Auf der Suche nach der verlorenen Sozialdemokratie
Ein Essay über die Regierungspartei LSAP
Im Juni 2021 schnitt die altehrwürdige, schon seit 125 Jahren im Parlament vertretene Luxemburger Sozialdemokratie im von Luxemburger Wort und RTL beauftragten TNS Ilres-Politmonitor gut ab. Das war eher unerwartet, hatte die LSAP doch nach den Wahlen von Oktober 2018 die schlechtesten Wahlresultate seit dem Zweiten Weltkrieg eingefahren: nur noch 16,8 % der Stimmen und zehn Abgeordnete. Trotzdem durfte sie wieder mit in die Regierung, weil die starken Einbußen der CSV und die ebenso starken Zugewinne der Gréng gegen alle Erwartungen eine Verlängerung der blau-rot-grünen Koalition möglich gemacht und somit eine insgeheim von den Grünen angestrebte schwarz-grüne Koalition vereitelt hatten.
Kaum jemand hätte Ende 2018 einen Pfifferling auf die Zukunft der LSAP gegeben, nicht einmal der sozialistische Vizepremier Etienne Schneider, der schon im Februar 2020 das Weite suchte und in die Privatwirtschaft verschwand. Dabei war die Partei 37 der letzten 50 Jahre an den Regierungsgeschäften beteiligt, ebenso lang wie in derselben Zeitspanne die früher allmächtige und von 1919 bis 2013 fast ununterbrochen regierende CSV. 24 Jahre Koalitionserfahrung mit der CSV und 13 Jahre mit der DP konnte die LSAP in dieser Zeit verbuchen, aber auch eine strukturelle Erosion ihrer Wählerschaft – und zwar von einem Drittel der Stimmen auf ein Sechstel.
Und dann dieser Politmonitor vom Juni 2021, in dem sich in der Sonntagsfrage 17,8 % der Befragten für die LSAP aussprechen, ein leichtes Aufbäumen, das ihr theoretisch einen Abgeordneten mehr verschaffen würde. Zudem konnten sich, ein wahres Sahnehäubchen, zwei LSAP-Minister, Paulette Lenert und Jean Asselborn, wegen ihrer Kompetenz- und Sympathiewerte ganz vorn platzieren, zwei weitere, Romain Schneider und Taina Bofferding, unter den Top Ten, und zuletzt alle sechs Minister und sogar Fraktionspräsident Georges Engel unter den ersten Zwanzig. Premierminister Bettel (DP) dagegen musste sich mit einem dritten Platz begnügen, und seine Partei schaffte es nur mit fünf Politikern, davon nur vier von sechs Ministern, unter die ersten Zwanzig. Bei der CSV, der größten Partei im Parlament, kam es noch schlimmer. Nur Parteivorsitzender Claude Wiseler schaffte es unter die ersten Zehn, und nur fünf andere CSV-Politiker unter die ersten Zwanzig. Ein Trumpf für die Sozialdemokraten in einem Land, in dem das „Panaschieren“ bei den Wahlgängen und nicht die Programmatik einer Partei eine immer stärkere Rolle spielt und bisher besonders die CSV und die DP begünstigte.
Panaschieren: Doxa, Erosion und Praxis
Nach außen hin hat die LSAP sich bis 2013 vom Panaschieren distanziert, besonders in Verlautbarungen und Veröffentlichungen ihres langjährigen Vorsitzenden (1985-1997) und führenden Parlamentariers (1984-2013) Ben Fayot. Der gab sich in dieser Sache sehr orthodox und setzte lieber auf Programmatik. Wiederholt und bis in die jetzige Zeit schlug er vor, es im Rahmen einer Reform des Wahlrechts abzuschaffen.1 Seine These: Das Panaschieren schwäche die Parteien zugunsten der Persönlichkeiten und hindere sie daran, mehr Frauen, Experten und Nachwuchspolitiker ihrer Wahl, die gesellschaftliche Erneuerungen beschleunigen könnten, in entsprechende Positionen zu bringen.
