- Klima, Natur, Wissenschaft
Allein sind wir allein
Ein Interview mit dem Zoologen Alexander Weigand über die alarmierende Abnahme der Artenvielfalt auch in Luxemburg
Wir kennen weltweit etwa 350.000 Käferarten, tausende sind sicherlich noch unentdeckt. Wie entstehen Arten? Und warum ist eine solche enorme Vielfalt an Lebensformen auf der Erde überhaupt entstanden?
Alexander Weigand: Die Käfer sind sicherlich eine der artenreichsten Tiergruppen auf der Erde. Ich würde sogar davon ausgehen, dass zehntausende Käferarten auf ihre Bestimmung warten. Alleine in zwei Veröffentlichungen aus den Jahren 2013 und 2019 wurden mehr als 200 neue Rüsselkäferarten für den Malaiischen Archipel und Polynesien beschrieben. Nehmen wir einmal diese Fülle an unscheinbaren schwarzen und flugunfähigen Käferarten als Anlass, um den Entstehungsprozess der Arten allgemein zu erklären. In der Regel spaltet sich eine Ursprungspopulation in zwei oder mehrere Schwesterpopulationen auf. Veränderte Umweltbedingungen oder die Ausbreitung in eine neue geografische Region sind häufige Auslöser. Bei den erwähnten inselbewohnenden Käferarten liegt es nahe anzunehmen, dass die Besiedlung von weitläufigen Landmassen, die durch den steigenden Meeresspiegel zu isolierten Inseln wurden, im Laufe der Zeit viele getrennte Populationen hervorgebracht hat. Einmal an Ort und Stelle angekommen, setzen sich über Generationen hinweg diejenigen Merkmalskombinationen durch, die geeignet(er) für die lokalen Umweltbedingungen erscheinen. Anders ausgedrückt: Wer ist in der Lage, die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen am effektivsten zu nutzen und in eine möglichst hohe und gut angepasste Zahl von Nachkommen umzusetzen („survival of the fittest“)? Mit der Zeit und in Kombination mit der Abwesenheit genetischen Austauschs ist so über die Jahrmillionen eine riesige Artenfülle entstanden.
Haben wir Darwin falsch verstanden, wenn wir die natürliche Auslese („survival of the fittest“) als Verdrängungsprozess gesehen haben, bei der die einen Lebensformen die anderen verdrängen? Führt Auslese zu Vielfalt?
A.W.: Der Prozess der natürlichen Auslese ist immer im Lichte der jeweiligen Umwelt zu betrachten. Der Mensch als Großsäuger lebt in einer makroskopischen Welt, die Umgebung der erwähnten Käfer hingegen setzt sich aus sehr vielen Mikrohabitaten und Bedingungen zusammen. Um erfolgreich zu sein, gilt es daher, die angebotenen Ressourcen effektiv zu nutzen und sich gleichzeitig gegen Nahrungskonkurrenten und Fraßfeinde zur Wehr zu setzen. Das „survival of the fittest“ ist als komplexe Interaktion der an einem Standort vorkommenden Organismengemeinschaft anzusehen, bei der es lokale Gewinner und Verlierer gibt. Es genügt nicht, einzig „die Erde“ als Schauplatz der stattfindenden Verdrängungsprozesse zu betrachten, sondern es muss viel detaillierter in die unterschiedlichsten Ökosysteme unseres Planeten eingestiegen werden.
Wie sterben Arten aus? Welchen Anteil hatte der Mensch bislang an diesen Prozessen?
A.W.: Das ist ein weites Feld, aber allgemein kann man sagen: Wird die Umwelt einer Art abrupt verändert oder ihr gar der gesamte Lebensraum entzogen, ist das Aussterberisiko sehr hoch. Als Beispiel können prähistorische Massenaussterbeereignisse dienen, die sich als Folge von globalen Umweltveränderungen nach Meteoriteneinschlägen abgespielt haben. Ist die Umweltveränderung eher schleichender Natur, d.h., vollzieht sich der Prozess über mehrere hundert Generationen einer Art hinweg, können sich in einzelnen Populationen gegebenenfalls erneut „gut“ angepasste Merkmalskombinationen etablieren oder Wanderbewegungen in ein geeigneteres Umfeld stattfinden. Die Massenbewegungen der plio- und pleistozänen Eiszeiten wären hier zu nennen.
