Auf der Suche nach der billigsten Nadel weltweit …
Auf der Suche nach der billigsten Nadel auf der Welt zieht ein Teil der Textilindustrie stetig wie eine Karawane weiter, etwa wenn in einem Billigproduktionsland wie zum Beispiel Bangladesch die Löhne erhöht oder Geld in die Verbesserung von Arbeitssicherheitsmaßnahmen gesteckt werden soll. Deshalb werden Abkommen wie der Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh auch immer wieder in Frage gestellt. Nach einer Zitterpartie, bei der es im Mai 2021 nur um drei Monate verlängert wurde, konnte rezent eine Verlängerung um drei Jahre erreicht werden. Es wäre eine Schande gewesen, wenn es acht Jahre nach Rana Plaza auf’s Abstellgleis gestellt worden wäre. Am 24. April 2013 stürzte das Fabrikgebäude Rana Plaza in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka wie ein Kartenhaus ein. 1.136 Arbeiterinnen und Arbeiter kamen bei dieser Tragödie ums Leben. Der Accord wurde nach dem Zusammensturz des neunstöckigen Gebäudes ins Leben gerufen, um die Sicherheit in den Textilfabriken zu erhöhen. Acht Jahre nach dem Unglück steht Rana Plaza nach wie vor für all das, was in den internationalen Lieferketten falsch läuft.
Trotzdem stellt sich immer wieder die Frage: Hat Rana Plaza als Weckruf in der (Textil-)Industrie ausgereicht? Am 8. Februar 2021 wurden mindestens 28 Bekleidungsarbeiter – darunter ein 14-jähriges Mädchen – getötet und 17 weitere verletzt, nachdem sie bei einer Überflutung in einer illegalen Fabrik in Tanger, Marokko, eingeschlossen worden waren. Am 30. März 2021 wurden acht Menschen getötet und 29 verletzt, nachdem eine angemeldete Explosion in einer Bekleidungsfabrik zum Einsturz eines benachbarten zehnstöckigen Gebäudes in der ägyptischen Hauptstadt Kairo geführt hatte.
Teile der Textilindustrie sind völlig unbeeindruckt von solchen Katastrophen weiterhin auf der Suche nach der weltweit billigsten Nadel, egal wie das Leben und die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vorwiegend Frauen, aussieht. Hauptsache: billig produzieren.
Ein Paradebeispiel internationaler Arbeitsteilung
Dabei werden sie bei ihrer Suche immer wieder fündig. Kurz vor der COVID-19-Pandemie hatte ich die Gelegenheit, eine Textilfabrik im Norden Äthiopiens zu besuchen. Äthiopien war 2017 das zweitgrößte Empfängerland ausländischer Direktinvestitionen in Afrika mit 3,6 Milliarden USD.
Äthiopien, das neue Bangladesch? In dieser riesigen Textilfabrik arbeiten zurzeit rund 6.000 Arbeiterinnen und Arbeiter, davon über 80 % Frauen. Neben der Kleiderproduktion für den lokalen Markt werden Exporte über ein asiatisches Unternehmen abgefertigt, das eigene lokale Manager in die Fabrik geschickt hat. Die in diesem Unternehmen zur Herstellung der Krankenhausuniformen verwendeten Textilmaterialien, die mit steuerlichen Vergünstigungen in die USA exportiert werden, stammen nicht aus Baumwolle aus Äthiopien, obwohl das Land über eine geschätzte Anbaufläche von 2,6 Millionen Hektar verfügt. Die Textilien, die für die in Äthiopien hergestellten Exportartikel verwendet werden, kommen fast ausschließlich aus China.
Hier sieht man ein Paradebeispiel für die internationale Arbeitsteilung: Der äthiopische Anteil an der Wertschöpfungskette beschränkt sich auf CMT (Cut, Make, Trim). CMT beschreibt den dreistufigen Prozess, der von einer Produktionsfabrik ausgeführt wird: Zuschneiden, Nähen und Fertigstellen. So wurde dann auch die „billigste Nadel“ in Äthiopien gefunden: Löhne an der untersten Grenze, mit denen sich keine Existenz sichern lässt, sind das Ergebnis dieser internationalen Arbeitsteilung. Nirgendwo sonst in der Branche wird weniger bezahlt als in Äthiopien, wo immer mehr europäische Unternehmen in den letzten Jahren investiert haben. Dabei will Äthiopien ein Champion in der Liga der weltweiten Textilproduktion werden. Investoren sollen jedoch nicht mit Mindestlöhnen abgeschreckt werden. In Bangladesch und China verdienen die Arbeiterinnen und Arbeiter das Vielfache von dem, was Textilarbeiterinnen und -arbeiter in Äthiopien bekommen.