In der Praxis trug man in den letzten 30 Jahren dem Panaschieren ganz pragmatisch Rechnung und stellte immer wieder bei Wahlgängen auch Promis bzw. Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, den Gewerkschaften und korporativen Vertretungen sowie der Kultur und dem Sport auf die Kandidatenlisten. Es blieb der LSAP im Rahmen des bestehenden Wahlrechts auch nicht viel anderes übrig nach dem beschleunigten Rückgang der Industrie in der Hauptstadt seit den 1960er Jahren, der Stahlindustrie im Süden seit Mitte der 70er Jahre, und dem Personalabbau und der Privatisierung von Post und Bahn seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts – Sektoren, in denen die LSAP ihre Arbeiterbasis hatte. Die Zahl derer, die zugleich Luxemburger und Arbeiter, und damit Stammwähler aus dem Arbeitermilieu waren, reichte einfach für Wahlsiege nicht mehr aus.
In dieser Zeit verlor auch ein anderer entscheidender Pfeiler der LSAP an Bedeutung: jene Vertreter des städtischen Bürgertums in den Bezirken Zentrum und Süden, und der Notabeln aus den Bezirken Norden und Osten, die sich aus ideologischer und sozialer Überzeugung auf die Seite der Sozialdemokratie geschlagen hatten und durch ihren Einfluss der LSAP viele laizistische bzw. antiklerikale Wähler aus anderen Schichten beschafften. Deren bedächtiger und überaus kompromissbereiter Habitus kam nicht mehr mit den neuen gesellschaftlichen Problematiken wie Umwelt, gesellschaftliche Freizügigkeit, Friedensbewegung usw. zurecht.
Die LSAP richtete dann ab den 1980er Jahren ihren Blick auf die damals aufkommenden sogenannten Neuen Mittelklassen: Angestellte des privaten und para-staatlichen Sektors, Beamte, deren Zahl als Folge von LSAP-Politiken ebenso schnell wuchs wie die Zahl der Lehrer und Sozialberufe. Sie konnte massiv aus diesen Kreisen rekrutieren, aber sie als neue Milieus, die sehr pragmatisch auf die politischen Angebote reagier(t)en, nicht an sich binden; und das trotz Euthanasiegesetz, Lockerung der Abtreibungsregeln, Ehe für alle, Trennung von Kirche und Staat, Vorhaben, mit denen man diesen Milieus entgegenkam, während sie für die frühere Arbeiterbasis nur bedingt relevant waren und dort zu Entfremdungen führten.
Diese Entwicklung hat sogar dem socialisme municipal in seiner alten Form bei den Gemeindewahlen von 2017 das Genick gebrochen. Dieser war die traditionelle politische Rückversicherung der LSAP in den Kommunen, wo sie auf Nähe zum Bürger und soziale wie kulturelle Dienstleistungen setzte. Von den größeren Ortschaften sind ihr in der Ex-Hochburg Süden nur noch Düdelingen und Sanem geblieben, und im Norden, wo sie dritte Partei ist, Diekirch und Wiltz, mit Amtsträgern, deren Praxis vor Ort sich durch nichts apart Sozialdemokratisches auszeichnet, sondern vor allem durch Nähe zum Wähler und beste Vernetzung durch lokalen Klientelismus.2
Alex Bodry verkörpert diese Mutation der LSAP und das Auslaufen des alten Parteienmodells wie kaum ein anderer. Er stammt aus einer alten sozialistischen Familie aus Düdelingen, die über drei Generationen einen Arbeiterführer, Jean Fohrmann, dessen Tochter, Marthe Bigelbach, und dann ihn selbst, den Enkel und jungen Rechtsanwalt, ins Parlament gewählt bekam. Bodry, der zwischen 1984 und 2020 selbst 26 Jahre Abgeordneter und zehn Jahre Regierungsmitglied war, zudem zwischen 2004 und 2014 Vorsitzender der LSAP, brachte diese historische Entwicklung im Mai 2021, nunmehr Mitglied des Staatsrats, in einem Gespräch mit dieser Zeitschrift luzide auf den Nenner: „Tatsache ist, dass die Wählerbasis von sozialdemokratischen Parteien wie der LSAP heute in weiten Teilen zur gesellschaftlichen Mittelschicht gehört und sehr volatil geworden ist. Das Arbeitermilieu hierzulande schrumpft, zumindest unter wahlberechtigten Luxemburgern, und viele Zeitgenossen, die sich sozial oder kulturell ausgeschlossen fühlen, erreichen wir nicht mehr. Die große Herausforderung besteht also darin, mit diesen Menschen wieder Kontakt aufzunehmen und ihnen zuzuhören – wohlwissend, dass wir keine einfachen Lösungen auf komplexe Fragen anbieten können. […] Hinzu kommt die Auflösung der traditionellen Milieus und nicht zuletzt die Individualisierung, die vor allem den Volksparteien zu schaffen macht.“3
Neue Zeiten, neue Kategorien
Wie die CSV ist die LSAP schon seit längerer Zeit keine Volkspartei mehr. Wie bei der CSV stellt sich die Frage, was denn noch im Jahre 2021 eine Partei ausmacht, die sich nicht mehr auf die traditionellen Milieus beziehen kann, aus denen sie hervorgegangen ist, deren Stammwählerschaft immer schneller schwindet und die daher ihre Wählerbasis immer neu motivieren und ausweiten muss. Denn wie alle Parteien muss die LSAP sich nun milieuunabhängiger über die eine oder andere Legislaturperiode als mehr oder weniger stabiles sozialpolitisches und erfolgreiches Aggregat behaupten.
