- Kultur
Abseits von den sanierten Palästen der Hochkultur
Städte wie Esch strotzen vor kultureller Diversität. Doch was nicht zur etablierten Hochkultur gehört, wird von der Politik nicht gefördert und scheint nicht gewollt. Der Slogan „Kultur für alle“ war bisher nur eine leere Floskel. Das muss sich ändern.
Sie wolle „Menschen einbeziehen, die auf den ersten Blick kulturferner sind“, sagte Kulturministerin Sam Tanson (Déi Gréng) im Juli 2022, als sie Umfragewerte zur Museumspraxis in Luxemburg vorstellte. „Kultur und Kreativität für alle“ – so lautet folgerichtig der Slogan der Grünen im Wahlprogramm 2023. Schade nur, dass diese eigentlich wichtige Forderung in ihrer endlosen Wiederholung in Luxemburg zur blanken Floskel geworden ist.
Denn „Kultur für alle“ war bereits das erklärte Ziel des Kulturministers der vorherigen Legislaturperiode, Xavier Bettel (DP). Davor hatte Jean-Claude Juncker (CSV) in seiner Regierungserklärung 2009 versprochen, Kultur „wäert an Zukunft fir jiddwereen do sinn“. Selbst als Octavie Modert 2004 Staatssekretärin für Kultur wurde, stand die Losung im Koalitionsvertrag. Der Anspruch ist so universell, dass er seit diesem Jahr sogar als Staatsziel in der neuen luxemburgischen Verfassung steht: „Der Staat garantiert den Zugang zur Kultur und das Recht auf kulturelle Entfaltung“ (Artikel 42). Jede*r will also Kultur für alle, und offenbar wird niemand müde, das zu betonen.
In der Praxis scheitern die meisten Parteien jedoch schon daran, die Lage überhaupt zu verstehen. Dabei hätte der Wink mit dem Zaunpfahl kaum deutlicher ausfallen können: Die von Tanson in Auftrag gegebene Studie1 hatte erfasst, dass die Anzahl der Museumsgäst*innen im letzten Jahrzehnt zwar leicht gestiegen ist. Im Jahr 2020 gaben jedoch ganze 40 % der Luxemburger*innen an, nicht ins Museum zu gehen. Wenig überraschend: Es handelt sich dabei vorrangig um Menschen mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungsgrad. 43 % derer, die nicht ins Museum gehen, gaben als Begründung an: „Das ist nicht mein Universum“.
Solange die Kulturpolitik einen solchen Schlüsselsatz nicht ernst nimmt, wird sie ihrem erklärten Ziel wohl nicht näher kommen. Die gute Absicht wird nichts helfen, wenn sie das Pferd auf Biegen und Brechen von hinten aufzäumen will. Statt die Gäste passend zu machen, sollte die Kulturpolitik das Angebot anpassen. Statt Menschen als „kulturfern“ einzuordnen, sollte sie erkennen, wo die Kultur menschenfern ist.

Denn ein Museumsangebot, das vor allem dem Bildungsbürgertum zur Selbstbestätigung und Distinktion dient, bildet nicht die Lebensrealitäten der Bevölkerung ab. Das neue „Spektrum“ in Rümelingen lockt mit dem Trendbegriff „Immersion“ zu „kreativ-touristischen Erlebnissen“, der Konschthal-Direktor Christian Mosar will „die Manifesta nach Esch holen“2, und das Casino Luxembourg schwebt irgendwo zwischen „Luxembourg Art Week“ und NFTs. Millionen von Euros fließen in immer mehr sanierte Paläste der Hochkultur. Doch für wen eigentlich?
Kunst in Luxemburg ist oft nur der kulturelle Ausdruck einer privilegierten Minderheit: Als kulturpolitischer Erfolg gilt, dass auch die Kunst von luxemburgischen Künstler*innen wie Michel Majerus im Mudam oder die von Tina Gillen in der Konschthal hängt. Das ist im Grunde auch begrüßenswert. Jeder Cent ist bei der Hochkultur besser aufgehoben als etwa im Militärbudget. Problematisch ist dagegen, dass es daneben kaum Raum für anderes gibt – weder für den kulturellen Ausdruck der weniger Privilegierten, der migrantischen Kulturvereine und Initiativen noch für die kulturelle Praxis der jüngsten Generationen. Denn dafür wird kein Budget zur Verfügung gestellt. Somit gibt es überhaupt keine Strategie, um „Kultur für alle“ in der Realität umzusetzen.
