„Just because you’re paranoid“
Zur Logik der Verschwörungstheorie
Kein gravierendes politisches Ereignis, das nicht umgehend von einer Vielzahl von Verdächtigungen, Vermutungen und Gerüchten begleitet würde. Die ‚offiziellen‘ Wahrheiten über entscheidende Vorgänge der jüngeren Geschichte — wie das Attentat auf John F. Kennedy 1963, die Mondlandung im Jahr 1969, der Anschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna im Jahr 1980, der Anschlag auf das Münchner Oktoberfest im selben Jahr, die Anschläge vom 11. September 2001 — blieben nicht lange unangezweifelt. Zeitungsartikel, Internetseiten, Romane, Sachbücher, TV-Serien und Filme überbieten sich in der Produktion von alternativen Szenarios, in denen die Vorgänge wahlweise das Ergebnis finsterer Planungen waren und/oder gar nicht stattfanden. Verschwörungstheorie
ist zum Oberbegriff für all diese Narrative geworden, die ‚hinter‘ der sichtbaren Bühne des massenmedial sichtbaren Geschehens eine verborgene Ebene enttarnen und postulieren (bzw. fingieren). Insofern Verschwörungen per definitionem geheim und unsichtbar sind — eine Gruppe von Menschen innerhalb einer sozialen Organisation bildet gewissermaßen eine Sub-organisation mit Zielen und Plänen, die in der Regel der umgebenden politischen Welt zuwiderlaufen —, sammelt der Verschwörungstheoretiker Indizien, um aus Elementen eines Rätsels die Komplexität eines Geheimnisses herauszulesen.
Nun ist der Begriff ‚Verschwörungstheorie‘ keineswegs neutral: Kaum ein Verschwörungstheoretiker würde sich selbst so bezeichnen, denn bereits das Wort impliziert eine Abwertung. In der kulturwissenschaftlichen Reflexion über Verschwörungstheorien wird oft vorausgesetzt, dass diese stets ausschließlich über erfundene bzw. fälschlich angenommene Verschwörungen sprechen. Im Gegensatz zur „Realgeschichte der Verschwörung“ — d.h. den raren tatsächlichen Verschwörungszusammenhängen — gehörten Verschwörungstheorien „zum Bereich des Imaginären oder allenfalls des Konjekturalen“,1 heißt es. Das würde bedeuten, dass alles Sprechen über Verschwörungen notwendigerweise auf bloßen Vermutungen, Illusionen oder Einbildungen beruhen würde: Jede Verschwörungstheorie wird so von vornherein als Produkt einer halluzinierenden Phantasie vorverurteilt. Die kulturwissenschaftliche Analyse erklärt Verschwörungstheorien entsprechend regelmäßig durch die psychoanalytische Kategorie der Paranoia,2 als könnte nur Verfolgungswahn Verschwörungen aushecken. Mitunter wird in der Forschungsliteratur sogar gefordert, auf den Begriff ‚Verschwörungstheorie‘ zu verzichten, um stattdessen von ‚Verschwörungsideologie‘ oder ‚Verschwörungsmythos‘ zu sprechen.3 Die Verschwörungstheorie wäre dann von vornherein ein Diskurs der Halbgebildeten und ‚Spinner‘: „Der Verdacht des Wahns geht durch alle Bücher“,4 wie Manfred Schneider schreibt.