Der neue Vorsitzende der LSAP, Yves Cruchten (*1975), operiert angesichts solcher historischen Entwicklungen schon längst nicht mehr mit Langzeitkategorien wie Ben Fayot (*1937) und Alex Bodry (*1958). In einem Gespräch mit Robert Schneider im Tageblatt vor dem LSAP-Kongress im März 2021 erklärte er z. B., dass seine Partei eine ganz andere sei als noch vor fünf Jahren. Und was ist seine Begründung? „Nicht nur der Wirtschaftsminister und der Parteipräsident seien andere, auch gebe es einen neuen Vizepremier (Dan Kersch), einen neuen Fraktionspräsidenten (Georges Engel), eine neue Gesundheitsministerin (Paulette Lenert), das gesamte Personal im Sekretariat sei neu, auch in der Fraktion habe es viele Wechsel gegeben; die Partei sei anders, funktioniere anders.“4
Das ist eine ganz andere Sprache, eine ganz andere Projektion in die Zeit, ein kürzerer Zeithorizont, eine Sache des Auswechselns von politischem Personal, zwar ein Blick nach vorn, aber nicht weiter als über zwei Amtsperioden. „Cruchten hob aber Lenert als Glücksgriff für die Partei und das Land hervor; sie erfülle ihr Ressort mit Empathie, mit Verständnis, kommuniziere immer klar verständlich und begleite die Menschen regelrecht durch die Pandemie“. So gibt Robert Schneider Cruchtens Aussagen wieder. Da geht es um allgemeine, durchaus positive menschliche Fähigkeiten, um Kommunikation. Nur sind das alles Kompetenzen, die man eigentlich bei jedem Zeitgenossen mit ein wenig Verantwortung voraussetzen müsste, nicht nur in der Politik. Dennoch ist es das allgemein Voraussetzbare, das hier als Glücksfall und Ausnahme in der Politik dargestellt wird. So braucht es eine Nuance, um dieser entzauberten Normalität einer spracharmen, fast öde herüberkommenden Sozialdemokratie einen Hauch von Außergewöhnlichem zu verleihen: Lenert „begleite die Menschen regelrecht durch die Pandemie“. Hier bedient Cruchten, ein Laizist, aber kein antireligiöser Hetzer, den stark verinnerlichten sozial-anthropologischen luxemburgischen Topos der Schirmherrin, der Trösterin der Betrübten und Begleiterin im Leid, und stellt Lenert unwillkürlich, aber de facto als Heilsgestalt in eine Reihe mit Unserer Lieben Frau von Luxemburg und ihrer neuzeitlichen Verkörperung auf Erden, der Großherzogin Charlotte. Damit verdrängt der Parteivorsitzende in der eigenen Rede aber alles ins Unerhebliche, was an Lenert sozialdemokratisch sein könnte, und was diese selbst in vielen Interviews auch nie zur Sprache bringen konnte. Die personellen Eigenschaften, von denen man in der LSAP annimmt, dass sie im panaschierenden luxo-luxemburgischen Wahlkontext den Sozialdemokraten Stimmen eintragen könnten, sind nicht parteispezifische, sozialdemokratische, sondern welche, die, unpolitisch und parteiübergreifend, mit dem luxo-luxemburgischen sozial-anthropologischen Fundus am besten korrelieren. Das war ein wichtiger Aspekt der Geschäftsgrundlage der CSV, als sie noch eine Volkspartei war. Das war einmal… Jeder Versuch, dieses CSV-Schema aus einem spontanen Impuls heraus in einem per se säkularen und inzwischen durch die vielen Naturalisierungen auch sozial-anthropologisch anders tickenden Wählerschaft nachahmen zu wollen, kann nur schiefgehen.
