Armut ist die dunkelste Seite des westlichen Kapitalismus. Ohne Armut kein Reichtum. Ohne Reichtum kein Anreiz, aus der Armutszone zu entfliehen. Arm zu sein ist großer Mist. Es gibt Verheißungen, die den Menschen Wege aus großer Armut weisen wollen – auf Platz 1 der Charts zur politischen Armutsbekämpfung steht die Bildung. Bildung als Königsdisziplin, dennoch nie Königsmacher, denn die Bildung der Vorgebildeten ist nicht einzuholen. Es sei denn, die Vorgebildeten werden zu Eingebildeten und verlieren die Orientierung. Die Geschichte kennt hinreichend Weltreiche und Hochkulturen, die an zu viel Reichtum, Dekadenz und Impertinenz zugrunde gingen bzw. von „wilden Horden“ erobert wurden. Was dann übrig blieb, war im Kollektiv stets weniger, als es vorher war, was für Individuen nicht gelten muss.

Doch was auch immer gegen krasse Armut getan wird, das Kernproblem bleibt weltweit bestehen, unabhängig davon, wie reich eine Gesellschaft ist bzw. sich fühlt. Womit wir beim Thema der relativen Armut wären. Relative Armut definiert sich zum einen statistisch, wenn jemand weniger als x % des zugrunde gelegten, nationalen Durchschnittseinkommens hat oder aber das Bruttosozialprodukt (BSP) eines Landes weniger als x % des globalen BSP ist. Das birgt jedoch gleich mehrere mathematische Denkfallen, deren Auswirkungen dramatisch sein können. Das kann an anderer Stelle – in den Ministerien und Thinktanks vielleicht? – bearbeitet werden. 

Jedenfalls gibt es zum anderen die Relativität von Armut, die emotional, subjektiv erlebt wird. Ihre Definition liegt im Auge des Betrachters bzw. des Erlebenden im Rahmen seines sozialen Kontextes. Ihr gegenüber steht baugleich in Emotion gegossen der relative Reichtum, der gleichermaßen individuell erlebt und bewertet wird. Die Bewertung der eigenen Lebenssituationen entspringt recht persönlichen inneren Debatten, die nur selten offen ausgesprochen, geschweige denn ausdiskutiert werden, zumal die Ergebnisse kaum als absolut zu betrachten sind, da sie ja auf variablen, teils surrealen Vergleichen, Zielsetzungen und imaginären Selbstbildern beruhen. Die Vergleiche hängen von der Perspektive, der Analysefähigkeit, der Religion oder Ideologie, der Intelligenz, der Erfahrung und der jeweiligen verinnerlichten Bescheidenheit bzw. Großmannssucht ab und sind nur mit sich selbst verhandelbar, weniger mit anderen. Traut man sich, mal einen Lebenstausch, auf Zeit versteht sich, zu machen und in die Welt der Ärmeren und Armen einzutauchen (im Reality-TV gibt es derartige Formate, es geht allerdings auch dezenter)? Geht man im Urlaub ebenfalls in die Armen- und Problemviertel (sehenden Auges und respektvoll, ohne Kamera)? Ereilen einen Schicksalsschläge wie Krieg, Arbeitsplatzverlust, Flutkatastrophen und kostspielige Krankheiten? Oder kommt man unverhofft oder verdient zu großem Reichtum? Dann verändert sich das Verhältnis zur eigenen Armut bzw. dem eigenen Reichtum manchmal recht drastisch, weil sich damit fast automatisch der soziale Kontext ändert, in dem man sich bewegt. Wie andauernd die neuen Relationen, Relativierungen sind, ist ebenfalls sehr individuell und nicht vorhersagbar.

Die Bewertung der eigenen Lebenssituationen entspringt recht persönlichen inneren Debatten, die nur selten offen ausgesprochen, geschweige denn ausdiskutiert werden.

Aber wenn es nicht so spektakulär zugeht, sondern einfach auf einem wachen Erleben der Realität und einer klaren Analyse davon beruht, dann wird offenkundig, dass relative Armut oder relativer Reichtum Teil des kapitalistischen Programms sind und uns nachhaltig an- und umtreiben. Sie lenken unsere Neugierde, erzeugen unseren Neid, sie wecken unseren Ehrgeiz und bestimmen unsere Ziele. Sie definieren unseren Status und unsere Rollen, unser Erleben von Erfolg und Misserfolg, Sieg und Niederlage. Längst ist die Relativität unseres Seins und Habens zum milliardenschweren Geschäft geworden, wobei wir stets dem Heer der Habenichtse, die alles wollen, aber wenig verstehen, mit ihren vielen kleinen, freiwilligen und unfreiwilligen Zahlungen den sagenhaften Ruhm und unehrenhaften Reichtum der Wenigen ermöglichen. Doch das ist eine andere Diskussion.