Nun, was Homo sapiens betrifft, so brachte seine Ausbreitung vor allem evolutiv schnelle Umweltveränderungen mit sich, an die sich die Arten nicht gleichwohl schnell anpassen können (etwa Brandrodungen, Bewirtschaftungen und Behausungsbau). Hinzu kommt, dass er aktiv oder passiv einzelnen Artengruppen nachstellt: Durch Jagd wurde und wird die Megafauna zunehmend dezimiert, und der Einsatz von Pestiziden bedroht zusehends die Pflanzen- und Insektenwelt. Landwirtschaft und Städtebau führen weiterhin vielerorts zur Fragmentierung von Lebensräumen und zur Abnahme der regionalen Lebensraumvielfalt. Werden die einer Art zur Verfügung stehenden Lebensräume zu klein und zu isoliert, greifen demografische Effekte wie Inzucht. Auch die zunehmende Globalisierung hat ihren Anteil. Dauerte es vor zweihundert Jahren noch mehrere Wochen, um mit dem Schiff den Atlantik zu überqueren, schaffen wir die Reise von Luxemburg nach New York heute in unter zehn Flugstunden – Transitzeiten inklusive. Gleiches gilt für blinde Passagiere wie invasive Arten oder Pathogene. Aktuell sorgt das Weißnasensyndrom in den USA für ein bis dato nicht gekanntes Fledermaussterben. Der virale Erreger wurde sehr wahrscheinlich aus Europa eingeflogen.
Das heutige Artensterben
Anfang Mai lieferte die „Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services“ (IPBES), eine Unterorganisation der UN, einen Bericht über das Artensterben ab, der von NGOs und Presse als alarmierend eingestuft wurde. Wo ist der qualitative Unterschied zu früheren Berichten dieser Art?
A.W.: Zunächst einmal muss man sagen, dass der Bericht auch bei Politikern und anderen Entscheidungsträgern als alarmierend eingestuft wird. In seiner Art und Weise ist er mit den Klimaberichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zu vergleichen, welche unserer aktuellen Klimadebatte die wissenschaftlichen Grundlagen bieten. Bis zum IPBES-Bericht gab es eine zusammenfassende Faktenlage zum Zustand der weltweiten Ökosysteme und Artenvielfalt – d.h. zu Aussagen zum Bedrohungsstatus, zu den Ursachen der Veränderungen und über zukünftige Maßnahmen – in dieser Größenordnung allerdings nicht. Die verschiedenen Kapitel wurden von 145 Personen aus 50 Ländern geleitet (lead authors) und von weiteren 330 Akteuren aus Gesellschaft, Politik und Wissenschaft kritisch überprüft (contributing authors). So führt der Bericht auf mehr als 1.500 Seiten Informationen aus beinahe 15.000 Literaturquellen systematisch zusammen. Wer es kürzer mag, es gibt anschauliche Grafiken und Zusammenfassungen.
Welche Tiere und Pflanzen sind heute insbesondere betroffen?
A.W.: Das Aufzählen würde ewig dauern und es ist schwer zu verallgemeinern, denn oftmals handelt es sich um eine Verkettung von zahlreichen Umständen. Nehmen wir einmal die Mohn-Mauerbiene. Diese Wildbienenart benötigt wilden Mohn zum Nestbau und den Nektar von Wildblumen als Nahrung. Sowohl die Abnahme von Wildblumenbeständen, die Zunahme der Lebensraumfragmentierung als auch der weitreichende Einsatz von Insektiziden machen ihr das Leben schwer. Ein anderes Beispiel wäre der Eisbär. Durch schmelzendes Packeis und Ölförderung geraten sein Lebensraum und die Robben-Jagdreviere in Gefahr. Die Lebensraum- und Nahrungsknappheit führt wiederrum zum Besuch von nahegelegenen Siedlungen und ab und an zum Abschuss. Die langen Generationszeiten (ab 5-6 Jahren sind die Tiere geschlechtsreif), eine geringe Zahl an Nachkommen und der Handel mit seinem Fell tun letztendlich das übrige zum Gefährdungsstatus dieser Art.
