Durch die Nutzung von Facebook liefern wir uns nicht nur aus und geben unsere privaten Daten preis, das Unglück im Zeitalter der Digitalisierung gründet auf einer mangelnden Selbst- und Weltkenntnis.

Wie Säuglinge, die bedürftig an der Mutterbrust saugen, hängen sie an ihren Smartphones und gieren sehnsüchtig nach „Likes“… Die oberflächliche Bestätigung hält den Trieb am Leben; wir vergeben den erhobenen Daumen als Sympathiebekundung oder wegen des vermeintlichen ‚Coolness-Faktors’ und tappen dabei in die Falle, selbst persönlichste Informationen preiszugeben, verkaufen unsere Daten billig.

Auf Facebook1 gerät das Selbstbild aus der Kammer des Innenlebens in die Öffentlichkeit – die Beziehungskrisen eines Mitglieds der Abgeordnetenkammer werden ebenso debattiert wie das Abdanken eines Jean-Claude Juncker. So kann man dem Facebook-Nutzer nicht vorwerfen, er würde sich nicht mit der Welt und sich selbst auseinandersetzen. Jedes noch so bedeutungslose Ereignis wird festgehalten und in Szene gesetzt. Das neue Haustier, die Beziehungskrisen, die neue RTL-Serie Capitani – Facebook ermutigt, all dies mit seinen „Freunden“ zu teilen.

Einerseits wird so alles im virtuellen Einheitsbrei der eigenen Pinnwand verrührt, andererseits weicht das ‚Theater der Intimität‘, in dem im frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Psychosen verhandelt wurden, einem demokratischen, enthemmten Umgang mit dem eigenen Innenleben. Dadurch, dass die Facebook-Freunde – im Gegensatz zum eigenen Freundeskreis – oftmals lose Bekanntschaften wie Arbeitskollegen oder frühere Schulfreunde sind, mit denen man weder eine politische Ideologie, noch kulturelle Interessen teilt, eröffnet sich zudem das Potenzial, Toleranz gegenüber all denen, die anders denken als man selbst, zu entwickeln.

Und trotzdem – oder gerade deswegen – gründet das Unglück im virtuellen Zeitalter auf einer mangelnden Selbst- und Weltkenntnis. Man klickt sich durch eine Seifenblasen-ähnliche Parallelwelt, die einen einsam zurücklässt. Trotzdem führt die vermeintliche Anonymität der Nutzer bei einigen dazu, jeden, der eine andere Weltsicht als die eigene verteidigt, aufs Übelste zu beschimpfen. Diese Intoleranz geht so weit, dass die Ankündigung, die Rieslingspaschtéit müsse auf der Weltausstellung in Dubai ohne Schweinefleisch auskommen, die Wut einiger Patrioten ausgelöst hat.

Bühne frei für Populisten

Polemik, Desinformation und Verschwörungstheorien ebnen zudem den Weg für Populisten. Facebook funktioniert über Fotos und Schlagzeilen. Dass Trolle auf Facebook und Twitter den Ausgang der letzten Präsidentschaftswahlen in den USA manipulierten, gilt mittlerweile als unbestritten. Auch in Luxemburg kam und kommt es zu peinlichen Informa­tionspannen – wenngleich von vergleichsweise geringer Tragweite. So gratulierte der damalige Kulturminister Xavier Bettel 2018 anlässlich der Vergabe des Prix Servais über Twitter dem falschen Autor. Er hatte Guy und Nico Helminger miteinander verwechselt. Headlines werden reproduziert, Falschnachrichten geteilt, Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft durch den Mix an aufgebauschtem Storytelling und öffentlichen Schuldzuweisungen zu Fall gebracht (Lunghi/Traversini). In dieser Konstellation können überlieferte nationalistische Erzählungen genauso gedeihen wie Verschwörungstheorien aller Art.2

