Antonioni oder: Kein Ende in Sicht
Vor zehn Jahren starb der italienische Filmregisseur Michelangelo Antonioni im Alter von 94 Jahren in Rom. Sein Werk ist immer noch aktuell.
Michelangelo Antonioni ist ein Name, der für den Film ebenso prägend ist, wie Albert Camus für die Literatur oder Giorgio de Chirico für die Malerei. Zweifelsohne gilt Antonioni (etwa neben Federico Fellini oder Ingmar Bergman) als einer der bedeutendsten Modernisierer des Kinos in Europa nach 1950. „Die Krankheit der Gefühle“1 nannte er sein Thema und reflektierte dieses in seinem filmischen Werk, welches die internationale Filmgeschichte bis heute prägt.
Schon sein Frühwerk zeigt, dass seine Filme zuweilen stark dokumentarische Züge besitzen. Sie versuchen, Einblicke in das Leben in der Gegend der Po-Ebene zu geben (vgl. etwa Gente del Po 1947, Cronaca di un amore 1950, Il grido 1957). Besonders gilt dies für die Filme seiner berühmten italienischen Trilogie, L’avventura, La notte und L’eclisse. (Gelegentlich wird dieser Korpus auch um Antonionis ersten Farbfilm Il deserto rosso zu einer Tetralogie erweitert.) Sie sind alle im Zeitraum von 1960-1964 entstanden und gelten heute einstimmig als Meisterwerke der Filmgeschichte.
Die große Trilogie
Gerade in diesen Filmen, die oft als die „Kernwerke“ Antonionis betrachtet werden, entfaltet sich sein ästhetischer Aufbruch.2 Es sind Filme, die radikal mit der Tradition des klassischen Erzählkinos brachen, die Dramaturgie folgt einer Logik der „Entdramatisierung“, die narrative Form wird zunehmend elliptisch, fragmentarisch –t offen. 3
L’avventura (1960) wurde bei seiner Premiere in Cannes überwiegend negativ aufgenommen. Ein Umstand, der davon zeugt, dass das Publikum die Intentionen Antonionis zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden und seine Suche nach einer neuen künstlerischen Form erst nachträglich erkannt hat. In diesem Film, seinerzeit von Umberto Eco hoch gelobt4, werden die narrativen Innovationen Antonionis erkennbar. Der Film beginnt mit den Vorbereitungen zu einer geplanten Bootsfahrt, an der Personen unterschiedlicher sozialer Klassen teilnehmen: Anna (Lea Massari), ihre Freundin Claudia (Monica Vitti) und ihr Freund Sandro (Gabriele Ferzetti). Über die anfangs etablierte Figurenkonstellation kann man dazu verleitet werden, eine Dreiecksbeziehung zu vermuten, doch diese Erwartung wird – wie für Antonioni typisch – nicht erfüllt. Als die Reisenden auf einer kargen Insel im Mittelmeer an Land gehen, verschwindet plötzlich Anna. Claudia und Sandro machen sich zuerst einzeln, dann gemeinsam auf die Suche nach der verschwundenen Anna. Was bei oberflächlicher Betrachtung wie eine Kriminalgeschichte anmutet, entpuppt sich nach und nach als komplexe Charakterstudie, die sich in eindrucksvollen Landschaftsaufnahmen entfaltet. Ins Zentrum der Handlung rückt allmählich eine neue Liebesbeziehung zwischen Claudia und Sandro, die anfängliche Suche scheint nicht mehr zu interessieren. In diesem Sinne handelt der Film von einem doppelten Verschwinden, an deren Ende die Figur der Anna entschwunden bleibt. Antonionis nächster Spielfilm La notte (1961) ist von den dreien am konventionellsten erzählt. Im Zentrum der Erzählung, die in etwa einen Tagesablauf von achtzehn Stunden schildert, steht das Ehepaar Giovanni (Marcello Mastroianni) und Lidia Pontano (Jeanne Moreau), das sich nach zehn Jahren auseinander gelebt hat. Im Krankenhaus besuchen sie ihren todkranken Freund Tommaso. Anschließend gehen sie getrennte Wege- nichts scheint sie noch zu verbinden. Lidia sucht die Orte ihrer Vergangenheit auf, indem sie durch die Straßen Mailands flaniert. Unterdessen besucht Giovanni zu Vermarktungszwecken seines neuen Buches eine Party, auf der er sich von der schönen Valentina Gherardini (erneut Monica Vitti), der Tochter des Gastgebers, angezogen fühlt. Giovanni stellt fest, wie weit er sich von Lidia distanziert hat. Das Ende der Nacht ist gleichsam das Ende des Films: Lidia gesteht ihrem Mann, dass sie ihn nicht mehr liebt. Wie die Zukunft des Ehepaares aussieht, lässt der Film offen.