Historische Schichten
Diese Unsicherheit innerhalb der LSAP um die eigene gesellschaftliche und politische Identität und Positionierung, aber auch um die Zusammensetzung und den Habitus einer potenziell ansprechbaren Wählerschaft, hatte schon zu Beginn der Auflösung der traditionellen Milieus, aus der sie hervorgegangen ist, eingesetzt. Nach deren Verschwinden, spätestens nach der Jahrhundertwende, verwandelte die Partei sich immer mehr in ein komplexes, vielschichtiges Aggregat von historischem Schwemmgut: Mitglieder der alten sozialistischen Familien (Fohrmann-Bigelbach-Bodry, Hilgen-Vandenbulcke-Fayot, Angel), die auf drei oder vier Generationen Engagement in leitenden Funktionen zurückblicken können, mit Vertretern der dritten Generation, die in ihren Ämtern nicht gerade als treibende Kräfte wahrgenommen werden; historische z. T. klientelistische Clans aus den südlichen und nördlichen Hochburgen, deren verkrustete Rivalitäten nur noch die Insider verstehen; populäre (Gemeinde-)Politiker, die es zuweilen dauerhaft bis in die Regierung geschafft haben, wie Jean Asselborn oder Romain Schneider; Technokraten, die Feuerwehrfunktionen übernehmen mussten, wie Nicolas Schmit oder eben Paulette Lenert; Berufspolitiker ohne Berufserfahrung und/oder Erfahrung in größeren politischen oder gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen (z. B. Dan Kersch, Taina Bofferding, Yves Cruchten, Tess Burton); Promis, die es mit wechselhaftem Erfolg zeitweilig in die Politik verschlagen hat, wie Francine Closener oder Cécile Hemmen; Karrieristen, Exponenten aus Mikromilieus, schlichte Abenteurer, zuweilen sehr populäre, wie Jeannot Krecké und sein Fohlen Etienne Schneider, für die, waren sie gewieft oder schlicht umgänglich und zielstrebig, die inhaltlich steuerlose Partei eine verlockende Anlaufstelle war für ein politisches Amt oder eine politische Ernennung in den hohen Staatsdienst als Trampolin für eine lukrative wirtschaftliche Karriere nach dem Ausscheiden aus Regierung oder Dienst.
Trotzdem besitzt die LSAP immer noch eine sozialdemokratische Aura in einem Staat, in dem ein Drittel der Bevölkerung ohne dessen soziales Umverteilungssystem mit einem Einkommen unter 60 % des Medianeinkommens dem Armutsrisiko ausgesetzt wäre. Sie gilt, gleich wie ihr innerer Zustand auch sein mag, immer noch als ein Garant des tripartiten luxemburgischen Sozialstaats und des Lohnindex. Das macht sie daher auch im Jahre 2021 zu einer Projektionsfläche für innovative Persönlichkeiten mit neuen Ideen, z. B. der junge Jurist Max Leners, der in Sachen Wohnungskrise so manches vorzuschlagen hat. Solche Profile wurden seit den 1970er Jahren gerne rekrutiert, aber auch gerne, damals wie heute, vom Parteiapparat abgestoßen, sollten sie der realen Parteiführung – einige Minister, einige Parlamentarier, der eine oder andere Gewerkschaftler5 – bewusst oder unwillkürlich zu sehr in die Quere kommen.