Man sollte der Versuchung widerstehen, Verschwörungstheorien von vornherein nur als mythische Fabeleien oder klinischen Wahn zu verurteilen. Häufig wird Verschwörungstheorien entgegengehalten, es fehle ihnen an Sinn für die Kontingenz des historischen Geschehens, d.h. für dessen Nicht-Notwendigkeit und Zufälligkeit.5 Während die ‚offiziellen‘ Erklärungen von historischen Ereignissen oftmals ein hohes Maß an Zufälligkeit voraussetzen — das beste Beispiel ist vielleicht die ‚Einzel-
täterthese‘ zum Kennedy-Attentat —, insistiert die Verschwörungstheorie auf Nicht-Kontingenz: auf verborgenen (wenn nicht sogar versteckten) Zusammenhängen und geheimen Intentionen. Dieser Unterschied erklärt zu einem großen Teil die allgemeine Popularität von Verschwörungsgeschichten, -mythen und -theorien. Bereits im Gründungsdokument der Literaturtheorie — in Aristoteles’ Poetik — wird festgehalten, dass literarische Fiktionen im Unterschied zu historiographischen Abhandlungen ein „eigentümliches Vergnügen“6 bereiten, weil sie eine ästhetische Struktur besitzen. Während der Text des Historikers die tatsächlichen Geschehnisse zu dieser oder jener Zeit aufschreibt, die „in einem rein zufälligen Verhältnis stehen“7 und also in einem ästhetisch unbefriedigenden Unzusammenhang, folgt der literarische Text einer inneren Logik und Wahrscheinlichkeit und präsentiert eine abgeschlossene, von Zufälligkeit gereinigte Handlung.
In diesem Sinn präsentiert die ‚offizielle‘ Tatversion der Ereignisse in Dallas 1963 ‚Geschichte‘ und die Verschwörungsnarrationen ‚Literatur‘: Nicht erstaunlich, dass nur eine Minderheit an den Einzeltäter Lee Harvey Oswald und den zufällig vor Ort befindlichen Einzeltäter Jack Ruby glauben, während bis heute etwa 80 Prozent der Amerikaner überzeugt sind, dass Kennedy einer Konspiration zum Opfer gefallen ist — und entweder vom FBI, der CIA, den Exilkubanern, der Mafia, den Illuminaten oder dem KGB ermordet worden sei.8 Es ist nicht so, dass der Glaube an die Verschwörungszusammenhänge ‚einfacher‘ wäre als der Glaube an Zufälligkeiten und Unzusammenhänge — im Gegenteil, die Verschwörungsnarration ist stets vielfach komplexer. Die Verschwörungsnarration bringt nicht nur Ereignisse in Verbindung, die zuvor nicht im Zusammenhang gesehen wurden, sondern sie lenkt ihre Aufmerksamkeit auch auf „Datenunregelmäßigkeiten“, d.h. auf Ereignisse, die im Rahmen der ‚offiziellen‘ Wahrheiten nicht adäquat erklärt werden können. Das ist nicht einfach die Methode des klinischen Wahnsinns, sondern exakt auch die der wissenschaftlichen Innovation, die sich in der Geschichte der Wissenschaften immer wieder an Datenunregelmäßigkeiten abarbeitete, um Dinge in einem neuen Zusammenhang erklären zu können.9
„Die ganze Geschichte der Wissenschaften und der Technik mußte neu gelesen werden“,10 lautet ein Satz aus Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel (1988), der auch als Motto in Dan Browns Illuminati (2003) funktioniert hätte. Dieser Satz fasst in gewisser Weise Anspruch und Methode der Verschwörungstheorie zusammen: „Theorie“ bedeutet hier eine spezifische Perspektive, um einen Datenkorpus neu zu interpretieren, damit sich bislang für Zufall Gehaltenes als Teil einer Indizienkette, eines großen Zusammenhangs offenbart und die Formulierung einer zugespitzten These möglich wird. Die Verschwörungstheorie formuliert so einen kategorischen Lektüreimperativ: Alles muss neu gelesen werden. Dieser Imperativ bringt Kuriosa hervor wie irrwitzig-paranoide Webseiten, die aus der Symbolik auf der US-amerikanischen 1-Dollar-Note das Programm zur Errichtung der Weltherrschaft durch die Illuminaten herausdechiffrieren.11 Diese eigentümlichen Lektüremaschinerien der Verschwörung sind gewissermaßen Öbersteigerungen der hermeneutischen Vernunft — welche immer schon befähigt war, eine „ganze Landschaft aus einer Saubohne herauszulesen“.12 Darin zeigt sich eine strukturelle Verwandtschaft zwischen Verschwörungstheorie und Humanities, die es nicht erlaubt, die eine Seite kategorial als ‚Unvernunft‘ auszusortieren.
