In Düdelingen geboren, aufgewachsen und beheimatet, war die Arbed für mich und meine Familie ein fester Bestandteil unseres Lebens – der zentrale sogar. Und so ging es vielen Familien im Luxemburger Süden. Im Viertel Quartier Italien, wo ich die Kindheit verbracht habe, war – schon allein optisch, geräusch- und geruchsmäßig – die Arbed, die allgegenwärtige ARBED!
Optisch denke ich an die imposante Struktur der Produktionsanlagen, an die Hochöfen und Stahlwerke, zur französischen Grenze hin an die Walzwerke. Ich erinnere mich an die Geräusche der dampfangetriebenen Lokomotiven und an die Tag und Nacht verkehrenden LKW-Transporte der Firma Lorang. Ich rieche noch die Dampflokomotiven, die heißen Schlacketransporte sowie die LDAC-Konverter-Beschickungen mit Roheisen und Schrott aus der Stahlproduktion.
In den Arbed-Kühlweihern beim Wasserturm war das erste „Schwimmbad“ der Stadt Düdelingen beheimatet. Also erlernte ich das Schwimmen im angenehmen warmem Industriewasser, umgeben von dampfenden Lokomotiven und Produktionsanlagen. Mein Schulweg führte mich aus unserem Viertel über die Eise Bréck durch den Schwaarze Wee über die Gleise der Schmelz entlang den Produktionshallen und dem heute als Wahrzeichen der vergangenen Industriekultur dienenden Wasserturm zur Deich-Schule.
Die allgegenwärtige ARBED! machte auch vor dem Fußball, dem Sport schlechthin, nicht halt. „Mein“ Verein war die Alliance, mehrheitlich aus Spielern italienischer Abstammung zusammengesetzt, welche eben im Quartier wohnten. Das Spielfeld befand sich nahe dem Rossi’s Bësch, wo sich die Minette/Eisenerzgruben befanden, angrenzend an die Agglomerierung der Hochöfen. Sonntags war dann Fußball angesagt. Mein Onkel, es erübrigt sich zu sagen, dass auch er bei der Arbed angestellt war, spielte mit in der 1. Mannschaft, und es war immer wieder schön zu sehen, wie die Arbeiter hoch oben auf dem Dach der Agglomerierung Pause machten und sich das Sonntagsspiel ansahen.
Allgegenwärtige ARBED! Sie brachte auch den zweiten Düdelinger Verein, die USD, hervor, die im Viertel Schmelz beheimatet war. Dies war das Viertel mit den Walzwerken, dem Verwaltungsgebäude und dem Haupteingang zur Schmelz, inklusive den Bistrots – für die Zeit nach der Schicht. Hier war auch das Casino, früher das Restaurant für die Direktion und besondere Anlässe. Dazu gesellte sich der dritte Verein, Stade, von dem ich als Kind eigentlich nur vernahm, dass, wenn sich jemand irgendwie als Arbeiter postenmäßig verbessern wollte, dieser gut daran tat, zur Stéid zu wechseln. Aber vielleicht waren das nur Neidgedanken der Alliance- und USD-Anhänger.
Allgegenwärtige ARBED! Kulturmäßig gab es – analog zum Fußball – im Quartier Italien die Biergaarbéchter, im Viertel Schmelz die Schmelzer, und im Zentrum die Staater Musikkapelle, wobei, so meine Erinnerung, die Mitgliedschaften zwischen den drei Kapellen sich so verhielten wie beim Fußball.
Auch wenn die Industrieanlagen alle im Süden an der französischen Grenze angelegt waren, so war die allgegenwärtige ARBED! auch im übrigen Düdelingen nicht zu übersehen und zu überhören. Die Acht-Stunden-Schichten waren aufgeteilt von 6-14, 14-22, 22-6 Uhr. Speziell um 14 Uhr, da eben dann die meisten Leute auf den Beinen waren, ertönte die allmächtige Arbed-Sirene, um den Schichtwechsel anzukündigen.
Armand Strainchamps, ein bekannter Düdelinger Künstler, hat diesen Moment auf dem Stadthausplatz verewigt. Damals waren bis zu 8.000 Menschen in Düdelingen bei der allgegenwärtigen ARBED! beschäftigt, jeder Schichtwechsel war ein Ereignis. Mit dem Sirenenklang waren tausende, mehrheitlich Fahrrad- und Mopedfahrer sowie Fußgänger auf den Straßen unterwegs. Allgegenwärtige ARBED!
Und die fuhren alle nach Hause, und ihr Zuhause war für viele die Arbed-Dienstwohnung. Die allgegenwärtige ARBED! hatte in den 1930er Jahren im Viertel Brill Wohnungen für ihr Arbeiter- und Beamtenpersonal gebaut, mein Vater konnte solch ein Haus Anfang der 70er Jahre von der Arbed kaufen, dazu später.