Kann man Artensterben und Klimawandel auseinander halten, oder müssen sie zusammen gedacht werden?
A.W.: Ein sehr guter Punkt. Als Folge zunehmender Globalisierung, die mit erhöhten Treibhausgas-Emissionen, steigender Landnutzung, Urbanisierung sowie einem weltweiten Handelsnetz einhergeht, müssen Artensterben und Klimawandel integral verstanden werden. So führen Kohleabbau und Ölförderung zu drastischen landschaftlichen Veränderungen und bedrohen Lebensräume zu Wasser und zu Land. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass das über Jahrmillionen gebundene Kohlenstoffdioxid in unsere Atmosphäre und Weltmeere gelangt, wo es zur Erderwärmung beiträgt, die Ozeanversauerung antreibt, das Korallensterben und die Gletscherschmelze „begünstigt“.
Luxemburg
Auch für Luxemburg gibt es konkrete Berichte zum Artenverlust. Macht es Sinn, auf so einem kleinen Territorium das Vorkommen bzw. den Verlust einzelner Arten zu beklagen?
A.W.: Ja. In Reaktion auf den IPBES-Bericht haben wir (ABIOL, Mouvement Écologique a.s.b.l., Naturmusée, natur&ëmwelt a.s.b.l. und SNL) eine gemeinsame Stellungnahme dazu abgegeben. Die Situation in Luxemburg bereitet ebenfalls Grund zur Sorge. So haben die Abnahme von Feucht- und Moorgebieten, struktureller Vielfalt und der allgemeinen Insektenanzahl im Großherzogtum zur Gefährdung und dem Verlust von mehr als 25 % der heimischen Brutvogelarten geführt. Zusätzliche fast 20 % sind auf der Vorwarnliste. Wichtig ist bei der Problematik, die Arten und Ökosysteme in den Mittelpunkt zu rücken und nicht nationale Grenzen. So kann eine Art durchaus weitverbreitet sein, aber ihren Hauptverbreitungsschwerpunkt bei uns in der Großregion besitzen. In diesem Fall hätte Luxemburg auch eine besondere Verantwortung zum Schutz dieser Art. Der Rotmilan ist hier zu nennen.
Das Verschwinden des Feuersalamanders mag ein Indiz für eine gesunkene Umweltqualität sein, aber solange die betreffende Art in Lothringen oder Wallonien noch vorkommt, könnte dieser Verlust doch zu verschmerzen sein? Und Ausdruck einer bewussten Prioritätensetzung sein – also hier Stadtentwicklung und dort grüne Nischen?
A.W.: Beim Feuersalamander ist der Verlust weniger auf die gesunkene Umweltqualität als vielmehr auf die Infektion mit einem tödlichen Pilz zurückzuführen, der durch den steigenden Amphibienhandel in Westeuropa eingeschleppt wurde. Durch die von ihnen ins Spiel gebrachte regionale Prioritätensetzung wären als Folge kleine und zudem geografisch zersplitterte Populationen zu erwarten, die jede für sich ein stark erhöhtes Aussterberisiko aufweisen würden. Der Arten- und Umweltschutz ist daher nicht nur nationalen Zielen, sondern berechtigterweise europäischen und internationalen Richtlinien unterworfen.
Die Städte in Luxemburg scheinen heute ökologisch „wertvoller“ als noch vor 50 Jahren zu sein. Trügt dieser Eindruck?
A.W.: Vermutlich stimmt es, dass nach jahrzehntelanger Vergrauung unsere Städte nun wieder „grüner“ und „blauer“ werden. Aber Parkanlagen, Kleinstgewässer und Seitenstreifengrün alleine genügen nicht. Es fehlt oftmals an struktureller Vielfalt und dem Angebot an geeigneten Lebensräumen. Wo früher Sandböden, Hecken und altes Mauerwerk standen, finden wir heute weitläufige Flächenversiegelung und Glasfassaden.
Maßnahmen?
Gibt es einfache Lösungen gegen das Artensterben, die nicht gleich den gesamten Umbau unserer Gesellschaft, Konsumverzicht und eine andere Landwirtschaft voraussetzen?
