Eigentlich muss man erstaunt sein, wie nachhaltig unsere sich für durchaus „säkular“ haltende Gegenwart an ursprünglich religiösen, mythologischen und theologischen Vorgaben als kaum verhüllten Prämissen festhält, wenn sie über die Zukunft nachdenkt. Zwei solche deutlich sichtbaren und anscheinend unvermeidlichen Tiefen-Komponenten in den einschlägigen Diskursen von heute stammen aus der Genesis: dass wir uns in einer Welt befinden, die Gott einrichtete, um von den am siebten und letzten Tag seines Werks geschaffenen Menschen bewohnt zu werden (und die mithin ohne Menschen ihre Funktion und ihren Sinn verlieren müsste); aber auch dass die Menschen das Privileg eines erfüllten Lebens in dieser Welt durch eine langfristig wirksame „Erbsünde“ verspielt haben. Das dritte im Umlauf befindliche Motiv geht – unmittelbar zumindest – eher auf die um 1800 entstandene „Geschichtsphilosophie“ zurück, die allerdings nach Meinung nicht weniger Fachleute ihre Struktur und ihre zentralen Implikationen von der Tradition der christlichen „Heilsgeschichte“ geerbt hat. Es liegt in der Annahme, dass Menschen – mythologisch gesprochen – grundsätzlich imstande sind, sich von den Konsequenzen der Erbsünde zu erlösen und deshalb – existentialistisch formuliert – zu einem Status des Glücks zurückzukehren, um dessentwillen sie leben.
Neuer Glaube
Welche expliziten – teils post-mythologisch, teils post-theologisch konkretisierenden – Äquivalente entsprechen nun diesen Vorgaben? Die neue Version des Glaubens an unsere kosmologisch ausschlaggebende Stellung liegt in der meist stillschweigend, aber doch fast ausnahmslos geltenden Implikation von Beiträgen zur Debatte um das Anthropozän, nach der – im Unterschied zu allen anderen Gattungen des Lebens – den Menschen ein unbegrenztes Verweilen auf dem Planeten Erde prinzipiell möglich (wenn auch nicht garantiert) sein soll. Möglicherweise handelt es sich hier um eine Umkehrung des Mythologems, dass die Welt für die Menschen geschaffen sei und also ohne sie ihren Sinn verlöre. Als Nachfolger der „Erbsünde“ fungieren die in ihrer historischen Ausdehnung variierenden Listen der von Menschen verursachten Schäden an der Biosphäre, für die ihnen oft eine moralische Verantwortung unterstellt wird – so als seien zum Beispiel Ingenieure oder Industrielle des neunzehnten Jahrhunderts kognitiv ausgerüstet gewesen, alle ökologischen Konsequenzen ihres Handelns abzusehen. Der geschichtsphilosophische Optimismus des Fortschrittszeitalters schließlich hält sich im Restbestand der Annahme, dass die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen ausreichen sollen, um seine Umweltprobleme (im weitesten Sinn) zu erfassen, zu analysieren und in Überlebenslösungen umzusetzen. Aus dieser Perspektive scheint etwa eine angemessene Reaktion (was immer dies genau heißen könnte) auf die Erderwärmung nichts als eine Frage des kollektiven guten Willens zu sein.
Die Unwahrscheinlichkeit des Lebens
Gegen die sich als säkular verstehenden Äquivalente einer religiösen Weltsicht, lassen sich nun polemisch – und trotz aller interner Divergenzen im Detail – Grund-Elemente des einschlägigen Forschungs- und Reflexionsstands in den Naturwissenschaften setzen. Statt „Ziel“ oder „Zentrum“ des Universums (und einer ihm unterstellten „Entwicklung“) zu sein, werden das menschliche Bewusstsein und im Regelfall auch das „Leben“ schlechthin als Ergebnisse einer hochgradig unwahrscheinlichen Ereignis-Folge gesehen, mit der sie sich von der reinen Materie und ihren Prozessen abgesetzt haben. Als noch unwahrscheinlicher als die Entstehung von Leben und Bewusstsein gilt allein deren (kosmologisch gesehen) langfristige Fort-Existenz (ihr Über-Leben) auf dem Planeten und im Universum. Statt die den Menschen zugeschriebenen „Umweltschäden“ moralisierend zu interpretieren, verstehen viele Naturwissenschaftler sie zweitens als eine unvermeidliche (wenn auch in den einzelnen Konkretisierungen vielleicht zufällige) Folge ihrer kosmologischen Exzentrik. Und drittens wirkt aus dieser Perspektive das Vertrauen in die Problemlösungskapazität des menschlichen Bewusstseins nicht nur wie eine Erinnerung an den allgütigen Schöpfergott (der seine Kreaturen natürlich nicht im Stich des ökologischen Dunkel belassen hätte) – sondern wird durch die Erfahrung der Naturwissenschaften von den Grenzen der eigenen Reichweite auch ganz praktisch und sehr drastisch dementiert.
