- Gesellschaft
Architektur ist immer politisch…
Florian Hertweck, seit Herbst 2016 Professor für Architektur an der Universität Luxemburg, zur Rolle der Architektur für die Zukunft unserer Städte
Der Titel Ihrer Antrittsvorlesung an der Universität Luxemburg lautete: „Was ist Architektur?“. Wie würden Sie die Antwort auf diese Frage aus der Perspektive und in Abgrenzung zu Stadtentwicklung und Urbanismus zusammenfassen?
Florian Hertweck: Ich habe den Titel vor dem Hintergrund ausgewählt, hier an der Universität der einzige Architekt zu sein und demnach meinen neuen Kollegen und den Architektur-Interessierten einfach einmal Grundsätzliches über Architektur zu vermitteln – dass Architektur einen eigenen Diskurs hat und neben der künstlerischen und der handwerklichen Sphäre auch als Wissenschaft zu begreifen ist. Dass es eigentlich immer weniger darum geht, vermeintlich aufregende Formen zu kreieren. Natürlich gibt es auf die Frage meines Vortrags keine objektive Antwort, da diese immer vom soziopolitischen Kontext abhängt, der früher einem steten und heute rasanten Wandel unterlaufen ist. Daher ging es mir angesichts der Krisen, die wir durchleben und die in scharfem Kontrast zu dem Überfluss stehen, der in unserer Gesellschaft herrscht, um ein Bewusstsein für eine Angemessenheit in der Architektur. Dafür gibt es viele Beispiele, entgegen dem landläufigen Klischee auch bei Häusern, die Architekten für sich selbst gebaut haben. Angemessen heißt, so wenig wie möglich zu vergeuden, egal ob es sich um Materie, Energie oder Raum handelt. Ich wollte darüber hinaus mit dem Missverständnis aufräumen, diese Art von Architektur sei trocken, abstoßend oder im besten Fall ziemlich langweilig. Und die Frage nach der Angemessenheit betrifft natürlich auch den Städtebau, wie wir mit dem Bestand umgehen, wie wir mit der Natur umgehen, wie wir öffentliche Räume schaffen.
Was ist gute Architektur? Gibt es dazu Kriterien? Können Sie diese aufzählen?
F.H.: Sie fragen zu Recht nach guter und nicht nach schöner Architektur, auch wenn die Schönheit bei der Definierung von Architektur immer eine Rolle gespielt hat, aber nur einen geringen Teil der Architektur und des Städtebaus ausmacht. Gute Architektur leitet sich aus der Haltung des Entwurfsverfassers ab, inwiefern er in der Lage ist, seine Kreativität mit disziplinären und interdisziplinären Herausforderungen in Einklang zu bringen. Unter interdisziplinär verstehe ich die sozialen, politischen, kulturellen und ökologischen Herausforderungen unserer globalisierten Gesellschaft – Stichwort Migration, Alterung, Klimawandel, Suburbanisierung, Gentrifizierung, Deindustrialisierung –, während die disziplinären Ansprüche im technisch-konstruktiven und architekturkulturellen Bereich zu finden sind. Architektur hat mit einer eigenen Geschichte und eigenen Theorie eine eigene Kultur, die einerseits ein Kind ihrer Zeit ist, andererseits sich auch durch eine Kontinuität auszeichnet. Oder wie Ludwig Mies van der Rohe meinte, es geht nicht darum, jeden Montagmorgen die Architektur neu zu erfinden. Gute Architektur ist solche, die vorurteilsfrei aber kenntnisreich auf den Ort eingeht, für den sie entwickelt wird, die das vorgegebene Programm kritisch hinterfragt und es gegebenenfalls in Bezug auf die oben angerissenen Herausforderungen anpasst, die sich bewusst ist, dass sie – egal ob privat oder öffentlich – immer politisch ist, und die darüber hinaus ein ästhetisch angemessenes Objekt darstellt. So ähnlich hat das bereits Vitruv im 1. Jahrhundert vor Christus in der ersten uns überlieferten Schrift zur Architektur formuliert. Aber wir müssen uns immer wieder von neuem fragen, was die Bedürfnisse unserer Gesellschaft sind. In diesem Spannungsverhältnis haben wir auch den neuen Master-Studiengang an der Universität Luxemburg angesiedelt, zwischen dem Entwurf als Kerndisziplin mit ihrer eigenen Kultur und den vielen anderen Disziplinen, mit denen wir uns ständig austauschen müssen.
Welche Rolle spielt die Architektur für das Zusammenleben in der Stadt? Welche Mittel hat sie, um eine Stadt offen zu halten?