Narrativ noch experimenteller fällt Antonionis nächster Film L’eclisse (1962) aus. Auf unkonventionelle Weise leitet der Filmanfang die Trennung Vittorias (wieder Monica Vitti) von Ricardo (Francisco Rabal) ein. Wir steigen in medias-res in die Erzählung ein und erst nach und nach ziehen wir Schlüsse und fügen das Gezeigte zusammen, wobei stets eine fundamentale inhaltliche wie auch formale Intransparenz bestehen bleibt. Stets fordert Antonioni die aktive Beteiligung des Zuschauers an seinem Werk. Seine Verweigerung der narrativen Erfüllung ist Programm: Am Ende des Films verabreden sich Vittoria und Piero (Alain Delon), doch keiner der beiden ist in der Schlussszene am vereinbarten Ort anzutreffen.
Durch das Ausbleiben der beiden Hauptfiguren am Ende des Films führt der Film eine radikale Verweigerung narrativer Geschlossenheit vor, wie sie in der Form selten zu finden ist.
Offene Enden meinen im geläufigen Sinn, dass die Filme kein „richtiges“ Ende besitzen, dass sie „irgendwie“ enden. Dieser Auffassung ist man, wenn man die formale Geschlossenheit als Norm annimmt, und eben dieser Rezeptionshaltung versucht Antonioni entgegenzuwirken.
Offene Form – neuer Erzählrhythmus
Wie hier ausgeführt, folgen Antonionis Erzählungen nicht dem Prinzip der Geschlossenheit. Die Narration wird nicht angetrieben durch Ursache und Wirkung, sein Erzählschema wird zunehmend offen und anstelle von Kausalität tritt Kontingenz. Bei Antonioni entsteht somit ein neuer Rhythmus der Erzählung: In seinen Filmen kommt es zur Ausschöpfung der „temps mort“5, jene Momente in denen alles gesagt zu sein scheint, die Figuren längst das Bild verlassen haben, die Kamera aber dennoch verweilt und ein Interesse an der Leere und Stille findet. Spürbar werden ebenso die Gesprächspausen, in denen eine Emotion nach verbalem Ausdruck sucht, die Sprache angesichts der Komplexität der Gefühlslage indes versagt.
Antonioni nimmt sich die Freiheit zur Gestaltung schwach narrativer Passagen, wie etwa die Szene des verlassenen Dorfes in L’avventura, Lidias Spaziergänge durch die Straßen Mailands in La notte oder Vittorias Suche nach dem Hund und der anschließende Ausflug nach Verona in L’eclisse. Diese Szenen sind narrativ deshalb so schwach, weil sie dem Voranschreiten der Erzählung nicht dienen. Der innere Themenkomplex der Filme, den Antonioni unter dem oben genannten Sammelbegriff gefasst hat, entfaltet sich in diesem Stillstand der Zeit: Die Entfremdung, das Kommunikationsproblem und das Nicht-Gelingen einer Beziehung sind zentrale Ideen in Antonionis Filmen. Hierin grenzt er sich zudem vom italienischen Neorealismus ab, jener filmischen Strömung der Nachkriegszeit, die sich auf die Fahnen schrieb, das soziale Elend einer vom Krieg zerrütteten Gesellschaft abzubilden. Antonioni meinte, man müsste sich des Fahrrads aus Ladri di Biciclette (Vittorio De Sica, IT 1945) entledigen, da dieses noch die Handlungsmotivation des Protagonisten ausmachte, und man sollte sich stattdessen auf das Innenleben der Figuren konzentrieren. Gemeinsam ist den drei Filmen die innere Zerrissenheit der Protagonisten, die nicht mehr aus dem Proletariat, sondern ausschließlich aus den oberen Gesellschaftsschichten stammen und in diesen verkehren. Wegen diesem Umstand schreibt man den Filmen Antonionis auch den Status des „inneren Realismus“ oder auch des „Upper Class-Neorealismus“ zu. Antonionis „Helden“ besitzen eine Fremdheit zur äußeren Welt und zur eigenen Innenwelt. Daraus resultieren Kommunikationsprobleme, die nicht gelöst werden und gewissermaßen der „Krankheit der Gefühle“ geschuldet sind. Die Ursprünge dieser Gefühlszustände sind bei Antonioni niemals eindeutig zu bestimmen. Dass damit eine Aufhebung vorgefertigter, zentrierter Fragestellungen auf das Leben einhergeht, ist augenscheinlich. Antonionis Filme favorisieren durch die offene Form mehr als eine Lesart: Jede Interpretation ist somit gleichzeitig eine Realisation.