Regierungspartei
Yves Cruchten brachte das wahre Wesen seiner Partei in seinem Gespräch mit Robert Schneider auf einen Nenner: „Die LSAP sei Regierungspartei, besetze fast alle im Rahmen der Krise relevanten Regierungsposten (Gesundheit, Arbeit, Wirtschaft, Soziales, Inneres, Außenpolitik) und drücke sich nicht vor der Verantwortung. Dies bedeute auch, dass die Partei bei krisenrelevanten Themen fit sein müsse.“ Die LSAP hat in der Tat mit ihren Ministerien eine zentrale Position während der Pandemiekrise eingenommen und war maßgeblich daran beteiligt, dass das Land nicht zusammenbrach. Sie zeichnet mit Vizepremier und Arbeitsminister Dan Kersch verantwortlich für die Regelungen zur Kurz- und Telearbeit, mit Sozialminister Romain Schneider für einen wesentlichen Teil der Umverteilungsprozesse, die Hunderttausende nicht nur, aber besonders in der jetzigen Krise materiell absichern, und mit Gesundheitsministerin Paulette Lenert für wesentliche sanitäre Maßnahmen bei der staatlichen Handhabung der Pandemie, die Schlimmstes verhindert haben. Auch Außenminister Asselborn, der 2023 mit 74 Jahren wieder antreten will, wenngleich er sich schon lange nicht mehr um innenpolitische Angelegenheiten bemüht hat, war hilfreich, um die sich wiederholende Gefahr von Grenzschließungen abzuwehren. Was im sanitären und großregionalen Kontext schiefging, geht aufs Konto der DP-Vorsitzenden, was ja in der Juni-Umfrage fulminant abgestraft wurde.
Das sind die Stärken der sozialistischen Regierungsbeteiligung. Die Schwächen sind aber nicht unbeträchtlich, besonders unter der Voraussetzung, dass die LSAP dazu überzugehen scheint, verstärkt auf das Panaschieren zu setzen.
Kapitän Kersch
Mit seinem Corona-Steuer-Vorschlag hat Dan Kersch steuerpolitisch gesehen sehr amateurhaft reagiert auf die doppelte Notwendigkeit von mehr Steuergerechtigkeit und Füllung der strapazierten Staatskassen. Technisch nur sehr schwer machbar, womöglich teurer als ihre möglichen Einkünfte, ein Reförmchen anstatt einer tiefer greifenden Steuerreform, die die Karten zwischen Besteuerung von Arbeit und Kapital neu mischen müsste, so oder ähnlich lauteten die Kritiken aus eher freundlich gesinnten Kreisen. Der zusehends dünnhäutigere Vizepremier, der wegen seiner brüskierenden Kommunikation bis in die eigenen Reihen nicht gerade der beliebteste Spitzenpolitiker seiner Partei ist, steht jetzt allein im Regen. Sinnstiftende Aussagen Kerschs in seiner Rolle als „Kapitän“ der Sozialisten in der Regierung6 zur Wohnungskrise, in der unendlicher sozialer Sprengstoff liegt, gibt es nur im Sinne, dass er eine neu gestaltete Grundsteuer nicht für machbar hält und sie gegen eine neue Tarifierung der Steuer auf Veräußerungsgewinne von Immobilien ausspielt, obschon das eine ganz andere Angelegenheit ist.7 Noch weniger hat er eine Sensibilität für die Klimafrage. Die verständlichen Sorgen um die sozialen Folgen der Verteuerung klimafreundlicher Basisprodukte für die Kleinverdiener verstellen ihm den Blick auf eine klimafreundliche Steuerpolitik. Seine Aversion gegen die Grünen und seine persönliche Vorliebe für viel Fläche versiegelnde Einzelhäuser im rurbanen Raum stehen ihm hier ebenfalls im Wege. Die Klientel, die Kersch bedienen kann, wird 2023 nicht für einen Wahlsieg ausreichen.
Bofferding: Schein und Leere
Innenministerin Taina Bofferding, die während der Pandemiekrise nur indirekt zum Zuge kam, hat sich zu Beginn des Sommers im Rahmen ihrer landesplanerischen und grundsteuerpolitischen Kompetenzen in die von den Sozialisten vernachlässigte Akte „Wohnungskrise“ eingemischt, für sie „die größte Herausforderung, vor der das Land steht“. So in einem Interview, das sie, so geht es aus der Frage der Journalisten hervor, selbst angeboten hat, worauf die Zeitung dann eingegangen ist, obschon sie nicht mehr zur presse amie gehört wie in alten Zeiten.8 „Für die Menschen ist es eine Priorität, wie die jüngste Politmonitor-Umfrage von TNS Ilres gezeigt hat“, erklärt die Ministerin. Ihre Aussage lässt zwei Hypothesen zu. Entweder leben Apparatschiks wie Frau Bofferding dermaßen isoliert vom Rest der Bürger und frequentieren nur noch Menschen, die eine Wohnung oder ein Haus ihr Eigen nennen, dass es erst einer Umfrage bedarf, um sie auf den Plan zu rufen. Oder es sind Umfragen die ultima ratio, um sie davon zu überzeugen, dass etwas geschehen muss in einer Sache, deren Brisanz ihnen bewusst ist, die sie aber solange wie möglich auf die lange Bank schieben.
