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Anfälliges Getriebe
Luxemburg muss sich nach den Grenzerfahrungen während der Coronakrise in der Großregion neu erfinden
Anfang Mai 2020 begann die Luxemburger Regierung damit, die Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Epidemie im öffentlichen und wirtschaftlichen Bereich sowie im Erziehungswesen progressiv zu lockern. Sie begründete dies mit dem starken Rückgang der Neuinfektionen und der Quasistagnation der durch das Virus verursachten Todesfälle. Sie tat das nicht, ohne vor den damit verbundenen Risiken zu warnen, und appellierte eindringlich an das individuelle Verantwortungsgefühl aller Bürger, die Regeln des social distancing zu wahren. Sehr bald aber wurde klar: Die Botschaft der Zurückhaltung kam nicht wirklich an. Nachdem die Cafés, Bars und Restaurants wieder öffnen durften und Versammlungen von bis zu 20 Menschen ohne Maskenpflicht erlaubt waren, ging die Party los.
Auf der Kinnekswiss, auf Dräi Eechelen, auf den Terrassen der angesagten Bistrots, in den Waldlichtungen, in den Kaschemmen des Rotlichtmilieus, in den Privatwohnungen und bei größeren und kleineren Anlässen ließen viele aus dem Lockdown entlassene Menschen jeden Alters, wenn auch die jüngeren am meisten auffielen, ihrer Lebensfreude, ihrem Bedürfnis nach kollektivem Rausch, nach Zusammenklüngeln- und hängen, und zuweilen auch ihrem Frust, ihrer Zerstörungslust und Aggressivität nach mehreren Monaten bedrückender Einschränkungen freien Lauf. Das Virus breitete sich wieder in der Bevölkerung aus. Dazu kamen Neuinfektionen in einigen der wieder geöffneten Schulen, die sich allerdings in Grenzen hielten, und in den Haushalten oder Häusern, in denen die Wohnverhältnisse als zu eng oder unwürdig beschrieben wurden.
Risikogebiet
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Situation für Luxemburg auch international bereits zugespitzt. Dänemark, Estland, Lettland und Litauen hatten gerade Einreisebeschränkungen für Reisende aus Luxemburg eingeführt. Norwegen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Zypern und Belgien – wegen der engen Bande und Feriengewohnheiten der Luxemburger an der Côte belge besonders heikel – sollten folgen. Und am 14. Juli geschah, was bei einem Überschreiten von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche in einem Gebiet geschehen musste, das vom deutschen Robert-Koch-Institut (RKI) beobachtet wird: Luxemburg wurde von Deutschland zum offiziellen Risikogebiet erklärt.
Am 17. Juli waren es bereits 163 Neuinfektionen, sodass Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) nichts anders übrigblieb als anzuerkennen, dass man es mit einer zweiten Welle zu tun hatte und neue Gegenmaßnahmen getroffen werden mussten. Für deren Ankündigung in der Nacht des 19. Juli ließ es sich Premier Xavier Bettel nicht nehmen, sich vom gerade in Brüssel tagenden EU-Krisenmarathongipfel schnell nach Luxemburg fahren zu lassen. Nach dieser Pressekonferenz verschwand der bisher stark im Vordergrund stehende liberale Premierminister Bettel ganz von der Corona-Szene.
Schock und Demütigung
Die Einstufung Luxemburgs zum COVID-Risikogebiet durch Deutschland löste einen großen gesellschaftlichen Schock diesseits und jenseits der Mosel aus. „Bitte nicht schon wieder“, titelte die FAZ vom 16. Juli mit einem äußerst empathischen Artikel, dessen Untertitel die Situation trefflich zusammenfasste: „Auf beiden Seiten der Grenze wächst die Angst, dass sich die Schlagbäume abermals senken könnten – mit fatalen Folgen für die Großregion.“ Als die Idee von obligatorischen Tests an der Grenze von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ins Spiel gebracht wurde, stieg die Gefahr einer De-facto-Grenzschließung noch weiter an.
