Arbeitslosigkeit und Wahlbeteiligung

Sozio-ökonomische Ungleichheit als Herausforderung für die Demokratie

Seitdem 1979 erstmals allgemeine Direktwahlen zum Europäischen Parlament durchgeführt wurden, liegt die Wahlbeteiligung an Europawahlen in Luxemburg dauerhaft und deutlich über jener der gesamten Europäischen Union beziehungsweise ihrer Vorläuferorganisation, der Europäischen Gemeinschaft: Der kleinste Vorsprung betrug 26,92 % (1979) und der größte sogar 47,79 % (2009). Dass die Wahlbeteiligung im Großherzogtum vergleichsweise hoch ist, lässt sich sicherlich auch mit der Wahlpflicht erklären, die seit 1919 zumindest als normative Richtschnur gilt. Und doch kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Wahlberechtigten tatsächlich zur Wahl gehen: 2019 erreichte die luxemburgische Wahlbeteiligung an Europawahlen mit 84,24 % sogar ihren bisherigen Tiefpunkt – ausgerechnet in dem Jahr, in dem die Wahlbeteiligung in der EU insgesamt erstmals wieder anstieg.1 Stellt es ein Problem für die Demokratie dar, wenn Menschen sich dazu entschließen, nicht zur Wahl zu gehen? Welche Faktoren begüns­tigen das Fernbleiben von der Wahlurne, und wie kann im Gegenzug die demokratische Teilhabe gestärkt werden?

Demokratie und politische Teilhabe: eine Frage von Freiheit und Gleichheit

Wahlen sind für repräsentative Demokratien von grundlegender Bedeutung. Sie binden politische Repräsentant*innen an die Präferenzen der Wähler*innen und erzeugen politische Legitimation. Versteht man eine Wahl vor allem als individuelles Recht, erscheint die tatsächliche Wahlbeteiligung nicht von vorderstem Interesse. Solange für alle potenziellen Wähler*innen das gleiche Recht gilt, könnte die Wahl als unproblematisch gelten, ganz gleich wie viele Menschen sich tatsächlich an ihr beteiligen. Wählen zu gehen oder nicht, wäre in dieser Logik ein Ausdruck individueller Freiheit. Doch die Wahlpflicht, wie sie in Luxemburg zu finden ist, erteilt der beschriebenen Sichtweise eine klare Absage. Wählen zu gehen wird demnach nicht als Privatsache, sondern als Beitrag zum Gemeinwesen verstanden, den der Staat von seinen Bürger*innen verbindlich einfordern darf. Hier scheint sich ein republikanisches Demokratieverständnis durchgesetzt zu haben, in dem die Freiheit des Menschen nicht allein beim Individuum, sondern vor allem in der gemeinsamen Lebensgestaltung mit anderen verortet wird. Politik gilt in dieser Denktradition nicht in erster Linie als Durchsetzung individueller Interessen gegenüber anderen, sondern als Versuch der gesellschaftlichen Verständigung, als Suche nach Prozessen und Entscheidungen, mit denen sich möglichst weite Teile der Gesellschaft identifizieren können. Es erscheint zumindest plausibel, in dieser Hinsicht von funktionalen Einbußen auszugehen, wenn Teile der Wählerschaft vorübergehend oder gar dauerhaft der Wahlurne fernbleiben: Einerseits, weil sie sich selbst in geringerem Maße mit dem Wahlakt und mit den Gewählten identifizieren könnten, aber andererseits auch, weil in der Folge bestimmte Personengruppen, Meinungen und Interessen bei der parlamentarischen Suche gesamtgesellschaftlich anerkannter Entscheidungen unterrepräsentiert sein könnten. In der Konsequenz dürfte politisch-partizipative Gleichheit also nicht allein formalrechtlich garantiert, sondern müsste auch in der tatsächlichen politischen Praxis angestrebt werden.2

Sozio-ökonomische und politische Ungleichheit: zwei Seiten einer Medaille

In Luxemburg scheint es bislang an detaillierten Nichtwählerstudien zu mangeln. In Deutschland geht aus Befragungen hervor, dass Nichtwähler*innen sich dort häufig in geringerem Maße mit Parteien identifizieren, mit dem Funktionieren der Demokratie unzufriedener und weniger politisch interessiert sind als es bei Wähler*innen der Fall ist. Zugleich finden sich unter Nichtwähler*innen überdurchschnittlich viele Arbeiter*innen, Arbeitslose sowie Menschen mit geringerem Bildungsstand und Einkommen.3 Sie zweifeln in politischer Hinsicht häufig an ihren eigenen Fähigkeiten sowie daran, durch die eigene Beteiligung tatsächlich etwas ändern zu können.4