Wer Biologie, Chemie und Physik einen verbindlichen Realismus-Anspruch im Vergleich zu den oft leidenschaftlichen Diskussionen in der Wolke „ökologischer Ethik“ zugesteht, braucht sich also mit Fragen der Ver-Ewigung der Menschheit auf der Erde oder im Universum gar nicht mehr zu befassen. Den Impuls eines (mehr oder weniger) kollektiven Willens oder einer Sehnsucht in diese Richtung mag man – diesseits des Geredes im Greta-Ton von „der Erde, die wir nur von unseren Kindern geborgt haben“ – als Vitalitäts-Symptom der Gattung „Mensch“ hinnehmen (ohne je wissen zu können, ob vergleichbare Energien bei anderen Gattungen des Lebens existieren). Als allein realistisch im Blick auf unsere Zukunft verbleiben jedenfalls Fragen des Vergleichs zwischen den von ökologischer Ethik geforderten Opfern und ihren denkbaren, vergleichsweise kurzfristigen Wirkungen. Lohnt es sich wirklich, den gegenwärtigen und kommenden Generationen allerhand Einschränkungen (zwischen Flugverboten und veganer Ernährung) abzuverlangen oder gar aufzuerlegen? Und selbst wenn sich die Konsequenzen solcher Maßnahmen schärfer kalkulieren ließen, als dies anscheinend der Fall ist: Wollen wir die von ihnen umschriebene neue menschliche Existenz – zumal in Erinnerung an ihre opulenteren Versionen in der Vergangenheit der Zukunft – überhaupt leben?
Wie abtreten?
Angesichts solcher Probleme taucht – unter gegenüber ökologisch naiven Zeiten veränderten Bedingungen – die Option wieder auf, möglicherweise die gegenwärtig dominanten menschlichen Lebensweisen bestehen zu lassen. Nicht etwa, weil man wie Donald Trump (der Präsident des Landes, dessen Bürger ich bin, ohne ihn gewählt zu haben) die Folgen dieser Lebensweisen leugnen wollte, sondern weil der Gewinn ihrer Umstellung wahrscheinlich sehr knapp bemessen wäre. Die vorerst peripherste Frage hieße dann, ob und wie man sich den – wohl unvermeidlichen – Abtritt der Menschheit von der Erde als einen „Abtritt in Schönheit und Würde“ (oder gar als eine ekstatische Feier in das Ende) vorstellen könnte – und sie hat tatsächlich einen ästhetischen Unterton. Gewiss steht keine Außen-Instanz zur Verfügung, von der aus sie mit Anspruch auf Objektivität oder gar Konsensus zu diskutieren oder zu beantworten wäre. Aber vielleicht ließe sich ja ein Mehr an Qualität für das verbleibende Leben gewinnen, wenn man dank Perspektiven dieser Art wieder eine Distanz der Reflexion und der Gelassenheit gewänne im Verhältnis zu immer hektischeren Verschreibungen der Lebensbeengung und zu immer strengeren Exerzitien wechselseitiger Durchmoralisierung. In dieser Perspektive wäre unser Abgang zumindest ein schöner.
Solche Gedanken mache ich mir ganz ohne normative Ansprüche – und noch weniger unter der Illusion, mit ihnen breite Beistimmung „erheischen“ zu können (wie es Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft bezüglich des Konsensus im ästhetischen Urteil formulierte). Eher treibt mich die Überzeugung, dass es dem Reden und Schreiben in den Geisteswissenschaften obliegt, festgefahrene und deshalb nicht mehr produktive Diskussionen durch die Erfindung „riskanter“ Alternativen wieder in Gang zu bringen.
Eine naturwissenschaftliche Alternative dieses Typs gegenüber dem existierenden Forschungskonsens deutet sich übrigens – vor dem Hintergrund der radikalen Unwahrscheinlichkeit des Menschheitsüberlebens – in dem Buch What is Life? der Biologin Lynn Margulis an. Sie zieht in Erwägung, dass den Menschen bei der Erhaltung vielfältiger Formen von Leben auf dem Planeten eine Rolle zukommt, auf welche das Leben schlechthin nicht verzichten kann. Gibt es also doch wieder Gründe für die Hoffnung auf unser langfristiges planetarisches Überleben? Gewinnt es vielleicht wieder einen Grad an Wahrscheinlichkeit? Falls die Antwort Ja hieße, führte sie nicht notwendig zu Trennmüll-Ethik und anderen normativen Verschreibungen.
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