Das Ende der Erfahrung

In Qu’est-ce que le contemporain ? entwickelt der italienische Philosoph Giorgio Agamben die These, dass wahre Zeitgenossenschaft eine Distanz zu den Geschehnissen voraussetzt. Um die gegenwärtigen Ereignisse zu verstehen, braucht es Reflexion, Bezüge zur Vergangenheit oder Parallelen zu ähnlichen Geschehnissen. Auf Facebook wird die Wirklichkeit nicht etwa a posteriori festgehalten – sie wird ungefiltert geteilt, noch während man sie erlebt. Facebook erlaubt „keine Differenz zwischen dem erlebenden und dem berichtenden Ich“.3 Ein Konzert wird via Smartphone-Kamera gefilmt, ein Buchblogger streamt ein Rundtischgespräch, noch während es stattfindet. In dieser Aufhebung der Distanz zwischen der Wirklichkeit und dem Erlebnis verschwindet die Möglichkeit der Erfahrung. Auf Facebook erlebt man viel, der Drang, all dies ungefiltert mitzuteilen, verhindert aber, dass das Erlebte zu einer Erfahrung wird. Die Distanz, die sich in der Kluft zwischen erlebendem und berichtendem Ich manifestiert – und die es erlaubt, über das Erlebte nachzudenken –, kommt abhanden. Willig liefert man sich aus, wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird, verliert Hemmungen, wird peinlich-plakativ. So schlittert man ins Unglück und schaufelt der eigenen Integrität gewissermaßen das Grab. Gleichermaßen möchte man resignieren angesichts von Nachwuchspolitikern, die über Facebook ihren über 100jährigen Opa vermarkten und als Symbol der Menschlichkeit Bäume pflanzen. Die soziale Ader wird manifestiert, indem man sich über einen Post bei der Freundin bedankt, die in Griechenland einen bis auf die Knochen heruntergehungerten Straßenhund (hieß der Pyrrhus oder Gyros?) aufgenommen hat. Auf den Profilfotos posiert das glückliche Paar mit dem wie ein Fossil wirkenden Opa und dem aufgepäppelten Hund.

Dieser junge CSV-Hoffnungsträger, der seiner Facebook-Gemeinde wenig später die Trennung von der Freundin mitteilen wird, will Aufmerksamkeit – er braucht das Mitleidskapital, weil so der Boden, der ihm unter den Füßen weggezogen wurde, durch ein virtuelles Netz an Empathie-Bekundungen ersetzt wird. Hierin liegt eine implizite Hoffnung, das eigene Leiden in der kollektiven Facebook-Gemeinschaft aufzulösen. Soziale Netzwerke werden so zu Schmerztabletten, wirken ein Stück weit wie Antidepressiva, die das Erlebte nur noch in schillernden Farben wiedergeben. So wie Paulo Coelhos Verlage versuchen, die Romane des Bestseller-Autors als große Literatur auszugeben, so soll die eigene Pinnwand den Eindruck vermitteln, dass der Nutzer ein erfüllt-aufregendes Leben führt. Dass die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, die jeder Selbsttäuschung zugrunde liegt, auf Facebook funktioniert, liegt einerseits daran, dass sie hier auf kollektiver Ebene von jedem Nutzer praktiziert wird, andererseits aber auch daran, dass das Interface sie ermutigt. Das implizite Ziel, die Wirklichkeit in einer verzerrten, dem Nutzer favorablen Erzählung zu filtern, ist eines der Versprechen, das Facebook und Konsorten gerne abgeben – unter der Bedingung, dass der Nutzer den Algorithmen erzählerische Selbstkontrolle – und Daten – abgibt.

Ein „Like“ vergeben wir als Sympathiebekundung oder wegen des vermeintlichen ‚Coolness-Faktors‘ und tappen dabei in die Falle, selbst persönliche Informationen preiszugeben, während unser Profil im Gegenzug immer akribischer auf ‚uns’ zugeschnitten wird. Ähnlich wie beim Einkauf mit einer Kundenkarte und dem Sammeln von Bonuspunkten im Supermarkt, verscherbeln wir unsere privaten Daten und liefern Konzernen damit wichtige Informationen über unser Einkaufs- und Konsumverhalten. Facebook und Google zeigen uns noch Jahre, nachdem wir digital Schuhe gekauft haben, ähnliche Schuhmodelle, sie präsentieren uns politische Inhalte, mit denen wir uns identifizieren (könnten) oder schlagen uns Bekannte als „Freunde“ vor, die erstaunlich viel mit unserem aktuellen sozialen Umfeld zu tun haben.4 Wer über Facebook private Informationen von sich verrät, sitzt in der Falle. Wir lassen uns durch Social Media kontrollieren, unsere Reaktionen werden über Algorithmen irgendwann kalkulierbar. Wenn wir uns sattgeklickt haben, bleiben wir einsam zurück.
Fragmentierte Erzählungen