Außenminister Jean Asselborn (LSAP) hatte Mitte Mai, nach der Aufhebung der zwei Monate anhaltenden traumatisierenden, unilateralen Grenzschließung durch Deutschland gegenüber seinem deutschen Amtskollegen Heiko Maas (SPD) auf der Schengener Brücke, den Wunsch geäußert, dass es Einschränkungsmaßnahmen an den Grenzen nur noch nach gegenseitiger Rücksprache geben sollte. Er fühlte sich jetzt von seinem deutschen Kollegen, wie er ein Sozialdemokrat, düpiert und hatte alle Mühe, seine Enttäuschung zu kaschieren. „Die Bundesregierung hat uns nicht vorab informiert, geschweige denn konsultiert“, wurde Jean Asselborn am 1. August vom Spiegel zitiert. „Wir haben aus den Medien davon erfahren“, beklagte er sich, und das klang nicht nur nach Ärger, sondern auch nach Enttäuschung über die öffentliche Demütigung. Der deutsche Botschafter in Luxemburg, Heinrich Kreft, wurde zu einem Gespräch ins Außenministerium gebeten. „Einbestellt“ aber hieß es in der Presse zunächst, was diplomatisch eine durchaus unfreundlichere Geste gewesen wäre, und diese Meldung verstärkte noch die Verstimmungen an beiden Ufern der Mosel.
Denn inzwischen war bekannt geworden, dass luxemburgische Gäste in deutschen Hotels abgelehnt worden waren, Patienten aus Luxemburg trotz negativem COVID-Test erst nach dem diplomatischen Eingreifen des Gesundheitsministeriums ihre ärztliche Behandlung in Deutschland bekamen, dass Studierende aus Luxemburg, die nach Deutschland reisen durften, u. a. um ihre Prüfungen abzulegen, auf verschiedenen Campus nicht willkommen waren. Auch in einigen Geschäften in der Grenzregion soll es zu unangenehmen Abweisungen gekommen sein. Die Gerüchteküche tat das ihre, die Emotionen, in den sozialen Medien angeheizt, kochten hoch. Berlin, das sich gewiss nicht besonders elegant angestellt hatte, lieferte selbst die Vorlage für die luxemburgischen Tiraden gegen die unbelehrbaren Preußen, die nach zwei Monaten Pause nun wieder begannen, die Luxemburger an der Grenze zu schikanieren.
Beschwichtigung
Anders als Xavier Bettel, der während einer Pressekonferenz mit Paulette Lenert am 16. Juli die neue Grenzkonstellation zwischen Luxemburg und Deutschland auf die Problematik der nunmehr vereitelten „Butterfahrten nach Trier“ reduzierte, für die man kein Anrecht auf einen COVID-Test hätte, stellte das Außenministerium trotz aller Irritationen schnell klar, was weiterhin möglich war, und wachte zusammen mit den Landesregierungen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland darüber, dass die über 50.000 Grenzpendler, aber auch Menschen, die sich weniger als 72 Stunden in Luxemburg aufgehalten hatten, und Personen mit einem triftigen Grund – ärztliche Behandlung, Familie, Pflege, Sorgerecht und getrenntes Sorgerecht etc. – aus Luxemburg auch ohne Test und/oder Quarantänepflicht einreisen durften. Mainz war schon von der Grenzschließung im März 2020 nicht begeistert gewesen, und Saarbrücken, das in einer panischen Reaktion die Grenzschließung am Anfang der Coronakrise mitgetragen hatte, gab sich seit Mai große Mühe, das zerstörte Porzellan besonders mit der Région Grand Est, aber dann auch mit Luxemburg wieder zusammenzukleben.
