuz/255613/gibt-es-eine-europaeische-oeffentlichkeit-forschungsstand-befunde-ausblicke?p=all, letzter Aufruf: 23. April 2019
- Das hat Oliver Kohns wenig optimistisch in der April-Ausgabe 2019 von forum getan: „Krise der Öffentlichkeit? Einige Überlegungen zur Situation der Medien in der Gegenwart”, in: forum 394, April 2019, S. 11–13.
- Die Informationen über die Geschichte des ESC stammen von den Seiten der Homepage https://www.eurovision.de, letzter Aufruf: 23. April 2019, sowie aus Matthias Breitinger, Europe – 12 Points! Die Geschichte des Eurovision Song Contest, Hamburg, Atlantik, 2016
- Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, Verso, 1983
- In Luxemburg etwa vom Comité pour une Paix Juste au Proche-Orient, https://paixjuste.lu/eurovision-2019-pas-en-israel-pas-au-pays-de-lapartheid, letzter Aufruf, 23. April 2019
- https://www.spiegel.de/politik/ausland/brexit-faktenchecker-von-infacts-entlarven-die-350-millionen-luege-a-1099198.html, letzter Aufruf: 24. April 2019
- https://medaille-charlemagne.eu/wp-content/uploads/sites/16/2016/03/Begruendung-Kuratoriumn-ESC.pdf, letzter Aufruf: 23. April 2019
- https://eurovoix.com/2018/07/21/luxembourg-rtl-tele-letzebuerg-rules-out-eurovision-return-in-2019, letzter Aufruf: 24. April 2019
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