Auch im tagtäglichen Alltag war die allgegenwärtige ARBED! immer präsent. Mein Vater war als Arbeiter im Stahlwerk eingestellt, und wie viele Tausende seiner Kollegen hatte er einen 3-Schichten-Dienst, der von Woche zu Woche wechselte. Wobei er das Vergnügen hatte, soweit ich mich erinnere, alle sechs Wochen den laangen Tour, also 12 oder 16 Stunden, so genau weiß ich es nicht mehr, in einem Stück zu arbeiten. Die allgegenwärtige ARBED! bewirkte damit, dass unser Familienleben sich strikt um die Arbeitszeiten, und dadurch bedingt, die Ruhezeiten meines Vaters bewegte. Das hieß: unbedingte Ruhe, wenn der Vater von der Schicht kam, Totenstille nach einem laangen Tour.
Nach einer Nachtschicht, allgegenwärtige ARBED!, hatte ich öfters das Vergnügen, morgens bei meinem Frühstück mit Marmeladenbrot meinen Vater bei mir am Tisch zu haben, froh, dass er mich noch sehen konnte, und er dann im Gegenzug mir gegenüber seine scharf gewürzten Wurstbrote vertilgte – die Erinnerung an diese Gerüche ist immer noch da. Jedes Mal ein Ritual, wenn meine Mutter die Kuuscht, also das Essen für die Schicht für meinen Vater zusammenstellte.
Die allgegenwärtige ARBED! war auch bei uns zu Gast, wenn mein Vater in den 1950er Jahren zweimal im Monat seine Peituut erhielt und meiner Mutter stolz zu Hause auf den Tisch legte. Da die Versuchung groß war, mit dem Bargeld vielleicht nicht so verantwortungsvoll umzugehen, wie mein Vater es tat, konnte der Arbeiter bei der Arbed auch ein Sparbuch anlegen. Da neben meinem Vater auch meine beiden Onkel und Großväter bei der Arbed tätig waren, war sie für mich als Kind tatsächlich und wahrhaftig die allgegenwärtige ARBED!
Diese, soweit ich das damals schon im Kindesalter und dann auch noch im Jugendalter beobachten konnte, beeinflusste auch das soziale Gefüge der Gemeinschaft. Dadurch bedingt, dass fast die gesamte männliche Bevölkerung bei der Arbed eingestellt war, kann ich fast sicher behaupten, dass jeder jeden kannte. Es gab auch keine großen Neidsituationen, da, falls man nicht geerbt hatte, jeder von jedem wusste, war er verdiente, und die Leute alle gleich arm bzw. reich waren, allgegenwärtige ARBED!
*
Es gab eine wohl nicht deklarierte Hierarchie, die vom Arbeiter zum Meister, vom Beamten zum Büroleiter und auch vom Ingenieur zum Betriebschef reichte – bis hin zum unerreichbaren Posten des Werksdirektors. Diese Hierarchiestruktur beeinflusste den sozialen Umgang in der Bevölkerung vollends, außerdem wirkte sie sich auf die Wohnstruktur aus. Arbeiter wohnten mehrheitlich in Arbed-Arbeitersiedlungen, Beamte in besser ausgestatteten Wohnungen, leitende Angestellte wiederum in einem gesonderten Viertel beim Rathaus, der Werksdirektor in der Direktorenvilla, allgegenwärtige ARBED! Dies hatte zur Folge, dass ich als Arbeiterkind fast ausschließlich mit meiner eigenen sozialen Schicht in Kontakt kam.
Wunderschöne Kinderjahre waren das, mit Staub, Feuer, Minett, gefolgt von den Jugendjahren und dem sechsten Schuljahr und der Schicksalsfrage: Was tun nach der Primärschule? Allgegenwärtige ARBED!
Wie bei vielen anderen meines Alters und bei fast allen aus meinem Freundeskreis hatten meine Eltern auch für mich vorgesehen, am zur Arbed gehörenden Institut Emile Metz eine Lehre zu absolvieren und einen Handwerksberuf zu erlernen. Für meine Eltern wäre dies schon etwas Besonderes gewesen! Zum Glück wirkte mein Schullehrer darauf hin, dass ich zum Lycée wechseln sollte. Für meine Eltern etwas Irreales… allgegenwärtige ARBED!
Die Arbed begleitete mich sogar am ersten Lycée-Tag. Bei der Schülervorstellung wurden alle Kinder nach dem Beruf des Vaters gefragt. Dann hörte man es: Ouvrier d’usine, employé d’usine, contre-maître, ingénieur, alles Arbed-Schüler, damit war die Hierarchie auch im Lycée sichergestellt: allgegenwärtige ARBED!
Zu diesem Zeitpunkt hatten meine Eltern eine wichtige Entscheidung zu treffen. Die Arbed hatte meinem Vater angeboten, ein Werkshaus im Brill zu mieten. Für ihn war dies wie eine Beförderung, ich erinnere mich noch, wie stolz er war. Und: Es handelte sich um eine besondere Lage, in der unmittelbaren Nachbarschaft befanden sich Beamtenhäuser. Allgegenwärtige ARBED!