Krasse Armut ist sichtbar, diskutierbar und in Grenzen behandelbar. Relative Armut dagegen nicht! Sie ist abgesehen von den ganz seltenen Momenten der vertrauensvollen Offenheit zwischen einzelnen Menschen unsichtbar, nicht kommunizierbar und daher nicht behandelbar. Denn die relative Armut stellt den Kernprozess dar, ohne den der auf dem Treibsand der Relativität gebaute Kapitalismus nicht funktioniert. Warum müssen wir in immer größeren Häusern wohnen, in immer komfortableren Autos sogar kürzeste Strecken fahren, in mega edlen Restaurants essen oder viel zu teuren Schmuck tragen? Es ist bestimmt manchmal allein die pure Freude an der Sache selbst; das ist nicht auszuschließen. Doch sehr viel öfter ist es ja die Relation des Garnichts zum Normalen zum Besonderen zum Exklusiven, was letztlich die Relativität jeder einzelnen Position bestimmt. Alles eine Frage des Geldes. Das Prinzip Verantwortung, die Alttugenden Demut und Bescheidenheit kämpfen noch um die billigen Plätze, aber immer mehr auf verlorenem Posten.

© Carlo Schmitz

In unserer Zeit, in der milliardenschwere „Jungs“, seltener auch „Mädels“, mit Geld scheinbar alles kaufen und vernichten können, ist es für die übrigen Normal­verdiener und -besitzender immer schwieriger, den eigenen Standort mit einer optimistischen Grundhaltung zu ehren und gelassen auf eine gute Zukunft hinzuarbeiten. Die Bildungsideologie offenbart ihre Grenzen in immer größer werdender Brutalität, obgleich immer noch mit einem Mehr vom selben politisiert und hantiert wird. Aber das zentraleuropäische Gebäude fällt gerade zusammen, selbst wenn es manche noch nur für ein vorübergehendes Schwanken aufgrund demografischer und geopolitischer Beben halten. Das dürfte ein Irrtum sein. Das scheinbar so sichere Vermögen der sogenannten mittleren Schichten, ja die Schichtenstruktur löst sich gerade mehr und mehr im Globalisierungs-, Digitalisierungs-, Inflations- und Kriegsgetümmel auf. Die Bildung, die man für solide hielt, wird von neuzeitlichen digitalen Wort- und Gestaltmonstern gefressen; ein neuer Bildungskanon ist noch im Schüttelstadium. Die neuen Welten, ob real oder nicht, lassen die bisherigen Bildungs- und Leistungsträger paralysiert zurück. Die neuen Wilden kleben sich auf Social-Media-Profilen oder Straßen und Gebäuden fest oder rasen auf immer verrückteren Gefährten durch die Welt. Milliarden armer Menschen wollen am sagenhaften Reichtum des Westens teilhaben und stellen den Industrienationen immer entschiedener ihre Rechnungen. Die Kriegskassen einiger Nationen sind prall gefüllt und werden gerade rücksichtslos entladen, während die anderen ihren Bürgern umständlich erklären müssen, dass ihre Kriegskasse gar nicht existiert und deshalb aus den privaten Schatullen gestopft werden muss. Die Energiewende und Technikevolution frisst Rohstoffe und Strukturen und zerstört die traditionellen Einnahmequellen der Vielen, ohne ihnen eine echte Alternative zu bieten. Man hofft auf stillschweigendes Ableben der künstlich erzeugten Randgruppen inmitten der bisherigen Mehrheitsgesellschaft.

Dies alles ist nicht regulär bezahlbar, sondern allein durch kreatives Finanz­management mit immer komplizierteren Schuldenmach- und Schuldenstreckungs-Programmen aufrecht zu erhalten, dies gilt privat als auch auf staatlicher Ebene. Logischer­weise kann dies nicht zum Abbau relativer Armut, sondern nur zum Anstieg von Armut führen. Aber vielleicht fühlt es sich für die meisten Menschen noch nicht so an.

Doch was, wenn die Frösche doch aus dem immer heißer werdenden Wasser springen könnten? Für den Fall der Fälle hat man (?) in weiser Voraussicht die allgemeine Aufmerksamkeit und Bedürfnislage auf Glücks- und Kriegsspiele, auf Cannabis und andere bewusstseinsverändernde Drogen sowie die hormonfreisetzenden, süchtig machenden virtuellen Erlebniswelten gelenkt. Dorthin kann man sich nun immer flüchten, wenn die graue Wirklichkeit über einem zusammenzubrechen droht. Dorthin kann man Millionen von Menschen überführen, deren biologische Sensoren real-existierende Eindrücke und Erfahrungen nicht mehr von künstlich erzeugten Simulationen unterscheiden können. Und wenn man sich seine eigenen künstlichen Paradiese und Wunschwelten grenzenlos für relativ wenig Geld zusammenbasteln kann und sie nie mehr verlassen muss, weil selbst Ernährung und Stuhlgang intra­venös von künstlichen Intelligenzen zu- bzw. abgeführt werden, sind die Probleme der relativen Armut doch gelöst. Selbstverständlich ist dies eine Satire. Oder etwa nicht?  

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