Für den französischen Philosophen Paul Ricœur ergibt sich Selbstkenntnis durch eine chronologische, autobiographische Selbsterzählung. Simanowski resümiert Ricœurs These folgerichtig: „Man versteht sich selbst, indem man festhält, warum und wozu etwas geschah.“5 In den „sozialen Netzwerken“ wird genau dieses Selbstverständnis aufgelöst. Die fragmentarische Erzählart, die der virtuellen Exis­tenz zugrunde liegt, könnte per se in der Kontinuität des postmodernen Projektes liegen. Denn nachdem die sogenannten Großen Erzählungen einer fortschrittlichen Menschheitsgeschichte im 20. Jahrhundert durch die Weltkriege, Genozide, die Schoah und den endgültigen Triumph des Kapitalismus annulliert wurden, hebt die postmoderne Erzählung die Fragmentierung des Erlebten hervor.6 Da dieser fragmentarischen Selbstdarstellung im virtuellen Raum aber der subjektive Rahmen einer Kausalität fehlt (sodass die erzählerischen Lücken zwischen der Adoption des Hundes und dem Aus der Beziehung auf der Rezeptionsebene der anderen Nutzer hergestellt werden müssen), übernimmt der Algorithmus die Strukturierung der Selbstdarstellung.

Facebook entscheidet, wie sich das Selbstbild des Nutzers ergibt, schlägt Erinnerungsmomente vor, es ermutigt andauernd dazu, ‚Freundschaften‘ zu Menschen, an die man sich meist kaum erinnern kann, aufrecht zu halten oder erneut zu etablieren. Weil dem Nutzer in seiner Selbstdarstellungssucht der rote Erzählfaden des eigenen Lebens abhandengekommen ist, strukturiert die Maschine fast mechanisch die Lebensgeschichten. Seiner Zeit hatte der französische König einen eigenen Geschichtsschreiber, heute überlässt jeder Nutzer den Algorithmen das Schreiben des eigenen Lebens.

Dass man die Kontrolle über die eigene Lebensgeschichte abgibt, ertragen viele, solange die Erzählung einer Optimierung des eigenen Lebens entspricht. Von Ricœurs „Ich erzähle, also bin ich“ ist man dabei allerdings zum entpersönlichten „Es postet, also bin ich“ gelangt.7

  1. Facebook steht hier stellvertretend für zahlreiche „soziale Netzwerke“, über die sich dieselben oder ähnliche Aussagen treffen ließen.
  2. „Was oft fälschlich der Postmoderne und ihren Autoren in die Schuhe geschoben wurde, ist in Wirklichkeit eher die Folge dieses insgeheim religiösen Glaubens an die Allgegenwart von Informationen: totale Beliebigkeit. Die Rede von ‚alternativen Fakten‘ bringt die Lage auf den Punkt. ‚Alternative Fakten‘ mögen zwar falsch sein, aber sie funktionieren dennoch wie Informationen – sie werden prozessiert und zeitigen Effekte.“ Robert Feustel, „Am Anfang war die Information“. Digitalisierung als Religion, Berlin, Verbrecher Verlag, 2019, S. 20f.
  3. Roberto Simanowski, Facebook-Gesellschaft, Berlin, Matthes & Seitz, 2016, S.78.
  4. Vgl. hierzu Hannah Frey, Hello World. Was Algorithmen können und wie sie unser Leben verändern, München, C.H. Beck, 2019.
  5. Simanowski, Facebook-Gesellschaft, a.a.O., S.80. Für eine genauere Analyse siehe Paul Ricœur, Soi-même comme un autre, Paris, Éditions du Seuil, 1996.
  6. Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris, Éditions de Minuit, 1979.
  7. Simanowski, Facebook-Gesellschaft, a.a.O., S. 81.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code