Am Ende entscheidet die Straße

Öffentlicher Raum als Notwendigkeit für gesellschaftlichen Wandel

Ein Jahr ist es her, dass einer der größten Schüler*innen- und Studierendenproteste in Luxemburg stattfand, der sogenannte 6670-Streik. Hier bündelten sich die unterschiedlichsten Kräfte, um sich gemeinsam gegen eine Kürzung der Studien-beihilfen zu stellen und zogen am 25. April letzten Jahres durch die Straßen der Hauptstadt. Der Streik war ein voller Erfolg: 17000 Teilnehmer*innen, eine völlig überfüllte Place Clairefontaine und eine Atmosphäre der Selbstbestimmung unter Jung und Alt, die das ganze Land für kurze Zeit erfüllte.

Das Internet als Zentrum der politischen Arbeit

Die Arbeit des Streikkomitees 6670 (und später Aktionskomitee 6670) beschränkte sich nicht nur auf eine tatsächliche Beanspruchung der Straßen, viel Arbeit wurde auch übers Internet geleistet. Die komplette Koordination, das Schreiben von Texten, die Verbreitung von Fotos und Argumenten, die Diskussionen untereinander, die Kommunikation nach außen und vieles mehr — all dies spielte sich größtenteils im Internet ab. Ein Hauptgrund dafür ist sicherlich, dass die meisten der AK6670-Aktivist*innen im Ausland auf unterschiedlichen Unis studieren. Wesentlich war auch der Aspekt, dass dadurch eine schnelle und effiziente Arbeit unter vielen Menschen gleichzeitig ermöglicht wurde, die nötig ist, wenn Mensch mit dem Rhythmus eines Ministeriums mithalten will. Dies zeigt an einem Beispiel, wie sich das öffentliche Leben, die politische Arbeit und die Straße auf das Internet ausgeweitet haben und dort ihren Platz gefunden haben.

Der Einfluss unserer realen Umwelt bleibt ein sehr wichtiger Faktor in unserem Alltag, aber auch unseren politischen Auseinandersetzungen. Grund genug, um sich aus diesem Blickwinkel mit unserer Hauptstadt auseinanderzusetzen.

Nur keine Gefahr laufen, den Verkehr zu stören

Schon bei der Anmeldung des Streiks und bei den anschließenden Gesprächen mit Polizei und der Gemeindeadministration wurde immer wieder deutlich, wie wichtig es für sie ist, dass der alltägliche Verkehrsfluss (vor allem des motorisierten Individualverkehrs) nicht gestört wird. Bei diesen Gesprächen kamen die verrücktesten und zum Teil auch gefährliche Ideen für Alternativrouten und Demonstrationskonzepte auf, nur um uns vom Verkehr fernzuhalten. Uns wurde vorgeschlagen mit Bussen vom Schulcampus Geesseknäppchen zum Treffpunkt am Hauptbahnhof zu fahren, damit es nur zwei Routen gebe und nicht die geplanten drei. Bereitstellen wollte uns die Busse jedoch niemand. Dass es bei einer politischen Demonstration auch darum geht, Aufsehen zu erwecken und mit dem Alltag zu brechen, somit auch den Verkehr in der Hauptstadt nicht wie an jedem beliebigen Tag fließen zu lassen, traf auf Unverständnis bei den Entscheidungsträger*innen. In ihren Augen hat sich die Versammlungsfreiheit der Autofahren-Freiheit unterzuordnen.

Es erwies sich als extrem schwierig, Demo-Routen zu finden, die den Verkehr überhaupt nicht stören, da der Stadtkern komplett von wichtigen Verkehrsachsen umgeben ist. Daher mussten auch die Gemeinde und die Polizei Kompromisse eingehen, und so konnten wir z.B. vom Hauptbahnhof auf direktem Wege zum Justizgebäude und weiter zur Place Claire-
fontaine laufen. An anderen Stellen mussten auch wir nachgeben, z.B. bei der vom Limpertsberg kommenden Route konnten wir nicht zwischen Glacis und Lycée Robert Schuman vorbei zum Pescatore, sondern mussten die Allee Schäffer nehmen und weiter durch den Park um anschließend nur ganz kurz den Boulevard Royal zu überqueren. Hier ging die Polizei in ihren Plänen sogar so weit, uns durch die kleine Unterführung zwischen Glacis und Stadtpark schicken zu wollen. Dass es ein extremes Sicherheitsrisko dargestellt hätte, 5000 Schüler*innen durch eine viel zu kleine Unterführung zu schicken, war ihnen offensichtlich nicht bewusst. Der Vorschlag wurde erst auf unser Drängen zurückgezogen. Am Tag des Streiks wurde deutlich, dass die Demoteilnehmer*innenanzahl von der Polizei und der Gemeinde komplett unterschätzt wurde. Vor allem als sich bereits zwei Demonstrationszüge auf der Place Clairefontaine versammelt hatten und jener vom Hauptbahnhof — der größte der drei Umzüge — noch dazu kommen sollte. Der Platz war eigentlich schon voll, die Demonstrationsteilnehmer*innen mussten über mehrere Gassen verteilt werden, die dennoch überfüllt waren. Schon bei den Vorbereitungen glaubte uns die Polizei die geschätzte Zahl von 10000 Teilnehmer*innen nicht, als es schließlich 17000 wurden, waren sie nicht fähig, angemessen darauf zu reagieren und uns einen anderen, größeren Platz wie z.B. den Knuedler anzubieten.

