- Geschichte, Gesellschaft, Wissenschaft
André Marques
Woran forschen Sie?
Der Weg zum Geschichtsstudium schien schon fast eine Selbstverständlichkeit für einen Jungen, der seine Nachmittage am liebsten mit Dokumentarfilmen über den Zweiten Weltkrieg oder geschichtsbezogenen Videospielen wie Civilization verbrachte. Die Themen setzten sich schließlich auch in meiner Forschung durch: Mein Studium an der Universität Luxemburg nutzte ich zur Analyse der Darstellung des Zweiten Weltkrieges in Videospielen.
Die dort dargestellten Vergangenheitsbilder sind problematisch: Vom Mythos der „sauberen“ Wehrmacht bis hin zur fehlenden Darstellung des Holocaust und seiner zahlreichen Menschenrechtsverbrechen zeigen die Erzählungen oft eine reduzierte Komplexität. Diese Inszenierungen verstärken – trotz zahlreicher Verbesserungen im Laufe der Jahre – ein sehr spezifisches Bild der Vergangenheit.
Bis heute begleiten mich diese Themen beruflich: Kurz nach meinem Abschluss begann ich ein Volontariat im Musée National de la Résistance et des Droits Humains (MNRDH). Es ermöglichte mir, erstmals konkrete praktische Erfahrungen zu sammeln und die Weichen für meine aktuelle Karriere zu stellen. Die Komplexität des Krieges war dabei auch in der Museumsarbeit ein wichtiges Leitthema.
Mein erstes Projekt widmete sich den NS-Kampfgliederungen in Schifflingen, es entstand in Zusammenarbeit mit dem Historiker Jérôme Courtoy. Die Archivarbeit verdeutlichte die verschiedenen Motivationen der Akteur*innen: Nicht immer waren diese von reinem Fanatismus geprägt, oft spielten auch reiner Opportunismus oder die „Fortführung“ des Vereinslebens eine Rolle. So waren die NS-Organisationen oft die einzige Möglichkeit, ein Hobby – etwa Motorsport oder Sportfliegen – weiterhin zu verfolgen. Zum anderen zeigte die Arbeit die Komplexität der Nachkriegs-Anschuldigungen und den Mangel an konkretem Quellenmaterial deutlich auf. Dennoch konnte das Projekt die Verstrickungen der zahlreichen NS-Organisationen aufzeigen, ein Bild über die Mitgliedschaft und über die Aufgaben der Organisationen geben und deren Rolle bei der Kontrolle und Terrorisierung der Bevölkerung erläutern.
Anschließend arbeitete ich am Projekt „50 Faces, 50 Stories“ mit, einer Zusammenarbeit des Zentrum fir politesch Bildung, des Militärmuseums in Diekirch und des MNRDH. Das Projekt vereint 50 Biografien zahlreicher Akteur*innen des Krieges zur pädagogischen Nutzung in Schulen. Vom italienischen Antifaschisten, dessen Widerstand nach dem Krieg bewusst verdrängt wurde, bis hin zum Ortsgruppenleiter, der jahrelang dem NS-System half, ehe dieses ihn wegen seiner körperlichen Behinderung selbst ausschloss. 50 Schicksale mit großer Komplexität, die der Jugend helfen sollen, den Krieg besser zu verstehen.
Eines dieser Schicksale war das des Afro-Luxemburgers Jacques Leurs, über dessen Leben 2017 der Dokumentarfilm Schwaarze Mann: Un Noir parmi nous gedreht wurde. Meine Nachforschungen ergaben, dass Leurs eine von mindestens sechs Personen war, die in Luxemburg lebten und wegen ihrer Hautfarbe von der NS-Rassenpolitik verfolgt wurden. Die Geschichte von Leurs gehört zu sechs fast vergessenen Schicksalen, die von Diskriminierung über Drohungen bis hin zur Zwangsausweisung reichen. Die sechs Verfolgten stellen eine der zahlreichen vergessenen Opfergruppen dar, die ab 2024 in der Sonderausstellung „Victimes Oubliées“ des MNRDH dargestellt werden. Auch hier spielt die Komplexität eine Rolle – von den verschiedenen Schicksalswegen während des Krieges bis hin zum strukturellen Rassismus in der Vor- und Nachkriegszeit.
Neben Nachforschungen zur Geschichte der jüdischen Familie Loewenstein in Bettemburg forsche ich weiterhin zur Kollaboration: Meiner Analyse des „Nationalsozialistischen Fliegerkorps“ (NSFK) – der Sammelorganisation der Sport- und Freizeitflieger im besetzten Luxemburg – folgt demnächst eine Analyse der Hitlerjugend in Schifflingen. Ich kann mich glücklich darüber schätzen, diese Projekte in Zusammenarbeit mit zahlreichen anderen Historiker*innen anzugehen. Diese Kooperation bietet einen erkenntnisreichen Austausch und Perspektivenwechsel. Das ist auch deshalb wichtig, weil die zahlreichen NS-Organisationen eng miteinander verknüpft waren: Der NSFK arbeitete beispielsweise mit der Hitlerjugend zusammen und bildete zukünftige Luftwaffenpiloten aus.
Die Vergangenheit ist vielschichtig. Erschwerend kommt hinzu, dass nur einzelne Puzzleteile vorhanden sind, um die Komplexität der Geschichte darzustellen. Wir müssen die Strukturen der Kollaboration verstehen, um zu zeigen, was die Bevölkerung Luxemburgs während der NS-Zeit durchleben musste. Dies ermöglicht es uns auch, den Widerstand besser zu begreifen. Wer „Gut“ und „Böse“ analysiert, stellt fest, wie viele Grauzonen existieren: Wir können nicht nur vermitteln, wieso Menschen Widerstand gegen ein Terrorregime leisten, sondern auch, wieso der freundliche Nachbar plötzlich in Uniform seine Mitmenschen terrorisiert und menschenfeindliche Positionen teilt.
André Marques arbeitet seit 2022 als freischaffender Historiker. Neben den im Artikel erwähnten Projekten wirkt der Autor gemeinsam mit dem Historiker Thomas Woloszyn am Buch SPYROLUX 100 Joer fir Ierch am Asaz: 1922 – 2022 mit.
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