Au fil des années

von Jean Hamilius

Bei den Ureinwohnern Nordamerikas genossen alte Menschen ob ihres Wissensschatzes und ihrer Lebenserfahrung höchstes Ansehen und Respekt. In der Hierarchie der Stämme an den Großen Seen und in den Prärien stand über der Person des Häuptlings der Ältestenrat. Er versammelte weise Männer, tapfere Krieger, aber auch hochverehrte Frauen, deren Entschlüsse und Verdikte für das Leben der Gemeinschaft letztgültige Autorität besaßen.

Wären die Luxemburger ein Indianerstamm, nähme Jean Hamilius in dessen Ältestenrat einen prominenten Platz ein. Mit seinen 93 Jahren ist er, neben Jacques Poos und Guy Linster, das letzte noch lebende Mitglied der DP/LSAP-Regierung unter Gaston Thorn, die von 1974 bis 1979 die Geschicke des Landes führte.

Unter dem Titel Luxemburg im Wandel der Zeiten. Erinnerungen (1927-2014) veröffentlichte Jean Hamilius vor sechs Jahren seine Memoiren. Das Schreiben machte ihm soviel Spaß, dass er es fortan nicht mehr missen wollte. So lancierte er im Internet ein Blog (www.jeanhamilius.lu), auf dem er regelmäßig in gepflegtem Französisch seine Überlegungen zu einer breiten Palette an Themen artikuliert. Keine langatmigen oder tiefschürfenden Traktate, dafür aber eine Fülle an pointiert und klug formulierten Gedanken und Fragestellungen eines Mannes, der sich nach wie vor – oder mehr denn je? – um den Zustand der Menschheit im Allgemeinen und die Zukunft Luxemburgs im Besonderen Sorgen macht.

Mit dem im Verlag Guy Binsfeld erschienenen Band Au fil des années. Réactions et réflexions (2015-2019) liegen Jean Hamilius’ Blogtexte jetzt auch in Buchform vor. Schon das gediegene Coverfoto zeigt, dass es dem Autor nicht darum geht, sich selbst ins Rampenlicht zu stellen, um auf der Straße anerkennendes Schulterklopfen einzuheimsen. Indem er dem Betrachter den Rücken zukehrt und nur die Handfläche mitsamt geschwungener Signatur als Blickfang erkennbar ist, signalisiert er, dass ihm im Grunde nur eines wichtig ist: die intellektuelle Aufrichtigkeit des Geschriebenen.
Dieses kommt denn auch nie altväterlich oder gar besserwisserisch daher, im Gegenteil: Bereitwillig relativiert Jean Hamilius das Gesagte, weist mit beharrlicher Bescheidenheit auf mögliche Wissenslücken hin, signalisiert, dass ihm Gegenrede und Dialog willkommen sind. Er lebt die liberale Maxime, wonach ein Gespräch voraussetzt, dass der andere Recht haben könnte.

Für den früheren Leichtathleten und Olympiateilnehmer ist sein Blog eine Art Querfeldeinrennen durch die Vielfalt der Themenlandschaften. Ihn beschäftigen sowohl Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der im Wandel begriffenen, immer multikulturelleren Luxemburger Gesellschaft als auch drängende Fragen zur Nachhaltigkeit unserer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Die schrittweise Einführung des Wahlrechts für Nicht-Luxemburger bei Parlamentswahlen hält er auf Dauer für unumgänglich, ohne dass Sprache und nationale Identität dadurch in Gefahr gerieten. Zugleich bleibt Jean Hamilius ein überzeugter Europäer. Als globaler Akteur sei es für den Kontinent politisch und wirtschaftlich überlebenswichtig, dass der Integrationsprozess hin zu einer Europäischen Föderation, wenngleich mit differenzierter Geschwindigkeit, fortgesetzt werde. Epochalen Herausforderungen wie Klimawandel, Migration und Nord-Süd-Gefälle könne man nicht mit nationalstaatlichen Rezepten begegnen.

Bei der Lektüre des übersichtlich gegliederten Buches wird deutlich, dass Jean Hamilius sich, je nach Welt- oder Gemütslage, mal mit profanerer Tagesaktualität („Faut-il interdire le burkini?“) oder aber ganz existenziellen Fragestellungen des Menschseins („Sommes-nous seuls dans l’univers?“) auseinandersetzt. Eine Sache aber liegt ihm besonders am Herzen, auch weil sie ihm persönlich fühlbar Kummer bereitet: die „neue“ Geschichtsschreibung (Stichwort: Artuso-Bericht) mit Bezug auf das Verhalten der Luxemburger während der Nazi-Besatzung und im Zweiten Weltkrieg. In einem Dutzend Beiträgen wehrt sich der Autor gegen eine von ihm als falsch und ungerecht empfundene Darstellung, die Bevölkerung habe sich in ihrer breiten Mehrheit mit einem Sieg des Deutschen Reiches abgefunden und auf opportunistische Weise arrangiert. „Das stimmt so nicht“, sagt Jean Hamilius, Jahrgang 1927, dessen Erinnerungen an die dunkle Zeit so lebendig sind, dass sie ihn nicht täuschen könnten. Auch die von den Historikern desavouierte Verwaltungskommission unter Albert Wehrer habe sich, wie aus jüngst ausgewerteten Unterlagen über deren Kontakte zum Consistoire israélite hervorgeht, in der Judenfrage nicht durch vorauseilenden Gehorsam schuldig gemacht. „Wer so urteilt“, so Jean Hamilius, „muss sich fragen lassen, wie er sich angesichts der Bedrohung für Leib und Leben damals selbst verhalten hätte.“

lop

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