Antonioni in England und Amerika: Blowup und Zabriskie Point
Antonionis erster englischsprachiger Film Blowup (1966) präsentiert-wie für das Art-Cinema typisch-einen hohen Grad an Selbstreflexivität: Der Film thematisiert auf eindrückliche Weise das künstlerische Schaffen und das Wesen des Films.
Antonioni konstatierte recht früh, dass es ein natürliches Spannungsverhältnis gibt zwischen der Realität des alltäglichen Lebens und dem künstlichen Abbild davon, wie es durch den technischen Apparat der Kamera eingefangen wird. Dieser Diskurs ist auch in Blowup angelegt: Der berühmte Modefotograf Thomas (David Hemmings) versucht sich zugleich als Künstler und schießt in einem Park Fotos eines heimlichen Liebespaares. Beim Vergrößern der Bilder (engl. blow up) wird der Fotograf zunehmend unruhiger, macht sich doch die Vermutung breit, er wäre unbewusst Zeuge eines Mordes geworden. Im Park findet er tatsächlich eine Leiche, aber ob es sich wirklich um einen Mord gehandelt hat, lässt der Film offen. Was wiederum oberflächlich wie eine Kriminalgeschichte wirkt, ist unterschwellig viel komplexer angelegt, werden doch Fragen über die Glaubwürdigkeit fotografischer Abbildungen und somit über das Wesen des Films per se verhandelt. Am Ende schreitet Thomas im Park an einem Tennisplatz vorbei, auf dem junge Leute ein Tennisspiel auf merkwürdig pantomimische Weise aufführen, bei dem sowohl Ball als auch Tennisschläger irreal sind. Als der imaginäre Ball in Thomas’ Nähe landet, wirft er ihn zu den Spielenden zurück. Und wieder verschwindet am Ende der Protagonist, wenn er mittels Stopptrick inmitten eines Londoner Parks wie von der Rasenfläche verschluckt wird. Der Stoff wurde gleich mehrmals in Hollywood adaptiert: Francis Ford Coppolas The Conversation (1974) mit Gene Hackman oder Brian DePalmas Blow Out (1981) mit John Travolta bilden eine Hommage an Antonionis Film.
1970 erschien Zabriskie Point, Antonionis erster in Amerika gedrehter Spielfilm. Einerseits ist die Handlung des Films in Los Angeles angesiedelt, andererseits am Zabriskie Point, einem Aussichtspunkt in der Wüste des Death Valley. Erzählt wird die Annäherung zwischen dem Studenten Mark (Mark Frechette), der im Verdacht steht einen Polizisten erschossen zu haben, und Sekretärin Daria (Daria Halprin), die auf dem Weg zu einem Treffen mit ihrem Chef in Phoenix ist. Der Film orientiert sich am Puls der Zeit und wirft kritische Blicke auf kontroverse Themen wie die 68er Bewegung, die Gewaltbereitschaft der Jugend oder das Waffengesetz in Amerika. Und wieder präsentiert Antonioni eines der berühmtesten Enden6 der Filmgeschichte: Als Daria am Ende des Films die Villa ihres Chefs betrachtet, scheint sie – wie durch Kraft ihrer Gedanken – diese zum Explodieren zu bringen. Neben der zerberstenden Villa, die wir aus mehreren Blickwinkeln betrachten, sehen wir Bilder diverser Explosionen (von Kleidern, einem Fernseher, Lebensmitteln u.s.w). In den letzten Filmbildern verschmelzen Fantasie und Wirklichkeit zu einer fast sechs Minuten andauernden Schlussszene. In diesen finalen Einstellungen entfaltet sich durch extreme Zeitlupe und der Musik von Pink Floyd ein eindrucksvolles Stimmungsgebilde: Es sind Bilder von immenser Schönheit. Und einmal mehr bleibt das Ende offen: Es gibt keine narrative Endsetzung, der Zuschauer verlässt die Diegese in einer Art Schwebezustand, der ihn dazu anregt, über das Gesehene nachzudenken. Zabriskie Point wurde zwar aufgrund unbekannter Schauspieler und mangelnden Identifikationsangebots ein kommerzieller Misserfolg – heute aber genießt der Film Kultstatus.