Wenn man am Beispiel der letzten Europawahl vergleicht, in welchen luxemburgischen Kommunen die Wahlbeteiligung hoch und in welchen sie niedrig ausfällt, zeigt sich, dass tendenziell dort weniger Menschen zur Wahl gehen, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist.5 Bemisst man die Wahlbeteiligung am Verhältnis der Zahl der eingeschriebenen Wähler*innen und der tatsächlich abgegebenen Stimmzettel, korreliert sie zu -.332 mit der Arbeitslosenquote. Betrachtet man lediglich die gültigen Stimmzettel, was plausibel erscheint, da sich aus leeren und ungültigen Stimmzetteln keine politischen Mandate ableiten lassen, beträgt die Korrelation zur Arbeitslosenquote sogar -.525. Im ersten Fall handelt es sich um einen geringen, im zweiten Fall um einen mittleren statistischen Zusammenhang. Beide Male erscheint der Zusammenhang relativ gering im Vergleich zu den äquivalenten Koeffizienten, die zu deutschen Großstädten vorliegen und die dort zum Teil bis zu -.987 reichen.6 Der geringere statistische Zusammenhang in Luxemburg lässt sich dadurch erklären, dass die Beteiligungsunterschiede im Land angesichts einer insgesamt hohen Wahlbeteiligung geringer ausfallen, und möglicherweise auch dadurch, dass bei einem Vergleich der Kommunen eine weniger harte sozio-ökonomische Stratifikation zutage tritt als es beim Vergleich der Stadtteile einer Großstadt der Fall ist. Dennoch ist der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Nichtwahl auch in Luxemburg signifikant, also statistisch so stichhaltig, dass nicht von einem Zufall auszugehen ist. Es gilt also auch hier in der Tendenz, dass sozio-ökonomisch schwache Mitglieder der Gesellschaft in geringerem Maße politisch partizipieren als stärkere dies tun.

Neben der Arbeitslosigkeit deuten auch Analysen der Bildungs- und Einkommensunterschiede in der Gesellschaft darauf hin, dass sozio-ökonomische und politische Unterschiede miteinander einhergehen. Nachdem bereits eine entsprechende Studie zu dreiundzwanzig westlichen Demokratien mit einem Betrachtungszeitraum von dreißig Jahren entsprechende Effekte aufzeigte7, scheint es kein Zufall zu sein, dass die Wahlbeteiligung in Luxemburg bei der jüngsten Europawahl einen Tiefstand erreichte, während der Gini-Koeffizient – ein statistisches Maß zur Darstellung der Einkommensunterschiede in der Bevölkerung – einen vorläufigen Höhepunkt sozio-ökonomischer Ungleichheit im Land markierte und die bestehenden Umverteilungsmechanismen zugleich in immer geringerem Maße vermögen, derartige Ungleichheiten auszugleichen.8

Schlussfolgerungen

Die politische Teilhabe in Luxemburg profitiert von einer hohen Identifikation der Bürger*innen mit dem politischen System und einem insgesamt hohen politischen Interesse. Auch dass viele Luxemburger*innen in Vereinen und Verbänden engagiert sind, kann als Ressource für politisches Engagement betrachtet werden. Nicht zuletzt hat Luxemburg den Vorteil, ein vergleichsweise kleines Land zu sein, in dem die Zahl der Repräsentant*innen und der Repräsentierten in einem günstigen Verhältnis zueinander stehen und in dem sowohl politisches Engagement als auch die Ergebnisse politischen Handelns relativ unmittelbar erlebbar sind.9 Eine zentrale Schlussfolgerung für die Zukunft der Demokratie in Luxemburg kann daher lauten, dass es darauf ankommen wird, die politisch-partizipativen Stärken systematisch zu nutzen und sie dort, wo dies möglich ist, weiter auszubauen – etwa durch die finanzielle und ideelle Förderung politischer und gesellschaftlicher Verbände und durch größtmögliche Transparenz politischer Prozesse. Dazu gehört vor allem auch ein möglichst häufiger und intensiver Dialog zwischen politischen Mandatsträger*innen und Bürger*innen – insbesondere in den Teilen Luxemburgs, in denen die Wahlbeteiligung zurzeit niedrig ist.