Relevant ist auch, dass Bofferding in dem ganzen Interview den als eher schwach wahrgenommenen grünen Wohnungsbauminister, der wie seine Partei in der LSAP gelinde gesagt eher unbeliebt ist, nicht einmal namentlich erwähnt. Und sie selbst? „Die Bürger wollen, dass endlich etwas passiert“, sagt sie forsch. Und dann folgen endlose Erklärungen zu den technischen Hindernissen, die sich der schnellen Einführung einer neuen Grundsteuer entgegenstellen. Die Journalisten stellen in einer Frage nach ihrer Aufzählung eine Dauer von bis zu zehn Jahren in den Raum.
Die apolitische technische Ausrichtung des Interviews offenbart so noch einen anderen Zug der sehr imagebewussten Innenministerin: Sie ist in ihrem Haus ebenso abhängig vom Stoff, den ihr die Verwaltung liefert, wie sie als OGBL-Funktionärin abhängig war von den Ghostwriterdiensten von Kollegen für ihre freien Tribünen im Tageblatt. Gestalterische Fähigkeiten, eigene politische – sozialdemokratische? – Vorstellungen der noch jungen Politikerin über einen primären antireligiösen Atheismus und ein paar Gemeinplätze in der Gendergleichheitsfrage hinaus? Fehlanzeige!
Fayot, über allem schwebend
Franz Fayot, der im Wirtschaftsministerium für den abgesprungenen Etienne Schneider einspringen und wie François Bausch (déi Gréng) im Verteidigungsressort dessen hinterlassene Scherben zusammenkehren musste, tickt anders. Fayot ist sehr gut ausgebildet, immer auf dem Laufenden der letzten auschlaggebenden Fachliteratur, und die Akten seines Ministeriums kennt er auch. Der direkte Kontakt zu den Unternehmern macht ihm sichtlich Spaß. Er ist fähig, komplexe Zusammenhänge darzustellen und eigene und durchdachte Ideen in Sachen Besteuerung zu entwickeln, inklusive was die Immobilienkrise betrifft. So distanziert er sich in einem Interview mit Paperjam diskret, aber ungewöhnlich bestimmt, von der Corona-Steuer seines Parteikollegen Kersch: „Une distinction doit être faite entre les entreprises qui ont innové, qui ont réussi à être agiles et ont bien tiré leur épingle du jeu en respectant les règles, et celles qui l’ont un peu moins fait. On a fait l’analogie avec les profits de guerre et l’imposition sur les profits de guerre… Mais il s’agit d’une discussion complexe, délicate, et je préfère de loin en avoir une plus fondamentale sur l’imposition des grandes fortunes, et en particulier sur le capital non productif. Car une distinction fondamentale existe, selon moi, entre les rentes perçues sur les propriétés et le travail productif ou le capital productif.“ Aber er tut es eben im Paperjam, der nicht unbedingt zur täglichen Lektüre der LSAP-Mitglieder und Wähler gehört.9
Franz Fayots größtes Problem ist, dass er es nicht fertigbringt, seine Vorhaben auf einen politischen Nenner zu bringen und sie den Wählern und seiner Parteibasis zu vermitteln. In seinem Diskurs zerbröselt die spannendste Frage in seichten Gemeinplätzen oder in einer Inflation von Erklärungen und technischen Details, so z. B. bei der Vorstellung Ende Juli 2021 des Updates zur dritten industriellen Revolution, das die Rifkin-Strategie ablösen soll.10 Auch in bodenständigeren Angelegenheiten wie der Sicherheitssituation in seinem eigenen Wohnviertel, dem Bahnhofsviertel, hatte er in mehreren Medienauftritten vor seiner Ministerzeit eine distanzierte, gelassene, ja fast schlafwandlerische Wahrnehmung, die sich kaum mit derjenigen einer Mehrzahl der betroffenen Einwohnern deckte. Und als Vorsitzender seiner Partei von 2019 bis 2020 hat der Mann mit dem schüchtern-fliehenden Blick eines seiner angekündigten Vorhaben, mit der Basis auf Tuchfühlung zu gehen, letzten Endes nie umgesetzt. Für dieses Versäumnis kann die Pandemie als Hindernis nicht herhalten. Fayot ist kein wahlpolitisches Zugpferd, weil er Sache und Menschen nicht zusammenbringt.