Keines der benachbarten Bundesländer war von den brüskierenden Entscheidungen aus dem fernen Berlin angetan und beide arbeiteten im Bundesrat offen auf Schadensbegrenzung hin. Paulette Lenert nutzte die Gelegenheit, schloss sich mit ihren Amtskolleginnen aus Mainz, Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD), und Saarbrücken, Monika Bachmann (CDU), kurz, und konnte damit nicht nur einige Elemente kooperativer Normalität einbringen, sondern auch Luxemburgs Argumente – vermittelt über ihre Partnerinnen – nach Berlin an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn weiterleiten. Mit dem Saarland einigte Lenert sich auf eine verstärkte Zusammenarbeit in der Bekämpfung der Pandemie. Mit Rheinland-Pfalz arbeitet Luxemburg an einem Abkommen, wonach Rettungswagen beider Länder über die Grenze fahren dürfen, um sich im medizinischen Notfall gegenseitig zu helfen.
Nicht auf dem Schirm
Diese unerwartet positive Wendung wurde von der Presse, mit Ausnahme von Radio 100,7, kaum gewürdigt. Die letzten Krisenmonate haben mehr denn je gezeigt, wie wenig sich die mediale und politische Szene Luxemburgs für das politische Personal und die Vorgänge bei den direkten Nachbarn in Mainz bzw. Trier und Saarbrücken, aber auch in Metz, Straßburg, Namur und Arlon interessiert. Und wenn Interesse da ist, scheint es eher punktuell auf und weist nur selten auf das evidente gegenseitige vitale Interesse hin, das Luxemburg mit seinen Nachbargebieten verbindet. Von Corinne Cahen, der für die Großregion zuständigen Ministerin der Liberalen, hörte man in diesen Tagen der großregionalen Ver- und Entwirrung nichts außer dieser flachen Passe-partout-Antwort auf eine Sommerinterviewfrage der Hauspostille Journal vom 1. August: FRAGE: „Ist Europa, vor allem aber auch die Großregion, in der Corona-Krise gestorben?“ CAHEN: „Nein, aber Europa hat wohl auch nicht unbedingt dabei gewonnen. Die Bürger der Großregion sind sich wohl nun eher bewusst, dass wir alle keine Grenzen mehr kennen und wollen, und dass der eine den anderen braucht.“
Was aber noch weniger thematisiert wurde, war die Frage, warum es, abgesehen von den schlechten Berliner Manieren, bei allen möglichen Betroffenen so viel Erregung gab über die deutschen Maßnahmen, aber weniger über die vollkommen unklaren und chaotischen Einschränkungen und Bedingungen für jene, die sich aus Luxemburg nach Belgien und vor allem an die belgische Küste begeben wollten.
Hier helfen einige rudimentäre demografische Daten weiter. Rund 34.200 Luxemburger, also ein erheblicher Prozentsatz aller Menschen mit Luxemburger Pass, lebten 2019 in den drei Nachbarländern: 4.500 in Belgien, 8.400 in Frankreich und 21.300 in Deutschland, dort mit einem Zuwachs von 10 % in zwei Jahren. In den Nachbarregionen sind es insgesamt mindestens 20.000. In der belgischen Province du Luxembourg leben je nach Quelle zwischen 2.020 und 2.800 Luxemburger. Von Frankreich nach Luxemburg pendeln ca. 2.800 sozialversicherte Luxemburger, sodass man davon ausgehen kann, dass noch mehr dort leben, aber sie werden in den Tabellen des INSEE für die Départements Moselle und Meurthe-et-Moselle nicht detailliert aufgeführt. Von den 21.300 in Deutschland lebenden Luxemburgern lebten 4470 im Saarland und 9470 in Rheinland-Pfalz, anders gesagt: mehr als zwei Drittel einer wachsenden Luxemburger Diaspora in Deutschland. Damit wird klar, dass die Berliner Maßnahmen unweigerlich einen viel größeren Impakt auf den Alltag vieler Luxemburger jenseits und diesseits der Grenzen haben mussten als die belgischen.