F.H.: Für das Zusammenleben in der Stadt wird der Schönheit der Architektur zu viel Bedeutung beigemessen. Natürlich plädiere ich nicht für eine hässliche Architektur, ich bin selber ein leidenschaftlicher Entwurfsarchitekt, der Stunden mit der Planung eines architektonischen Details verbringen kann, damit das Detail und auch das Ganze ansprechend wird. Aber für das Leben und vor allem das Zusammenleben in der Stadt sind andere Aspekte wichtiger: günstiger Wohnraum, der freie Zugang zu den verschiedensten Funktionen der Stadt, viele Freiflächen, aber auch die Konzentration von ganz unterschiedlichen Aktivitäten, ungeplanter Raum für kreative, eventuell gar gegenkulturelle Akteure, ein gut funktionierendes Nahverkehrssystem, usw. Aber natürlich kann Architektur auch etwas zu diesen Qualitäten der Stadt beitragen: wie sie sich zum öffentlichen Raum verhält, wie sie die Natur zu integrieren vermag, wie sie die Schwellen zwischen öffentlichem und gemeinschaftlichem oder privatem Raum gestaltet.
Wie trägt die Architektur (komplementär zur Stadtentwicklung) konkret zur Lösung der Herausforderungen bei, die sich der Stadt stellen (Wohnungsmangel, Klimawandel, Mobilität, …)?
F.H.: Gebäude so zu entwickeln, dass sie flexibel bespielbar sind, dass sie als Wohnungen oder Büros, beziehungsweise als Wohnungen und Büros nutzbar sind, was eine Frage der Struktur, der Anlage der Schächte und der Dimension der Räume ist. Aber auch neue, über das Zusammenbringen von Wohnen und Arbeiten hinausgehende – hybride – Typologien zu entwickeln, die Junge und Alte, Arme und Reiche, Einheimische und Zugereiste zusammenbringen. Neue Typologien, die sowohl eine bauliche Dichte und differenzierte Nutzungen integrieren als auch die Natur. Im Planungsprozess zu versuchen, Gemeinschaftsnutzungen in die Wohngebäude zu integrieren, die den Austausch zwischen den Bewohnern ermöglichen und die Gebäude mit der Stadt verknüpfen, so dass der öffentliche Bereich in den gemeinschaftlichen Bereich übergeht, bei einer klaren Trennung zu den privaten und intimen Bereichen. Beim Entwurf darauf zu achten, nachhaltige Materialien zu benutzen, deren graue Energie möglichst gering und deren Recycelfähigkeit möglichst hoch ist. Im Städtebau Wert darauf zu legen, öffentliche Verkehrsnetzpunkte auch baulich und funktional zu intensivieren, so dass auf das Automobil verzichtet werden kann und der Zugang zu den Funktionen der Stadt auch jenen offensteht, die sich kein Automobil leisten können. Sie sehen: Der Katalog der Experimente ist unendlich lang – und es ist erstaunlich, dass im Gegensatz zu den siebziger Jahren beispielsweise heute so wenig davon ausprobiert wird. Das Gros der Wohnungen – und oftmals auch der Büros – ist hochgradig konventionell, es basiert auf einer Vorstellung von Familie, Arbeit und Stadt, die vollkommen überholt ist.
Welche Bedeutung hat die Einbindung der bestehenden Bausubstanz, der Bäume, der Erinnerungsorte, der Identitäten bei der Gestaltung der Stadt?
F.H.: Ich würde diesbezüglich nicht nur jene Dinge berücksichtigen, deren behutsamer Umgang eigentlich Konsens geworden ist oder sein sollte. Sie sprechen zu Recht von verschiedenen Identitäten. Oftmals beanspruchen einige Wenige die Deutungshoheit über eine kollektive Identität – Stichwort Leitkultur oder im französischen genauso nebulös patrimoine – darüber, was erhaltenswert ist und was nicht. Ich versuche meinen Studenten immer zu vermitteln, dass alles, was vor Ort auffindbar ist, mit einem frischen, vorurteilsfreien Blick begegnet werden sollte.
Oftmals sind es banale, manchmal gar vermeintlich hässliche Dinge, die für Viele wichtig sind, die Orte prägen. Manchmal sind auch schon genügend Qualitäten latent vorhanden, die es nur gilt sichtbar zu machen oder zu intensivieren. Mit dem Bestand arbeiten, das war früher langweilig, damit hat man Restaurateure und Denkmalpfleger assoziiert. Heute arbeiten wir so gut wie immer im Bestand und es ist aufregend geworden. Dagegen ist das Bauen auf der grünen Wiese langweilig geworden, es produziert darüber hinaus selten etwas Städtisches. Ich versuche immer, so wenig wie möglich abzureißen und die verschiedenen Spuren eines Ortes oder eines Gebäudes sichtbar werden zu lassen.
Wie kann eine Kommune sicherstellen, damit die Einzelteile (die Gebäude) ein Ganzes (eine funktionierende Stadt) bilden?