Zwischen „wahren Komplotten“ und „imaginären Komplotten“ lässt sich demgemäß nicht so klar unterscheiden, wie es in der kulturwissenschaftlichen Analyse von Verschwörungstheorien oftmals schlicht vorausgesetzt wird.13 Dafür lassen sich zwei Gründe benennen.14 Erstens ist es nicht immer einfach zu entscheiden, ob eine gegebene Verschwörungstheorie zur einen oder zur anderen Seite der Unterscheidung gehört. Es gibt Fälle, die innerhalb der wissenschaftlichen community einstimmig als historisch ‚wahre‘ Verschwörungen (wie diejenige zur Ermordung Julius Cäsars oder die als Watergate-Skandal bezeichnete) bzw. als Ergebnisse eines paranoiden Phantasmas kategorisiert werden (wie die antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“). Es gibt allerdings auch Fälle wie das Attentat auf John F. Kennedy, bei dem die Existenz einer Verschwörung trotz (oder aufgrund) einer unermesslichen Fülle von Dokumenten, Berichten, Studien und Beweisführungen auf ewig unentscheidbar bleibt.15 Die sechsundzwanzig Bände der Warren-Kommission sind inzwischen, Norman Mailers Bonmot zufolge, zum „talmudischen Werk Amerikas“ geworden, das nicht mehr um neue Beobachtungen ergänzt werden kann, aber immer wieder neue Kommentare und Interpretationen herausfordert.16 Eine allgemein anerkannte Wahrheit wird sich so immer weniger finden.
Genau darin liegt ein produktives Moment von Verschwörungstheorien. Es wird Zeit, Verschwörungstheorien nicht mehr primär durch intellektuelle Schwächen zu definieren. So lässt es sich bestreiten, dass Verschwörungstheorien per se durch die Unfähigkeit, Kontingenz und Zufälligkeit im historischen Geschehen anzuerkennen, erklärt werden können. Verschwörungstheorien produzieren im Gegenteil eine spezifische Sorte an Kontingenz, indem sie nicht nur die Alternativlosigkeit der ‚offiziellen‘ Darstellungen anzweifeln, sondern diesen auch neue Narrationen entgegensetzen. Auch offizielle, behördlich zertifizierte Wahrheiten über politische Ereignisse können sich als unwahr herausstellen und sich somit ändern.17 Die Bombenanschläge in Italien zwischen den 1960er und 1980er Jahren wurden zunächst Linkextremisten zur Last gelegt. Seit den 1990er Jahren jedoch wurde erkennbar, dass die Planung dieser Anschläge bei rechtsextremen Gruppierungen lag, die in Verbindung mit der geheimen paramilitärischen NATO-Einheit Gladio/Stay Behind — deren Existenz der Ministerpräsident Giulio Andreotti erst 1990 einräumte — sowie der Geheimloge Propaganda Due agierten. Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass der Anschlag auf das Münchner Oktoberfest im Jahr 1980 nicht das Werk des Einzeltäters Gundolf Köhler war (wie die behördlichen Ermittlungsergebnisse besagen), sondern ebenfalls auf Gladio-Gruppierungen zurückgeht. Was zu einem früheren Zeitpunkt wie ein paranoider Verschwörungsmythos klingen musste, wurde ab den 1990er Jahren die offizielle Version zur Erklärung der Bombenanschläge. Dass die NSA einen gigantischen technologischen Apparat entwickelt, um buchstäblich die ganze Welt (inklusive der Regierungen verbündeter Länder) abzuhören, wurde bereits zuvor von Kritikern vermutet, aber erst durch Whistleblower wie Edward Snowden seit 2013 Teil der offiziellen Realität. Die frühere behördliche Wahrheit wurde in all diesen Fällen nun als verschleiernder Mythos entwertet, und die frühere Verschwörungstheorie als ‚real‘ anerkannt.