Beeinträchtigungen
Die völlig nutzlose und willkürliche Grenzschließung zwischen März und Mai 2020 war für Familien, Menschen mit geteiltem Sorgerecht, Studierende, Kranke, Pflegefälle, bei denen die Familie oder ein Teil der Familie sich auf der anderen Seite der Grenze befand, Berufstätige, die nicht den Pendlerstatus hatten und z. B. für Wartungen an industriellen Einrichtungen nicht mehr nach Luxemburg geschickt werden durften, und für die Pendler, die vieles in Kauf nehmen mussten, eine traumatisierende Periode. Umso größer war der Schreck, als Luxemburg dann als Risikogebiet eingestuft wurde, für die zahlreichen Betroffenen, deren Kreis eben nicht nur auf die über 50.000 Pendler und die fast 14.000 im deutschen Grenzgebiet angesiedelten Luxemburger beschränkt ist, Zahlen, die sich teilweise überkreuzen. Die eingeübte, sich im Einklang mit den europäischen Freizügigkeiten und dem damit verbundenen Vertrauen in die Zukunft entfaltende Lebensweise von vielen Hundertausenden an der Grenze wurde erneut in Frage gestellt. Wirtschaftlich dürften die Folgen beiderseits verheerend sein, nicht nur im Einzelhandel von Trier und Saarbrücken, deren Vertreter häufig in den Medien auftraten, um die neuen Einschränkungen zu kritisieren.
Dabei haben die kommunalen Verwaltungen, die in den benachbarten Bundesländern für die Ausführung der Pandemie-Anordnungen zuständig sind, sich durchaus als vertrauensbildende Partner der dort ansässigen Luxemburger Bürger erwiesen, um ihnen das grenzübergreifende Leben unter den Bedingungen der Risikogebietsregeln so erträglich wie möglich zu machen. Von Stigmatisierungen durch die Behörden vor Ort kann nicht die Rede sein.
Bundesländer als Fürsprecher
Nicht die Länder und die Kommunen, sondern der Bund war die Quelle der Verstörung. Die Länder waren – so weit, wie sie dazu befugt waren – Fürsprecher des Großherzogtums und seiner Anti-Corona-Strategie, diskret zu Beginn der neuen Beschränkungen, lauter und expliziter im August, als sich die Hinweise einer auf die Bürger übergreifenden Verunsicherung bis Zerrüttung des gegenseitigen Vertrauens häuften. Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) etwa hat so auf die „massiven Auswirkungen“ der Risikogebietsregeln und die „enge Verbundenheit“ zwischen Rheinland-Pfalz und Luxemburg verwiesen, und wie wichtig es für die Bürger sowie den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr in der Grenzregion sei, die Einstufung als Risikogebiet aufzuheben.
Und dennoch kam es in den zwei Tagen, nachdem Luxemburg nicht mehr als Risikogebiet eingestuft war, zu wahrhaftigen „journées folles“. Mainz hatte sich bizarrerweise nicht dazu überwinden können, die Quarantäne- und Testpflicht sofort aufzuheben, sondern zog es zuerst vor, diese erst am 31. August zu beenden, also zwölf Tage nach Aufhebung der Einstufung von Luxemburg als Risikogebiet. Saarbrücken war zuerst anderer Meinung, zog dann aber mit Mainz nach, was einige Bestürzung in Luxemburg auslöste. Das Wirrwarr schien perfekt zu sein. Dann rauften die Regierungen sich zusammen, und am 21. August hieß es in einem gemeinsamen Communiqué: „Nach erneuten Gesprächen zwischen den Landesregierungen Rheinland-Pfalz und Saarland mit der luxemburgischen Regierung haben sich die Nachbarländer darauf verständigt, dass Menschen, die aus Luxemburg einreisen, keine Quarantäneregelungen zu beachten haben. Damit wurde ein Weg gefunden, die engen nachbarschaftlichen Beziehungen sowie die gute Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich zu verfestigen.“ Drei vernünftige Frauen in hohem Amt hatten es geschafft, den Amtsschimmel zu bändigen, bevor er durchzugehen drohte.