F.H.: Dass kann sie nur, wenn sie eine Vision hat. Vision ist nicht mit Utopie gleichzusetzen. Es geht darum, aus einer profunden Analyse der eigenen Situation ein Entwicklungskonzept auszuarbeiten, das zwar die Richtung vorgibt, aber dennoch Änderungen zulässt. Den Lead hierfür spreche ich immer noch der Architektur zu, da sie per definitionem prospektiv zu denken in der Lage ist, allerdings nur, wenn sie sich nicht autonom geriert, sondern in der Lage ist, die vielen anderen für die Analyse notwendigen Expertisen – von der Ökologie zur Ökonomie, von der Geografie zur Soziologie, von der Landschaftsarchitektur zur Verkehrstechnik– zu integrieren. Und wenn sie auf die Bewohner zugeht, sie aktiv in die Gestaltungsprozesse miteinbezieht.
Abgesehen von einzelnen Prestige- und Bürobauten scheint die architektonische Qualität insbesondere des Wohnungsbaus in Luxemburg relativ niedrig. Stimmt das und wenn ja, woran mag das liegen?
F.H.: Ich würde das differenzierter sehen: Da die überragende Mehrzahl der Wohnungsbauprojekte in Luxemburg bauträgergesteuerte Projekte sind, geht es darin mehr um marktorientierte und letztendlich gewinnbringende Aspekte. Die oben formulierten Herausforderungen interessieren nun mal – mit wenigen Ausnahmen – kaum einen Immobilienentwickler. Und den Architekten sind dabei meistens die Hände gebunden. Ich würde meinem Berufsstand dabei auch keinen Vorwurf machen wollen. Wir sind als Unternehmer auf diese Projekte angewiesen, um zu überleben – wohlwissend, dass unser kritischer Bewegungsspielraum in diesen Projekten sehr gering ist. Viele reizen ihn trotzdem sehr weit aus. Für Projekte, bei denen sich Architekten freier einbringen können, gibt es in Luxemburg schon gute Beispiele. Bauen müsste eben hier im Lande nur deutlich diversifiziert werden – mit Baugruppen und anderen Formen von Bauherren, die den Bauträger ausschließen, mit Stiftungen beispielsweise, die auch das öffentliche Interesse in der Entwicklung des städtischen Bodens im Auge behalten, und natürlich mit viel mehr Engagement der öffentlichen Hand, nicht nur im klassischen sozialen Wohnungsbau.
Müsste im Gegenzug die öffentliche Hand also mit innovativen Projekten den Trend setzen?
F.H.: Eine klare Antwort: unbedingt!
Die europäische Stadt ist durch verschiedene Formen urbanistischer Leitbilder gegangen: Es hat die alte europäische Stadt gegeben, dann die Industriegroßstadt, das Modell der Gartenstadt, die autogerechte, funktionsgetrennte Stadt, und heute gibt es eine quasi durchgängige Zersiedelung der suburbanen Zonen, wie wir sie auch in Deutschland und Luxemburg kennen. Welches Leitbild zeichnet sich heute ab?
F.H.: Es gibt nicht mehr das eine Modell, ebenso wenig wie es die eine große Erzählung mehr gibt. Sie haben übrigens die Kompakte Stadt nicht erwähnt, die als Heilmittel gegen die Zersiedelung angesehen wurde und die ich wiederum aus vielen Gründen kritisieren würde. Stadtentwicklung ist immer von den Spezifika einer Region oder eines Ortes abhängig. In bestimmten Gegenden, insbesondere solchen, in denen bereits ein gut funktionierendes Infrastruktursystem besteht, macht es Sinn, intelligent und durchmischt zu verdichten, in anderen Gegenden eher rückzubauen. In der Forschung und auch teilweise in der Praxis werden jetzt Ansätze entwickelt, wie die Dinge wieder zusammengebracht werden können: Arbeiten und Wohnen, Produktion und Verbrauch, Stadt und Natur. Wie können Dinge in einen produktiven Dialog oder ein einen Kreislauf gebracht werden, dass weniger Verschleiß von Materien, Ressourcen und Energien entsteht. Es wird auch vermehrt darüber nachgedacht, wie die negativ zu bewertende Entwicklung der Europäischen Innenstädte – und dazu hat auch das sogenannte Paradigma der Kompakten Stadt beigetragen – hin zu sozial homogenen Archipelen oder zu einer pyramidalen, für immer Weniger zugänglichen Stadt aufgehalten werden kann. Wie vermögen wir, den immer mehr privatisierten Boden der Stadt als öffentliches Gut ein Stück weit zurückzugewinnen? Die zentralen Bereiche sind in Luxemburg, wie in vielen anderen Städten Europas, nicht nur mittlerweile zu großen Teilen von ganz wenigen privilegierten Teilen der Gesellschaft in Besitz genommen; sie werden auch grottenlangweilig.
Besten Dank für das Gespräch!
Das Interview wurde am 20.06 per Mail geführt. (JST)
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