Antonioni heute
Im Bruch mit Erwartungshaltungen, dem Abbruch von Erzählsträngen sowie dem Verschwinden lässt sich klarerweise Antonionis Suche nach einer neuen künstlerischen Form ablesen. Die filmische Erzählweise gilt es für ihn so einzusetzen, dass sie dem eigentlichen Leben näher kommt. Er ist folglich auf der Suche nach einer Erzählweise, die sich auf adäquatere Weise an die Alltagssituationen adaptiert. Sinngebungen müssen vom Zuschauer erst vorgenommen werden, der Alltagswahrnehmung ähnlich: „Ich bin ein Regisseur […], der sich bemüht hat, eine bestimmte Linie zu verfolgen, einen bestimmten Zusammenhang zu wahren. Ich halte das nicht für mein Verdienst, sondern ich sage es, weil es die einzige Art und Weise war, in der es mich interessierte, Filme zu machen.7“
An dieser Verschreibung unter eine filmische Idee hielt Antonioni Zeit seines Lebens fest. Das Schaffen des 2012 verstorbenen griechischen Filmemachers Theo Angelopoulos ist zweifelsohne von Antonioni geprägt. Auch wenn der iranische Regisseur Asghar Farhadi die Bezüge zu Antonionis Filmen in seinem Werk ablehnte, so ist die Story von Darbareh-ye Elly (dt. Titel: Alles über Elly, 2010) doch unverkennbar daran angelehnt: Während eines Wochenendausfluges ans Kaspische Meer verschwindet plötzlich Elly (Taraneh Alidoosti), die Reisegruppe begibt sich auf die Suche nach ihr. Indem die Stimmung allmählich kippt, eine soziale Kälte immer spürbarer wird, übt der Film subtile Kritik an iranischen Moralvorstellungen. Nicht zuletzt nutzt der von der Kritik hoch gelobte Dschodai-ye Nader az Simin (dt. Titel: Nader und Simin – Eine Trennung, 2011) in seiner Bildkomposition die Architektur so, wie man es von Antonioni gewohnt ist, und antonionische Momente der Intransparenz finden sich in Forushande8 (2016) zuhauf: Ähnlich wie in L’avventura bleibt eine anfänglich aufgeworfene Frage unbeantwortet, was sich jedoch auftut, sind menschliche Gefühlszustände. Rana (Taraneh Alidoosti) wird Opfer eines Gewaltverbrechens, den genauen Tathergang lässt Farhadi jedoch bewusst unaufgeklärt. Was sich hingegen deutlich abbildet, ist ein in seiner Ehre verletzter Ehemann (Shahab Hosseini), der sich auf die Jagd nach dem Täter macht und ihn um jeden Preis vor dessen Familie bloßstellen will. Somit hinterlässt Michelangelo Antonioni ein Vermächtnis, das an Wirkung und Inspirationskraft bis heute nichts eingebüßt hat.
1 Vgl. Antonioni, Michelangelo [1961]: „Die Krankheit der Gefühle“, in: Theodor Kotulla (Hrsg.): Der Film, Manifeste-Gesprä- che –Dokumente, Bd. 2, München, 1964, S. 83-110.
2 Vgl. Schenk, Irmbert: „Antonionis radikaler ästhetischer Auf- bruch. Zwischen Moderne und Postmoderne“, in ders: Film und Kino in Italien, Schüren 2014, S. 148-170.
3 Vgl. Chatman, Seymour: Antonioni, or The Surface of The World, University of California Press, 1985, S. 51-136.
4 Vgl. Eco, Umberto [1961]: Das offene Kunstwerk, Suhrkamp 1977.
5 Chatman (An. 3).
6 Eine vertiefte Fallstudie zu den Filmenden Antonionis bietet: Thomas Christen: Das Ende im Spielfilm, Vom klassischen Holly- wood zu Antonionis offenen Formen, Schüren, 2007.
7 Antonioni (An. 1), S. 83.
8 Jüngst Oscarpreisträger in der Kategorie „Bester fremd- sprachiger Film“
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