A.W.: Leicht wird es so oder so nicht. Aber solange im Kern des politischen und gesellschaftlichen Denkens und Handelns wirtschaftliches Wachstum und nicht der Nachhaltigkeitsgedanke steht, wird es fast unmöglich.
Was kann in Luxemburg konkret gemacht werden? Was ist realistisch?
A.W.: Eine Umorientierung an Nachhaltigkeitszielen müsste in allen Lagen unseres Lebens Eingang finden. Die Reduktion von Plastikmüll und erhöhte Recyclingquoten sind gute Anfänge, aber Agrar-Wirtschaft müsste nachhaltiger Land-Nutzung weichen, ein Pestizidverbot und Bio-Gebot eingeführt, (inter)nationale Subventionen und öffentliche Ausschreibungen dementsprechend neu ausgerichtet, und weitere Flächen unter Schutz gestellt werden.
Um auf die Wichtigkeit der Artenvielfalt aufmerksam zu machen, wird immer wieder auf die wirtschaftliche Bedeutung von Biodiversität hingewiesen, und diese wird dann in Milliarden Dollar hochgerechnet – es wird also geschätzt, welchen wirtschaftlichen Mehrwert einzelne Arten „für“ den Menschen haben. Ist das der richtige Weg, um das Bewusstsein zu schärfen? Gibt es andere Argumente, mit denen man die Menschheit wachrütteln könnte?
A.W.: Wenn weiterhin die Ökonomie im Fokus steht, ist das leider ein Weg, den man gehen kann oder muss, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Selbstverständlich haben Arten nicht nur eine ökonomische Bedeutung, sondern insbesondere funktionelle Rollen im Ökosystem, aber sie sind auch von kultureller und emotionaler Wichtigkeit.
Ist das Artensterben realistischerweise überhaupt zu stoppen im Hinblick darauf, dass wir in Zukunft 10 Milliarden und mehr Menschen ernähren müssen und diese auch Entwicklungsperspektiven wollen – d.h. irgendeine Form von wirtschaftlicher „Entwicklung“ und Steigerung von „Lebensqualität“?
A.W.: Stellen wir die Frage in dieser Form, haben wir die Dringlichkeit der Situation nicht verstanden. Es geht nicht um das „ob“, sondern vielmehr um das „wie“. Und das möglichst umgehend. Ein guter Start wäre es einzugestehen, dass das oft plakativ behandelte Artensterben in Afrika und Asien nicht nur Gründe fernab unseres Kontinents hat. Durch den Fokus auf Wirtschaftlichkeit, die Kopplung von Angebot und Nachfrage sowie fehlende oder zu teure Produktionsbedingungen in Europa werden gerade in den artenreichsten Regionen unserer Erde Raubbau am Boden betrieben und katastrophale Wasser- und CO2-Bilanzen in Kauf genommen. Von den Menschen einmal ganz abgesehen. Natürlich will jeder ein Stück vom globalen Kuchen, und das ist auch gut so, aber wenn jeder seinen „Teig selber knetet“, kommt es eventuell wieder auf Qualität und Nachhaltigkeit an. (31.5.2019 / JST)
Literatur
Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services, 2019, https://www.ipbes.net/news/ipbes-global-assessment-preview (letzter Aufruf: 2. Juni 2019).
Gemeinsame Stellungnahme. Über 1 Million Pflanzen- und Tierarten weltweit gefährdet. Nur ein Umdenken in Gesellschaft und Wirtschaft kann den Zusammenbruch der Biodiversität verhindern – auch in Luxemburg, https://www.mnhn.lu/wp-content/uploads/2019/05/brochure-Biodiversiteit-finito-1.pdf (letzter Aufruf: 2. Juni 2019).
A. Riedel et al., „One hundred and one new species of Trigonopterus weevils from New Guinea“, in: ZooKeys, 280, 2013, S. 1-150.
L. Warnecke et al., „Inoculation of bats with European Geomyces destructans supports the novel pathogen hypothesis for the origin of white-nose syndrome“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 109, 18, 2012, S. 6999-7003.
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