Würde die DP die Situation
weiter verschlimmern?
Von Sam Tanson als grüner Politikerin hätte man erwarten dürfen, dass sie einen Paradigmenwechsel einläutet. Nach den desaströsen Auftritten der DP mit Kulturministerin Maggy Nagel, Kulturstaatssekretär Guy Arendt und später Xavier Bettel als Minister hätte es eigentlich nur besser werden können. Die ernüchternde Bilanz dieser Hoffnung lautet jedoch: Da war viel Fassade und wenig Substanz. Tanson bewegt sich in ihrem Ministerium wie in einem Streichelzoo und agiert wenig radikal.
Klar, den Kulturentwicklungsplan, eine Ansammlung an Selbstverständlichkeiten und Reförmchen, arbeitete sie brav ab. Auch vereinzelte Maßnahmen zur Kulturförderung und zur Unterstützung professioneller Kunstschaffender erwirkte sie. Tanson war präsent, führte neue Preisverleihungen ein und zeigte ehrliches Interesse. Es scheint sogar einen Konsens zwischen den Parteien zu geben, wonach es einen weiteren Kulturentwicklungsplan in Zusammenarbeit mit den Aktiven des Kunstsektors geben soll. Dieser Katalog soll auch für die nachfolgenden Regierungen richtungsweisend sein.
All das klingt positiv. Letztlich wird damit aber nur die Vormachtstellung der Etablierten und Profiteur*innen des aktuellen Systems verfestigt.
Selbst das um 26 % erhöhte Kulturbudget, das sich Tanson kämpferisch als Erfolg auf die Fahnen schreibt3, ist mit Vorsicht zu genießen: Luxemburgs Gesamtbudget ist in dieser Legislaturperiode nämlich um rund 49 % gestiegen. Damit ist der Anteil des Kulturbudgets prozentual gesehen sogar auf einem historischen Tiefpunkt: lediglich 0,7 % des Staatsbudgets gehen in Luxemburg an die Kultur.
Natürlich könnte es in einer zukünftigen Regierung viel schlimmer kommen. Sollte sich zum Beispiel die DP wieder ins Kulturministerium einbringen, dann wird sie das verfassungsrechtlich definierte Staatsziel wohl nicht nur verfehlen, sondern sich davon sogar noch mehr entfernen. Tatsächlich hat die DP gute Chancen, immerhin schickt sie für die Parlamentswahlen kulturpolitische Schwergewichte ins Rennen: die ehemalige „Esch2022“-Direktorin Nancy Braun, der Ex-Kulturstaatssekretär Guy Arendt, der Escher Kulturschöffe Pierre-Marc Knaff, die Choreografin Sylvia Camarda, die hauptstädtische Bürgermeisterin und dortige Kulturverantwortliche Lydie Polfer, sowie der Ex-Kulturminister und aktuelle Staats- und Medienminister Xavier Bettel.
Die DP scheint sich zur erneuten Übernahme des Kulturressorts also in Stellung zu bringen. Dort könnte sie großen Schaden anrichten. Denn es geht ihr weniger um Teilhabe als um eine erweiterte Einflussnahme der Partei. Dass dieses Szenario durchaus möglich ist, zeigt ein Blick zurück: Mit der Abkopplung des Medienministeriums vom Kulturministerium trennte die DP einst die Populärkultur von der Hochkultur. Zugleich sollten offensichtlich auch die Machenschaften des DP-Politikers Guy Daleiden im Filmfonds gedeckt werden, wie Reporter berichtete.4
Die Kultur bei der DP und ihren Verbündeten aus Politik und Wirtschaft würde genau zu jenem werden, als was Sam Tanson es nicht wahrhaben will: einem Instrument der Distinktion. In dieser Logik gilt es, die reiche Klientel ins Land zu ziehen und den Standort Luxemburg für sie attraktiv zu machen. Kunst wird damit zur Aufwertung eingesetzt – und bringt in dieser Funktion unvermeidlich Verdrängung und Gentrifizierung mit sich. Das passiert heute schon – die DP-Politik würde das Problem aber verschärfen. Kultur ist dann nicht mehr nur ein Mittel der Selbstbeweihräucherung von Gutbetuchten, sondern bewirkt darüber hinaus eine reale Verschlechterung der sozioökonomischen Situation aller anderen.