Anfälligkeit und Sorglosigkeit
Der Krisensommer 2020 hat wiederum gezeigt, wie verletzlich Luxemburg als staatliches Gebilde nach innen und nach außen geworden ist, mit seiner in Europa einzigartigen Zusammensetzung der Bevölkerung, mit seiner ganz auf die Freizügigkeiten der EU setzenden Wirtschaft und Gesellschaft, mit seiner Verwobenheit mit seinen Nachbargebieten, ohne deren menschliche und materielle Ressourcen es nicht funktionieren kann. Luxemburg ist aber nicht deswegen anfällig geworden, weil es so stark mit seiner Nachbarschaft verwoben ist und weil es auf die Freizügigkeiten der EU setzt, sondern weil es nach innen und nach außen eine Politik betreibt, die mit diesen Elementen – man könnte auch sagen wertvollen gemeinschaftlichen Gütern, weil in ihnen großes positives Potenzial steckt – sorglos umgeht.
Anfang Juli, also noch vor der Einstufung Luxemburgs als Risikogebiet, schreibt Bernard Thomas im Lëtzebuerger Land in seinem geistreich betitelten Beitrag „Après les déluges“: „Durant la pandémie de 2020, les rapports de force entre la métropole et son hinterland ont changé. Les milieux financiers avaient rêvé le Luxembourg comme plateforme déterritorialisée, reliée à d’autres centres offshore comme Londres, Singapour ou Dubaï. Ils se sont réveillés aux réalités géopolitiques d’un micro-Etat enclavé, risquant l’asphyxie.“ Und er fügt hinzu: „Cette vulnérabilité désormais exposée, le Luxembourg aura beaucoup de mal à se soustraire à la revendication de compensations fiscales portée par les maires de Trèves, Villerupt et Metz.“
Die sukzessiven Bettel-Regierungen haben die Großregion systematisch vernachlässigt. Die Regierung tut immer noch so, als ob Luxemburg die einzige Metropole sei und die Nachbargebiete ihr Hinterland. Sie haben weder den Geist noch die klugen und differenzierten Vorschläge des vor zehn Jahren von der Großregion bestellten Metroborder-Berichts1, den die letzte Juncker-Regierung noch gutgeheißen hatte, aufgegriffen. Erst mit der Coronakrise dämmert ihr, dass die hierzulande beschäftigten Grenzgänger mehr sind als nur Arbeitskräfte. Aber sie verdrängt immer noch die Frage nach den Folgen des massiven Pendelns auf die Lebensqualität der Menschen diesseits und jenseits der Grenzen, wohlwissend, dass dieser auch mit der Telearbeit aus steuerpolitischen Gründen nicht abnehmen kann. Sie verdrängt nicht nur systematisch die Frage nach den Kosten des Luxemburger Modells für die Kommunen und Gebietskörperschaften jenseits der Grenzen, sondern der Premier hat sie vor der Krise zuweilen verächtlich verballhornt. Sie betreibt weiter eine grenzübergreifende Verkehrspolitik, von der sie weiß, dass sie die Quadratur des Kreises einer optimalen Fluidität nie in den Griff bekommen kann, weder mit verbreiterten Autobahnen noch mit ausgebautem Schienennetz.
Die Regierung hat auch die strukturellen Ursachen der massiven und nicht abnehmenden Abwanderung der eigenen Landsleute in die Grenzregionen weder wahrgenommen noch thematisiert. Sie hat diese zahlreichen und sehr unterschiedlichen Menschen, die nach dem einen Erklärungsschema sich in Luxemburg keine Wohnung leisten konnten und deswegen wegzogen, und nach dem anderen Erklärungsschema sich mit ihren fetten Luxemburger Löhnen eine billigere Immobilie in einer der Nachbarregionen als Profiteure beider Systeme unter den Nagel gerissen haben, völlig vernachlässigt. Sie hat die Interessen dieser Diaspora, der in den Medien, und besonders in den sozialen Medien, etwas Anrüchiges angedichtet wird, seit Jahren und erst recht nicht in der Coronakrise weiter wahrgenommen. Dabei müsste man es in dieser Epoche großer Migrationen im Einwanderungsland Luxemburg besser wissen: Niemand verlässt freiwillig sein Land, er tut es erst nach reichlicher Überlegung, wenn es viel, viel bessere Opportunitäten woanders gibt oder er einfach nicht anders kann.