Öffentliche Plätze unter Verschluss

Auch bei der Auswahl des Platzes an dem die Demonstrationszüge enden und die Versammlung der Schüler*innen und Studierenden stattfinden sollte, gab es die gleichen Diskussionen, die es schon seit Jahren immer wieder gibt. Die Gemeinde gibt die „Plëss“ nicht mehr für politische Demonstrationen her, somit bleiben den Organisator*innen meist nicht viele andere Möglichkeiten, als auf die Place Clairefontaine auszuweichen. Bewusst benutze ich hier das Wort „ausweichen“, da durch die Wahl dieses Platzes die politischen Auseinandersetzungen in Luxemburg von der Bevölkerung weg verlagert werden. Die Place Clairefontaine liegt zwar in der Mitte des Regierungsviertels, jedoch fernab von jedem alltäglichen Leben in der Stadt, neben ein paar Tourist*innen oder Buchinteressierten verirrt sich selten jemand dorthin. Es scheint eine Trennung zwischen Politik und — so paradox es auch klingen mag — dem öffentlichen Leben zu geben. Diese ist auch in Luxemburg-Stadt klar ersichtlich: Politik wird in einer Ecke gemacht, das alltägliche Leben findet in einer anderen statt.

Nach dem 6670-Streik wurde aus dem Streikkomitee das Aktionskomitee, dabei war das Hauptziel die Unterstützung, die wir von 17000 Studierenden und von 6000 Unterschriften bekommen haben, zu nutzen, um das Gesetzesprojekt zu verändern. Ein anderes (Meta-)Ziel kristallisierte sich zudem heraus: Wir wollen als neue, junge Generation die Art verändern, wie Politik gemacht wird. „Es wird nicht auf dem öffentlichem Platz verhandelt, das war noch nie so“, entgegnete Minis-
ter Meisch. Seine Aussage bekräftigte uns jedoch in unserer Forderung, nur in der Öffentlichkeit mit ihm zu reden. Unsere Generation will nicht mehr akzeptieren, dass Politik hinter verschlossenen Türen gemacht wird, die Trennung zwischen Politik und Bevölkerung gehört aufgebrochen. Diese Trennung muss im übertragenen Sinne, aber auch im tatsächlichen, städtebaulichen Sinne aufgebrochen werden.

„Es ist das Geld, das die Stadt macht!“ (Reinhard Seiß)

Im gleichen Sinne werden politische Belange, die Bürger auf die Straße bringen, von der Bevölkerung fern gehalten. Die Besucher*innen (Bewohner*innen gibt es ja kaum im Stadtzentrum) sollen sich in der Groussgaass, auf der Plëss oder noch auf dem Knuedler aufhalten, dort wo sie zu Konsument*innen werden können. Die wenigen vereinzelten konsumfreien Sitzmöglichkeiten auf unseren Plätzen laden absolut nicht zum Verweilen und zum Kommunizieren ein. So lassen zum Beispiel die Sitzbänke auf dem Knuedler mit ihrer konvexen Form die nebeneinander sitzenden Menschen sich voneinander abwenden, anstatt sich einander zu zuwenden. Außerdem besteht keinerlei eigene Gestaltungsmöglichkeit auf den Plätzen oder in ihrer Möblierung. Personen dürfen sich kurz niedersetzen, sollen sich dann aber schnell wieder aufmachen, um noch einen Einkauf zu erledigen oder etwas essen zu gehen.

Für Studierende, die seit diesem Jahr, eben wegen der Reform der Studienbeihilfen, über noch weniger Geld verfügen, oder für andere Menschen mit einem kleineren Geldbeutel, gibt es im Stadtkern wenig Platz. Der Zwang zum Konsum ist nur sehr schwer zu umgehen.

Lebenswert wird eine Stadt jedoch nur dadurch, dass Menschen dort auch kon-
sumfreie Sitz- und Aktivitätsmöglichkeiten haben. Auch für Kinder ist es wichtig, dass es Spielplätze gibt, die nicht immer nur nach dem altbekannten Schema aufgebaut sind, sondern wo sie auch mal was verändern oder bauen können und dies gerade im Zentrum der Stadt.

Es ist an der Zeit die Konzepte unserer Plätze zu überdenken und sie so zu gestalten, dass etwas entstehen kann, was den Ursprung in den Bedürfnissen der Bevölkerung hat. Wir brauchen öffent-
liche Plätze zum Kommunizieren, Spielen, Verweilen, Rasten, Feiern, Politik machen. Wir brauchen öffentliche Plätze für Kinder, Jugendliche, alte Menschen, junge Menschen, Familien, Tiere, Menschen mit weniger Geld, Menschen jeglicher Herkunft, …

Aber vor allem müssen wir alle uns das Recht auf Stadt nehmen. Wir müssen uns als Gesellschaft mit dem Raum befassen, in dem wir leben, ihn gestalten und uns in das Geschehen einbringen.

Auch in Luxemburg müssen wir uns kritisch gegenüber Gentrifizierung, Großprojekten, der Liberalisierung des Stadtraumes und des öffentlichen Verkehrs positionieren und uns aktiv dagegen stemmen. Ein gutes Beispiel für eine solche Entwicklung in der Bevölkerung ist etwa die „Recht auf Stadt“-Bewegung in verschiedenen deutschen und österreichischen Städten.

Es ist an der Zeit, nicht nur in der Politik Platz für uns zu beanspruchen, sondern auch in der Stadt uns Straßen und Plätze zu nehmen! u

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