So präsentiert etwa die Beratungsfirma PWC ihren neuen, hochqualifizierten Mitarbeiter*innen das Leben in Luxemburg zuerst mithilfe der Kulturangebote – etwa über eine Kooperation der Firma mit dem Mudam. Kulturstätten werden zu Locations für Firmenfeiern und Werbeauftritte, Kunst zur direkten Wertanlage. Im Freeport am Luxemburger Flughafen lagern teure und bekannte Kunstwerke, damit ihre Besitzer*innen sie Jahre später gewinnbringend verkaufen können. Fernab von jedem Publikum dienen sie ausschließlich der Finanzspekulation. Deloitte, eine weitere Beratungsfirma, spezialisiert sich mittlerweile sogar auf die Sparte „Art and Finance“.
Dieser kommerzialisierte Kulturbegriff trat besonders deutlich zutage, als Luxemburg 2021 unter Leitung der ehemaligen DP-Kulturministerin Maggy Nagel an der Weltausstellung in Dubai teilnahm. Erklärtes Ziel des Groupement d‘Interet Economique, welches die luxemburgische Präsenz leitete, waren die Festigung und der weitere Ausbau der Geschäftsbeziehungen.5 Das gab Kulturministerin Sam Tanson nach einer parlamentarischen Anfrage6 auch relativ unverhohlen zu. Tatsächlich haben Luxemburg und Dubai gemeinsam, dass sie weniger für ihre subversive und international strahlende Kunstszene bekannt sind als für ihre zweifelhafte Rolle als Steuerfluchtoase. Kultur wurde hier zum Werkzeug der Image-Aufpolierung. Sie verleiht dubiosen Geldflüssen einen Hauch von Völkerverständigung mit Friede-Freude-Eierkuchen-Geschmack.
„Esch2022“: Eine vertane Chance
für die Kulturpolitik
Wie fehlgeleitet eine derart orientierte Kulturpolitik ist, zeigte sich im Kulturjahr „Esch2022“ eklatant. Eigentlich boten die beachtlichen Budgets eine große Gelegenheit: Esch ist die Stadt mit den schwächsten Einkommen und den niedrigsten Abschlüssen im Land. Bis Ende der 60er Jahre war es eine Stadt der Bergarbeit, bis in die 90er Jahre und teilweise noch heute ein Sitz der Stahlindustrie. Über Jahrzehnte zog Esch viele Gastarbeiter*innen an: Die migrantischen Arbeiter*innenfamilien und ihre neuen Generationen bilden die Mehrheit der Escher Bevölkerung.
Ihre Geschichten bieten viel Stoff für künstlerische Auseinandersetzung: es gibt die Kulturen aus den vielen Herkunftsländern dieser Menschen, die neu entstandene Kultur der Diaspora, die Jugendkulturen. Esch strotzt – wie viele andere Städte im Land – vor unterdrückter kultureller Diversität. Zusätzlich wächst ein unglaubliches kreatives Potenzial in den Kunstsektionen, im Lycée des Arts et Métiers und bei den über 1600 Studierenden heran, die laut Cedies (2022) zurzeit in Fächern der Beaux-Arts & Audiovisuel eingeschrieben sind. Das sind mehr als im Fach Informatik.
Die Institutionen erkennen den kulturellen Ausdruck jedoch nicht an, fördern ihn nicht, und scheinen ihn auch nicht zu wollen. Die nachhaltige und substanzielle Förderung von lokalen Kulturvereinen und deren Unterbringung in guten Räumlichkeiten, der Aufbau von Volkshochschulen, ein Museum für Migrationsgeschichte, eine echte Unterstützung junger Kreativer – es gäbe so viele Möglichkeiten für eine breite Kulturförderung. Doch nichts davon scheint derzeit beabsichtigt.