Schlecht informiert
Und weil sie die Großregion vernachlässigt hat, ist die Luxemburger Regierung schlecht informiert über das, was sich in ihrem Umland, in der Province du Luxembourg, im lothringischen Teil des Grand Est, in der Politik der Région Grand Est, in Rheinland-Pfalz und im Saarland abspielt. Wo die Entwicklungen hingehen, wie der demografische Wandel sich an Luxemburgs Grenzen vollzieht, wie sich das politische Personal entwickelt, welche neuen richtungsgebenden Umgestaltungsvorschläge kursieren, welche Akteure für Luxemburg wichtig sein könnten, welche Kooperationsmöglichkeiten sich auftun, Antworten auf diese Fragen liefert keine bilaterale Botschaft, denn die ist zu weit ab vom Schuss. Auch kein Beamter, der sich mit der Großregion befasst, liefert sie, weil es nicht sein Auftrag ist, Verbindungen zu politischem Personal oder anderen einflussreichen oder relevanten Personen aufzubauen, kein ehrenamtlicher Konsul, der vielleicht zwei Stunden pro Woche für Luxemburger Belange erreichbar ist – wenn er es überhaupt ist. Auch die Presse tut sich mit einigen löblichen Ausnahmen schwer damit, hier ein Kontinuum reinzubringen. Und was die sozialen Medien vermitteln, ist zu fragmentarisch bis kaleidoskopisch, auch wenn sie atmosphärisch oft nah am Ball sind.
Dabei hat die Coronakrise nicht nur die Anfälligkeit Luxemburgs offenbart, sondern vor allem seine Abhängigkeit. Gewiss ist Luxemburg die wirtschaftlich dynamischste und in seinem unmittelbaren Umland treibende Kraft der Région métropolitaine polycentrique transfrontalière, wie sie der Metroborder-Bericht zugleich treffend und ein wenig barbarisch nannte, aber eben nicht die einzige, auch wenn sie so tut. Die Krise hat viele Grenzgänger, die wegen des Lockdowns zu Hause bleiben mussten, dazu gebracht, über die Strapazen nachzudenken, die der Job in Luxemburg mit sich bringt, und abzuwägen, ob das Lebenszeit raubende Pendeln sich trotz des Lohndifferentials weiter lohne. Die Hybris der Luxemburger Regierung hat in den letzten zwei Jahren zu einer schleichenden atmosphärischen Verschlechterung bei den Pendlern geführt, die mehr als andere Wettbewerbsfähigkeitskriterien der Attraktivität des Landes als Arbeitgeber schadet. Das Plädoyer von Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) auf Radio 100,7 am 21. August für verkürzte Arbeitszeiten als Wettbewerbsvorteil, der den der höheren Löhne verstärke, ist ein Indiz dafür, dass dieser um sich greifende Sinneswandel auch bei einigen Regierungsmitgliedern angekommen ist.
Sich in der Großregion neu erfinden
Wenn Luxemburg das Gespenst der Abhängigkeit bannen will und sich wieder sicherer in der Großregion verankern will, muss seine Regierung auf ihr Umland, die nicht ihr Hinterland ist, zugehen, auf eine kontinuierliche Kooperation mit den zuständigen Gebietskörperschaften setzen, die belgische Province, die Départements, die Région Grand Est und die Bundesländer, ihre Entscheidungsträger und ihre Bürger besser kennenlernen, nicht auf einseitige Ausnutzung der Ressourcen des Umlandes setzen, sondern das konzertierte Fließen von Steuergeldern ins Auge fassen als Gegenleistung für die Beschäftigung der woanders ausgebildeten und an ihrem Wohnort substanziell weniger Steuern zahlenden Grenzgänger, und es muss, gemeinsam mit den Partnern der drei Nachbarländer, neue wirtschaftliche grenzübergreifende, regionale Entwicklungsmodelle konzipieren.