Aber die Herausforderungen liegen nicht nur in der Lieferkette. Sie stehen auch am Anfang dieser Produktionskette: bei der Baumwollproduktion.
Am Anfang der Lieferkette …
Es geht mithin nicht nur um die billigste Nadel weltweit, sondern auch um die Löhne für die pflückenden Hände bei der Baumwollproduktion. Im weltweit größten Baumwollproduktionsland Indien setzte sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr genmanipuliertes Saatgut durch. Diese teure „bt-Baumwolle“ sollte mit dem in ihr enthaltenen Gift Schädlinge töten. Doch bereits nach drei Jahren entwickelten die Schädlinge Resistenzen. Gleichzeitig explodierte die Verschuldung der Baumwollbauern: „Früher kostete ein Paket mit konventionellem Baumwollsaatgut etwa hundert bis 150 Rupien, für die bt-Baumwolle sind es tausend Rupien.“1 Diese Rechnung konnte nicht aufgehen: Schlechtere Ernten bei teurerem Saatgut. Kein Wunder, dass viele Baumwollfamilien hoch verschuldet sind. In ihrer Verzweiflung nahmen sich etliche Bauern das Einzige, was ihnen noch blieb, weil sie weder ein noch aus wussten: ihr eigenes Leben. Eine aktuelle erschreckende Zahl für den gesamten Landwirtschaftssektor im Bericht State of India’s Environment aus dem Jahr 2021 weist darauf hin: Mehr als 28 Bauern und Landarbeiter nehmen sich in Indien jeden Tag das Leben.
Die Liste der Probleme und Herausforderungen ließe sich verlängern: Extrem volatile Preise auf dem Weltmarkt, Kinderarbeit und Zwangsarbeit auf den Feldern, einer der weltweit höchsten Pestizideinsätze beim Anbau … Deutlich wird: Wir brauchen eine Transformation der Lieferkette, damit dem Baumwollbauer und der Textilarbeiterin, egal ob sie in Lateinamerika, Asien oder Afrika leben, endlich menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen ermöglicht werden. Die Corona-Pandemie hat die bereits bestehende Schieflage in diesem Wirtschaftszweig noch verschärft. Stornierte oder verschobene Aufträge und geschlossenen Fabriken bedrohen Millionen Menschen in ihrer Existenz.
Von der fast fashion zur fair fashion
Der Faire Handel hat sich diesen Herausforderungen gestellt. Anfänglich lag der Fokus auf vielen ehemaligen Kolonialprodukten aus der Nahrungsmittelkette wie Kaffee, Kakao oder Tee. Es wurde aber schnell deutlich, dass auch bei anderen cash crops über den Lebensmittelsektor hinaus Alternativen geschaffen werden müssen.
Der Fairtrade Cotton Standard setzt seit 2005 am Beginn der gesamten Lieferkette an: bei der Produktion von Baumwolle. Dabei hilft der Fairtrade-Mindestpreis den Bauern, die Kosten einer nachhaltigen Produktion zu decken. Zusätzlich zum garantierten Mindestpreis muss der Käufer eine Fairtrade-Prämie (pro Kilo Baumwolle) bezahlen. Diese Prämie muss für Gemeinschaftsprojekte verwendet werden; zum Beispiel wird damit in Bildungs-, Gesundheits- oder Infrastrukturprojekte investiert. Die zertifizierten Produzentenkooperationen sind meist kleine Familienbetriebe, die sich in Kooperativen zusammenschließen oder Organisationen, die den Bauern und Bäuerinnen gehören und die demokratisch geführt werden. Ausbeuterische Kinderarbeit sowie Zwangsarbeit werden nicht geduldet, und es wir darauf geachtet, dass die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) eingehalten werden. Auch im Umweltbereich gibt es strikte Standards zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Kleinbäuerinnen und -bauern, zur Erhaltung der Natur und zudem das Verbot der Verwendung gentechnisch veränderten Saatguts und gefährlicher Chemikalien. Alle Beteiligten der weiteren Lieferkette müssen zudem einen Nachweis über die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen erbringen. Dies gilt für die gesamte Weiterverarbeitung wie Entkernung, Spinnen, Färben, Stricken, Weben, Konfektionieren.