Der epistemologische Wert der Verschwörungstheorien liegt jedoch nicht nur in dem Umstand, dass sich manche von ihnen als ‚wahr‘ herausstellen können. Vielmehr werfen sie Licht auf die Konditionen, unter denen Zusammenhänge allgemein als wahr beurteilt werden. Sie rufen den gewissermaßen Nietzscheanischen Charakter politischer Wahrheiten in Erinnerung: Diese sind stets das Ergebnis von Mächteverhältnissen und niemals einfach objektive, unbestreitbare Tatsachen. Um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und ihre Arbeit zu legitimieren, sind die behördlichen Institutionen naturgemäß daran interessiert, für kritische Ereignisse wie terroristische Anschläge oder Attentate eine Erklärung zu finden, die nicht zu komplex ist und eine zeitnahe Wiederherstellung von ‚Gerechtigkeit‘ verspricht.18 Diesen behördlichen Tröstungen widerspricht die Verschwörungsnarration vehement und fordert ein Wiederaufnahmeverfahren ein. Ob zu Recht oder nicht: Im Namen einer unterdrückten Wahrheit und einer noch nicht gefundenen Gerechtigkeit insistiert sie, dass die wahren Schuldigen noch nicht benannt sind oder dass der eigentliche Skandal noch unaufgedeckt ist. Verschwörungstheorien produzieren so eine permanente Irritation der politischen Realität. Man mag einwenden, dass diese Irritation eine Affinität zum Phänomen der Paranoia aufweist. Nicht zuletzt die fiktionalen Reflexionen über Verschwörungstheorien weisen immer wieder auf diesen Zusammenhang hin: In aller Ambivalenz erscheint der Staatsanwalt Jim Garrison in Oliver Stones Film JFK als ein Patriot, der die amerikanische Politik von einer finsteren Verschwörung reinigen möchte, und zugleich als ein auf der Grenze des Wahns wandelnder Paranoiker. Dass Paranoia und Wahrheit sich nicht ausschließen, wusste indes bereits „Nirvana“: „Just because you’re paranoid / Don’t mean they’re not after you“, wie es im Song Territorial Pissings heißt.
1 Arno Meteling: „Verschwörungstheorien. Zum Imaginären des Verdachts“, in: Lutz Ellrich, Harun Maye und Arno Meteling: Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz. Bielefeld 2009, S. 179-212, hier: S. 180f.
2 Vgl. ebd., S. 185; Stephan Gregory: „Das paranoide Pendel. Wendungen des Verschwörungsdenkens“, in: Marcus Krause, Arno Meteling und Markus Stauff (Hrsg.): The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung. München 2011, S. 45-58.
3 Vgl. Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Neue Varianten eines alten Deutungsmusters. Münster 2005, S. 14.
4 Manfred Schneider: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft. Berlin 2010, S. 451.
5 Vgl. Kerst Walstra: „Die Verschwörungstheorie als Ordnungsprinzip im Informationszeitalter“, in: Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans und Kerst Walstra (Hrsg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg 2000, S. 99-111, hier: S. 103; Meteling: „Verschwörungstheorien“, S. 182.
6 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Öbers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 77.
7 Ebd.
8 Vgl. Schneider: Das Attentat, S. 427; Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Öbers. von Christine Pries. Berlin 2013, S. 358f.
9 Vgl. Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 369.
10 Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. Öbers. von Burkhart Kroeber. München 1989, S. 547.
11 Vgl. http://www.interessantes.at/dollartrick/
dollar-symbol.htm (letzter Aufruf am 11. 6. 2015).
12 Roland Barthes: S/Z. Öbers. von Jürgen Hoch. Frankfurt a. M. 1998, S. 7.
13 Vgl. Walstra: „Die Verschwörungstheorie als Ordnungsprinzip im Informationszeitalter“, S. 101.
14 Vgl. Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 357.
15 Vgl. ebd., S. 358f.
16 Vgl. Schneider: Das Attentat, S. 455.
17 Vgl. Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 359f.
18 gl. Shoshana Felman: The Juridical Unconscious. Trials and Trauma in the Twentieth Century. Cambridge/Mass., London 2002, S. 2f.
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