Im Brill-Viertel mit seinen Arbeiter- und Beamtenhäusern konnten die Beschäftigten preiswert wohnen und später die Häuser sogar kaufen, Jahre später kam dann noch das Wolkeschdall-Viertel hinzu, wo die Arbed ihren Angestellten preiswert Bauland zu kaufen ermöglichte. Allgegenwärtige ARBED!
Ein sehr bedeutender Moment im Berufsleben meines Vaters war die Arbed-Belohnung für 25 Jahre Dienstzugehörigkeit.Erstmals wurde er zu einem Festessen ins Casino eingeladen, ein Ort, der normalerweise tabu war für die Arbeiter, und dann bekam jeder Beschäftigte die goldene Uhr für treue Dienste. Allgegenwärtige ARBED!
Es waren fruchtbare Jahre für Arbed, glückliche Jahre für meinen Vater, gute Jahre für die Gemeinde, als sich all dies ereignete – in den 50er, 60er, 70er Jahren.
Nach zwei Jahren Erfahrung im Bankensektor und nach einem Informatikstudium zog es auch mich zur Arbed. Wie sollte es auch anders sein? Wer in seinem Leben so von der allgegenwärtigen ARBED! umgeben und geprägt wurde! Nach meiner Bewerbung wurde ich ad hoc in das Hauptgebäude in der Avenue de la Liberté eingeladen. Welch eine Aufregung! Eine Einladung wie in ein Schloss! Dieses imposante Gebäude, für meinen Vater eine Fata Morgana, etwas Unerreichbares!
Allgegenwärtige ARBED! Das Vorstellungsgespräch verlief gut, eine Stelle, nicht ausgeschrieben, war frei geworden in der Prozesssteuerung im Stahlwerk Belval, erst später wurde mir bewusst, dass die Arbed in diesem Bereich weltweit federführend war, noch vor Japan. Als der verantwortliche Ingenieur mich fragte, was denn mein Vater beruflich mache – ich hatte dies im Bewerbungsschreiben nicht erwähnt – und als ich ihm dann erzählte, dass dieser im Stahlwerk Düdelingen am Mischer gearbeitet hätte, fiel er aus allen Wolken. Er kannte meinen Vater, und machte mir den Vorwurf, dass ich das nicht eher erwähnt hatte. Ich wurde auf der Stelle eingestellt! Arbed-Korporatismus! Allgegenwärtige ARBED! Von da an war ich hautnah dran an der Stahlproduktion, ein kleines Zahnrad der Arbed-Maschine, der allgegenwärtigen ARBED!
Die Arbed war damals, Anfang der 70er Jahre, noch das Zugpferd der Luxemburger Wirtschaft, die Direktoren waren immer noch die Götter, die Städte im Minett waren froh über den Staub und den Dreck, die vom Himmel fielen.
Und so nahm meine Arbed-Zeit Ihren Lauf, wieder und zunehmend drehte sich alles bei mir um die Arbed. Ich hatte einen zeitraubenden, anstrengenden, aber sehr interessanten Beruf mit Blick hinter die Kulissen, also engen Kontakt mit den Arbeitern, den Angestellten, den Meistern, den Ingenieuren, dem Betriebschef, der Direktion. All das machte mich zuversichtlich: Die Arbed ist ein Glücksfall für Luxemburg, allgegenwärtige ARBED!
Einmal im Jahr im April wurde man in die Direktion bestellt, wo einem persönlich eine Gratifikation überreicht wurde. Und es hat sich immer gelohnt! Zum Jahresende gab es dann immer einen in Leder gebundenen Jahreskalender. Auch dies: Momente des „Wir sind Arbed“-Gefühls! Ich bekam eine Wohnung in Esch, lebte also in Arbed-Umgebung. Allgegenwärtige ARBED!
*
Aber irgendwann haben alle Märchen ein Ende…
Mitte der 70er Jahre geriet die Stahl- und Eisenindustrie nicht nur in Luxemburg in eine Krise, die Arbed zog sich mehr und mehr aus ihrer sozialen Gebundenheit an das Personal zurück, Verluste wurden gemacht, die April-Überraschung blieb aus. Die DAC (Division Anti-Crise), d. h. der Staat, d.h. wir alle, übernahmen die Kosten, um überschüssiges Arbed-Personal zu beschäftigen, in den Betrieben sank die Stimmung gegen Null, wir konnten nur noch von der guten alten Zeit träumen.
GEGENwärtige ARBED!
Ich kündigte 1980 und begleitete meine ehemalige Firma nur noch als deren Lieferant für Edellegierungen. So erlebte ich den Niedergang der ehemals allgegenwärtigen ARBED! nur indirekt. 2002 fusionierte die Arbed mit Usinor, 2006 übernahm MITTAL die Arcelor-Gruppe, und nur noch die Nostalgiker – so wie ich – träumen von der allgegenwärtigen ARBED!, der Wohltäterin, die ein Stück Luxemburg war.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