Luxemburg muss auf Interdependenzen setzen, wenn es nicht abhängig bleiben will, auf Abkommen, die eine Beschneidung der grenzübergreifenden EU-Freizügigkeiten in Zukunft ausschließen. Seine Regionalpolitik müsste zugleich Souveränitäts- und Europapolitik sein, insofern das europäische Projekt auf eine Stärkung durch Kooperation qua Teilung der Souveränitätskompetenzen setzt. Vor allem: Die Regionalpolitik gehört ins Außenministerium, in das „ministère régalien“, das mit hoheitsrechtlichen Befugnissen ausgestattet unbefangener im „Ausland“ verhandeln kann.
Wenn es in Frankreich als Geniestreich des jungen neuen französischen Staatssekretärs für europäische Angelegenheiten, Clément Beaune, gilt, dass, wie Michaela Wiegel am 27. Juli in der FAZ schrieb, „sein Hauptaugenmerk“ Deutschland galt und er Macron dazu brachte, „nicht nur auf Regierungskontakte zu setzen, sondern viel stärker die Ministerpräsidenten zu berücksichtigen“, dürfte es wohl für jeden Luxemburger Außenminister ein Leichtes sein, die benachbarten deutschen Bundesländer wie die französischen und belgischen Gebietskörperschaften des Umlandes neu zu entdecken, ihnen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie angesichts der eigenen vitalen Interessen verdienen und koordiniert den Fachministern die Wege zu bahnen, die für eine vertiefte regionale Kooperation notwendig sind.
Es wäre dann wohl zuerst entscheidend, hauptamtliche Konsulate bzw. Vertretungen bei diesen Körperschaften in Mainz, Saarbrücken, Namur und Straßburg/Metz zu akkreditieren. Diese müssten von im ganzen Staatsapparat gut vernetzten Topbeamten geleitet werden. Ihre Aufgabe: die Luxemburger Regierung und die Fachministerien unmittelbar und horizontal besser über alle für die Beziehungen mit dem Umland relevanten Entwicklungen informieren; Kontakte zu den Entscheidungsträgern in allen möglichen Gebieten, die für die Großregion relevant sind, aufbauen; prospektiv ganz auf Interdependenz und Kooperation setzen. Sie müssten zugleich das Phänomen der Luxemburger Diaspora erfassen helfen. Mit einer so besser informierten, umsichtigen, fairen und vertieften regionalen Kooperation, die stärkere Interdependenzen in der Großregion schafft, und damit mehr Europa, bräuchte die Luxemburger Regierung sich in Krisenzeiten viel weniger, wenn überhaupt, davor fürchten, dass die vitalen EU-Freizügigkeiten durch die Zentralregierungen der Nachbarländer eingeschränkt werden könnten, von denen zwei Föderalstaaten sind.
Luxemburg, zurzeit noch sehr anfällig wegen seiner Abhängigkeiten, könnte sich in der Interdependenz mit seinem Umland so territorial neu erfinden. Es bräuchte nicht mehr in die demütigende Opferrolle zu schlüpfen, die aus aufbäumenden Verlautbarungen in den letzten Wochen herausklang, mit Ausnahme derer von Paulette Lenert, die es mit ihren Teams und dem richtigen Ton und Umgang mit den regionalen Partnern in ihrem, dem gesundheitspolitischen Bereich, zukunftsweisend gerichtet hat.
- https://europaforum.public.lu/fr/actualites/2011/02/metroborder-synthese/index.html (letzter Aufruf: 24. August 2020).
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