Stattdessen flossen die Millionen des Budgets von „Esch2022“ hauptsächlich in eine überdimensionale Werbeshow7 für den Standort Belval. Das Escher Gemeindebudget wiederum kam hauptsächlich der Konschthal zugute, einem neuen und hochkarätigen Museum für moderne Kunst. Und der Escher Kulturschöffe Pierre-Marc Knaff nutzt heute seine Rolle als Präsident der ASBL „frEsch“, um seine Vision einer „Biennale für Esch“ zu verwirklichen. Dabei schiebt er offenbar hohe Summen auf intransparente Art und Weise hin und her, wie die woxx8 berichtete: Bis heute hat die Öffentlichkeit keine Einsicht in die Bilanzen der ASBL und kann somit auch nicht navollziehen, wohin die hohen Fördergelder flossen.
Wem diese Kultur nicht zusagt, dem werden höchstens ein paar popkulturelle Mega-Events geboten, für die Besucher*innen dann aber bitte schön auch zahlen sollen. Die Reichen und Gebildeten spazieren gratis ins Casino Luxemburg, um die vermeintlich richtige, staatlich anerkannte Hochkultur zu konsumieren. Der Pöbel kann 150 Euro für den Drei-Tage-Pass der „Francofolies“ zahlen. Ein Kulturpass fürs Kino? Fehlanzeige. Der Abbau finanzieller Hürden bei Netflix oder Spotify? Ein vergünstigter Zugang zu Computerspielen? Nichts könnte den Verantwortlichen ferner liegen.
Denn sobald es um Kultur geht, die tatsächlich bei breiteren Gesellschaftsschichten präsent ist, zählt nur noch der freie Markt. Entsprechend kommerziell ist das kulturelle Angebot. Bauarbeiter*innen und Reinigungskräfte tragen mit ihren Steuern zwar zu den Millionen öffentlicher Subventionen für die „Francofolies“, für Kinofilme oder für die Netflix-Serie Capitani bei. Der Staat bietet eben diesen Leuten im Gegenzug aber kein auf sie zugeschnittenes Angebot und keine Reduzierung ihrer finanziellen Hürden.
Die Lösungen, die wir brauchen
Wie könnte ein ernsthafter Richtungswechsel aussehen? Die nächste Regierung müsste eine kulturpolitische Großoffensive starten. Das Medien- und Kulturministerium wieder unter einem Dach ansiedeln. Sie müsste schnellstens die Gründung eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders angehen, der ein Angebot für alle Bevölkerungsgruppen in Luxemburg bietet. Die zukünftige Regierung müsste die Filmförderung aus dem Geflecht der Vetternwirtschaft und der Co-Finanzierungen reißen und dafür sorgen, dass Produktionen für mehr Zugänglichkeit systematisch in mehreren Sprachen realisiert werden.
Es gilt, einen starken, lokalen Sektor praktisch neu aufzuziehen, der in den unterschiedlichsten Bevölkerungsteilen verankert ist – sowohl im Filmsektor als auch in anderen Kultursparten. Dabei sollte die Politik vor allem auf die jüngeren Generationen setzen: zwei- bis dreijährige Stipendien müssen her, um den kreativen Brain-Drain zu stoppen. Massiv in Kulturprojekte zu investieren heißt eben nicht, das bestehende Hochglanzangebot auszuweiten. Ja, das alles käme einem Paradigmenwechsel gleich. Doch genau den braucht die luxemburgische Kulturpolitik dringend.
1 https://mc.gouvernement.lu/fr/publications/rapport-etude-analyse/enquete-musees-liser-2022/le-public-des-musees-rapport-de-synthese.html (Alle Internetquellen, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 29. August 2023 aufgerufen).
2 https://www.land.lu/page/article/342/337342/DEU/index.html
3 https://www.youtube.com/watch?v=FMgqrNkn09U
4 https://www.reporter.lu/luxemburg-missstaende-beim-film-fund-filmbusiness-as-usual/
5 https://www.cc.lu/de/agenda/detail/seance-dinformation-le-luxembourg-en-route-pour-dubai
6 https://wdocs-pub.chd.lu/docs/exped/0104/193/209932.pdf
Richtung22 ist ein junges Künstler*innenkollekitv und produziert satirische Filme und Theaterstücke. Auch mit Kunstaktionen, Installationen von Monumenten im öffentlichen Raum, Kampagnen und Aktionen äußert das Kollektiv Kritik und stößt Diskussionen an. Richtung22 will polarisieren, um Probleme sichtbar zu machen und Kunst aus ihrem musealen Rahmen zu rütteln.
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