Lenert: Wenn da die Politik nicht wäre
Gesundheitsministerin Paulette Lenert hingegen hat als derzeit beliebteste Politikerin des Landes das Potenzial eines Wählermagneten. Und da dies so ist, hatte Ende Juli der Bezirk Osten der LSAP ein kleines Event inklusive direktem Kontakt mit der Basis um ihre Person in Remich organisiert. Nach dem Abgang von Nicolas Schmit nach Brüssel hat der kleinste Wahlbezirk keine Galionsfigur mehr. Da würde sich Lenert, die in ihr Amt berufen wurde, ohne Kandidatin bei den Parlamentswahlen 2018 gewesen zu sein, als sehr starke Nachfolgerin empfehlen. Aber im Osten läuft sie Gefahr, sollte sie sich überhaupt aufstellen lassen, nicht genügend Stimmen für ihre Partei, der sie erst seit 2016 angehört, einzufahren. Deswegen wird nicht nur in der Presse darüber spekuliert, in welchem größeren Bezirk sie sich aufstellen könnte.11 Im Süden scheinen die Plätze schon längst eingenommen. Der Wahlbezirk Zentrum drängt sich auf, wo die LSAP seit Jahrzehnten zunehmend schwächelt, nur Franz Fayot als männlicher Spitzenkandidat in Frage käme und mehr als sonst wo panaschiert wird. Eine doppelte Spitzenkandidatur könnte dort sogar Fayot pushen. Bliebe ein Restrisiko: das Absacken der LSAP im Bezirk Osten in die Bedeutungslosigkeit.
Aber darüber hinaus stellt sich die Frage: Will Paulette Lenert das überhaupt? Sie selbst sah sich im Januar 2021, zehn Wochen vor ihrem stressbedingten Zusammenbruch, nur bedingt als Politikerin mit Ambitionen nach der Krise: „Pour moi, la vie politique est actuellement une expérience dure. J’adore le métier, la gestion de crise et le ressort de la santé, mais j’ai plus de mal à m’accommoder du volet politique. Tous ces débats, ce côté théâtral, ces grands effets de manche… (…) Donc j’y réfléchirai une fois que cette crise sera derrière nous.“12 Auf Konfrontation ist sie nicht gerne gegangen, weder mit den Impfdränglern aus dem Verwaltungsrat der Hôpitaux Robert Schuman, noch mit Familienministerin Corinne Cahen in der Affäre um die Infektionscluster in Altersheimen.