Fairtrade ist eine lernende Organisation, die sich den Herausforderungen stellt und sich weiterentwickelt, zusammen mit den Produzenten und Produzentinnen in Nord und Süd. So wurde in den letzten Jahren der Fairtrade Textilstandard eingeführt, um die weiteren Herausforderungen, die sich im Verlauf der Lieferkette stellen, in den Blick zu nehmen. Er ist der einzige Standard auf dem Markt, der den beteiligten Unternehmen einen festen Zeitraum (6 Jahre) vorschreibt, in dem allen Beschäftigten innerhalb der textilen Produktionskette living wages, d. h. existenzsichernde Löhne gezahlt werden müssen. Zudem finden gezielte Trainings statt, bei denen Themen wie Arbeitssicherheit, Arbeitsverträge, Beschwerdemechanismen sowie Versammlungs- und Gewerkschaftsfreiheit auf der Agenda stehen und die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen lernen, selbst für ihre Rechte einzustehen. Es ist dabei hervorzuheben, dass eine Reihe von Pionierunternehmen diese Herausforderungen bereits sowohl im Bereich Herstellung als auch bei ihrer Einkaufspolitik angegangen sind. Die rezente Einführung von Arbeitskleidung bei einem der größten Arbeitgeber Luxemburgs, der Post Group, die im Bereich der Nachverfolgbarkeit in der Lieferkette mit dem Fairtrade Textil Production Standard Vorzeigecharakter hat, illustriert dies deutlich.
Die Rolle der Politik
Angesichts der zahlreichen Problematiken ist klar, dass die Zivilgesellschaft (inklusive der Fairen Handelsbewegung) diese unmöglich allein bewältigen kann. Auch hier ist die Politik gefragt, da es sich bei dem Textilsektor um einen Wirtschaftszweig mit einer international starken Verflechtung und mit komplexen Lieferketten handelt.
Dies wurde auch in Luxemburg und seinen Nachbarländern erkannt. Der Einsturz der maroden Rana Plaza-Textilfabrik in Bangladesch mit dem Tod von über 1.000 Näherinnen und Nähern etwa war ein Weckruf für die französische Politik. Mit dem weltweit ersten Gesetz zur menschenrechtlichen und ökologischen Sorgfaltspflicht, der sogenannten loi pour un devoir de vigilance müssen Unternehmen ab einer gewissen Größe in Frankreich Maßnahmen in ihrer Lieferkette ergreifen, um Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen. Dieses bisweilen auch „Rana Plaza Gesetz“ in Frankreich genannte Regelwerk hatte eine Signalwirkung auf legislativer Ebene europaweit. Noch bevor das sogenannte Lieferkettengesetz dieses Jahr in Deutschland vom Bundestag verabschiedet wurde, hatte Gerd Müller (CSU) als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ein Textilbündnis in Deutschland ins Leben gerufen.
In Luxemburg hat Kooperationsminister Franz Fayot (LSAP) die Kampagne Rethink your Clothes – übertragen an Fairtrade Lëtzebuerg und Caritas Luxembourg – lanciert, um so das Bewusstsein in der Bevölkerung, aber auch in der Textilbranche, für eine nachhaltige sowie sozial- und umweltverträgliche Produktion zu vergrößern. Dabei werden innovative Angebote im Bereich Weiterbildung angeboten, aber auch mit Hilfe von einheimischen Designern und Designerinnen, créateurs und Schneiderbetrieben eine Ausweitung einer zertifizierten Produktion im Bereich Fairer Handel ermöglicht. Das laufende Projekt Fairfashion Lab und der Lët’z Refashion Pop-Up Store auf der Place Royal-Hamilius in Luxemburg-Stadt geben hier erste konkrete Einblicke. Insgesamt wächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines anderen Modekonsums ebenso in Luxemburg, wenn auch verschiedene Projekte sich aufgrund der Komplexität der Lieferkette erst im Laufe der kommenden Jahre konkretisieren werden.
In Bezug auf die eingangs angeführten Beispiele der Baumwoll- und Textilproduktion in Äthiopien und Indien stellt sich die Frage nach unserer Verantwortung und unserer Vision der Menschenrechte im Bereich der Wirtschaft. Wenn wir die Herausforderung der Politikkohärenz ernst nehmen, ist ein rechtlicher Rahmen erforderlich, um die Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte und der Wirtschaft durchzusetzen. Am Beispiel der Textilien wird die Globalisierung der Märkte deutlich: Kleider machen Leute. Die Kampagne Rethink your clothes bringt uns umgekehrt ins Bewusstsein: Leute machen Kleider.
- https://www.srf.ch/sendungen/kassensturz-espresso/genmanipuliertes-saatgut-dominiert-den-baumwolle-anbau (letzter Aufruf: 20. Oktober 2021).
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