Besonders da die Wahlbeteiligung in Luxemburg insgesamt hoch ist und die Beteiligungsunterschiede im Vergleich der Kommunen relativ gering sind, stimmt es nachdenklich, dass selbst bei diesen Rahmenbedingungen die politische Beteiligung offenbar an den sozio-ökonomischen Status der Bürger*innen gekoppelt ist. Damit dieser Effekt nicht stärker wird und bestenfalls reduziert werden kann, kann einiges getan werden: Erstens, ein Ausbau der Forschung zu den Motiven und Hintergründen von Nichtwähler*innen. Sie sollte dialogorientiert und auf Augenhöhe betrieben werden und zur Kenntnis dessen beitragen, was Nichtwähler*innen umtreibt und wie sie in die politischen Prozesse im Land integriert werden können. Zweitens, die Stärkung schulischer und außerschulischer politischer Bildungs­angebote, die die Bürger*innen dazu befähigen und dazu ermutigen, sich aktiv in Politik und Gesellschaft einzubringen. Drittens, eine städtebauliche Entwicklung, die überall im Land nach einer Mischung aus günstigerem und teurerem Wohnraum strebt. Denn die Erfahrung aus deutschen Großstädten zeigt, dass Menschen aus sozial schwachen Stadtteilen auch deshalb mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu Nichtwähler*innen werden, weil sie in einem Umfeld mit besonders vielen Nichtwähler*innen leben, die sie in ihren „partizipationshemmenden Einstellungen“ bestärken.10 Viertens, die Bekämpfung und Vorbeugung von Arbeitslosigkeit. Und fünftens, die Reduktion wirtschaftlicher Ungleichheit, beispielsweise durch den Ausbau sozialer Umverteilungsmechanismen.

Das Gleichheitsversprechen gehört zum Wesenskern der Demokratie. Die Stärken des luxemburgischen Gemeinwesens gezielt zur Förderung politischer Partizipation zu nutzen und dabei stets den sozialen Ausgleich zu pflegen, scheint der geeignete Weg zu sein, um diesem Ideal auch in der politischen Praxis möglichst nahe zu kommen. So wird die Demokratie in Luxemburg auch in Zukunft eine breite gesellschaftliche Unterstützung genießen können.

  1. Vgl. https://europawahlergebnis.eu/nationale-ergebnisse/luxemburg/0028.png (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 18. November 2019 aufgerufen).
  2. Vgl. Emanuel Richter, „Inklusion von Freien und Gleichen. Zur republikanischen Demokratietheorie“, in: Oliver W. Lembcke/Claudia Ritzi/Gary S. Schaal (Hg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, Bd. 1: Normative Demokratietheorie, Wiesbaden, Springer VS, 2012, S. 157-187; Hanna F. Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley, University of California Press, 1967, S. 38-143; Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt, Campus Verlag, 2015, S. 27-50.
  3. Vgl. Patrick Lamers/Sigrid Roßteutscher, „Aspekte des Wählerverhaltens“, in: Rüdiger Schmitt-Beck (Hg.), Zwischen Fragmentierung und Konzentration: Die Bundestagswahl 2013, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2014, S. 119-144.
  4. Vgl. Schäfer, Verlust, a.a.O., S. 121.
  5. Es liegen die Arbeitslosenquoten von 2018 zugrunde, vgl. http://www.statistiques.public.lu/stat/TableViewer/TableViewHTML.aspx?ReportId=12950&IF_Language=eng&MainTheme=2&FldrName=3&RFPath=91.
  6. Vgl. Armin Schäfer/Robert Vehrkamp/Jérémie Felix Gagné, Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2013, S. 31-199; Michell W. Dittgen, „Wer arbeitslos ist, geht seltener wählen“, in: Trierischer Volksfreund vom 17. Oktober 2019, S. 11.
  7. Vgl. Schäfer, Verlust, a.a.O., S. 76-87.
  8. STATEC, Rapport travail et cohésion sociale. L‘état social et le bien-être de la société luxemburgoise, Analyses 2/2019, Luxembourg, S. 123-127.
  9. Vgl. Wolfgang H. Lorig, „Politische Kultur“, in: Wolfgang H. Lorig/Mario Hirsch (Hg.), Das politische System Luxemburgs. Eine Einführung, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, S. 31-44.
  10. Vgl. Schäfer, Verlust, a.a.O., S. 121.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code