Nach ihrer Genesung antwortet sie Dhiraj Sabharwal vom Tageblatt auf die Frage, ob sie sich „eigentlich als Politikerin“ fühle, mit ähnlichen Metaphern und derselben Skepsis gegenüber einem „Beruf“, dessen Kehrseite für sie eigentlich eine Art Schmierenkomödiantentum ist: „Ich bin nicht Schauspielerin. Ich habe wirklich ein Problem damit, wenn man sagt, Politik ist etwas wie eine Inszenierung. Das stört mich. Das hat mich auch bei der Arbeit als Anwältin gestört. Da ist auch viel ‚effet de manche’ dabei. Ich habe mich im Beruf als Richterin wohler gefühlt. Man ist zurückgezogener. Das ist nicht so meine Welt.“13
Die beliebteste Politikerin des Landes bleibt also noch eine Unbekannte in den vielen schwierigen Gleichungen ihrer Partei. Ebenso unklar ist, was die bewährte Krisenmanagerin als Sozialdemokratin auszeichnet und was ihre Ansichten und Kompetenzen in anderen politischen Bereichen sind. Aber spielt dies für die LSAP noch eine Rolle bei einer ansonsten idealen Kandidatin für Panaschierer? Nein! Da Lenert keine politischen Ecken und Kanten zeigt oder zeigen will, ist sie ein politisch weißes Blatt, auf das sich Viele projizieren können, eine typisch luxo-luxemburgische Heils- bis Identifikationsfigur, wie gemacht für ihre schwächelnde Partei, die sich, wie die abgestürzte CSV, vor allem als Regierungspartei sieht. Diese Gleichung kann für die LSAP im Bezirk Zentrum aufgehen. Es ist aber zweifelhaft, ob sie strategisch greift. In seinem Interview mit forum im Mai 2021 erklärte der Sozialist Alex Bodry: „Luxemburg stößt durch die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte an die Grenzen seiner Eigenstaatlichkeit. Wir müssen ein Volumen an Aktivitäten verwalten, das in keinerlei Verhältnis mehr steht zu unserer bescheidenen Größe, unserer Bevölkerung, unseren Kompetenzen und Kapazitäten.“ Das Land braucht mehr Politik und vor allem eine andere Politik, und nicht weniger Politik. Ein Wahlgang als Wettbewerb zwischen selbstausgerufenen profillosen Regierungsparteien, die alle verstärkt aufs Panaschieren setzen, kann der Eigenstaatlichkeit Luxemburgs langfristig nur schaden.
- Siehe Ben Fayot, „Le suffrage universel, la loi électorale et les partis au Luxembourg“, in: 100 ans de suffrage universel au Luxembourg et en Europe – Actes du colloque, Mailand, SilvanaEditoriale, 2021, S. 135-147.
- Jedes Mal waren die Gréng das Zünglein an der Waage, welches das Ausbooten der Sozialisten aus ihren Hochburgen mit Hilfe der CSV ermöglichte. Nur bei den Allgemeinwahlen 2018 ging diese Rechnung nicht auf. Selbstredend ist die Erinnerung an diese Vorgänge der weiße Elefant, der im Raum steht, wenn Sozialisten und Grüne im abgeschotteten Raum aneinandergeraten.
- „,Joe Biden macht gute sozialdemokratische Politik‘“ (Interview mit Alex Bodry, geführt von Pierre Lorang und Michel Pauly), in: forum 417 (Mai 2021), S. 6-11.
- Robert Schneider, „Der direkte Kontakt fehlt uns besonders“, in: Tageblatt vom 20. März 2021.
- Letzteres gilt aber nur bis zu den Zeiten, als John Castegnaro OGBL-Chef war. Seine Nachfolger gingen auf Distanz. Er selbst war in der Folge zwischen 2004 und 2009 Abgeordneter, verfügte in dieser Rolle aber nicht mehr über dieselben Machthebel und hatte als Abgeordneter in einer Welt, in der er für ihn ungewohnt viel Widerspruch erleben musste, keine glückliche Hand.
- So bezeichnete Kersch sich selbst in einem Gespräch mit Geneviève Montaigu in Le Quotidien vom 16. August 2021, das unter dem vielsagenden Titel „Pour discuter, il faut moins d’idéologie et plus de pragmatisme“ erschien.
- „,Ech weess jo, wéi dat gelaf ass‘. Dan Kersch sur le climat (politique), les limites d’une réforme de l’impôt foncier et ses relations troublées avec les Verts“ (Interview geführt von Bernard Thomas), in: Lëtzeburger Land vom 14. Mai 2021.
- „Wir setzen nicht mehr auf den guten Willen“ (Interview mit Taina Bofferding, geführt von Christian Muller und Tom Haas), in: Tageblatt vom 19. Juli 2021.
- https://paperjam.lu/article/franz-fayot-resilience-a-relan-2 (letzter Aufruf: 24. August 2021).
- https://gouvernement.lu/fr/actualites/toutes_actualites/communiques/2021/07-juillet/30-rifkin.html (letzter Aufruf: 24. August 2021).
- So Tom Haas in seinem Tageblatt-Editorial vom 29. Juli 2021: „Sozialistische Rechenspiele – Paulette Lenert als politischer Machtfaktor“.
- „Je n’aurais jamais osé accepter ce poste“ – Interview mit Paperjam vom 29. Januar 2021.
- Dieses Interview vom 14. Mai 2021 trägt den signifikanten Titel „Die Brutalisierung der Politik“.
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