- Politik, Verfassung
Auf der Zielgeraden?
Luxemburg gibt sich eine „Verfassung für das 21. Jahrhundert“
Man kann den wechselnden Vertretern in der Verfassungskommission der Chamber, den verschiedenen Regierungen seit 2003 und auch dem Staatsrat nicht den Vorwurf machen, sie hätten die Arbeiten an der Revision der Verfassung (2003 bis 2009) bzw. an einem Neuentwurf (seit 2009) auf die leichte Schulter genommen. Seit nunmehr 16 Jahren arbeiten sich Abgeordnete, Verfassungsrechtler und eine Vielzahl von Experten und interessierten Bürgern schon an der Neufassung unseres „Grundgesetzes“ ab. Das entsprechende Dossier 6030 ist das von der Seitenzahl her bislang umfangreichste im Archiv der Chamber.
Ende des 20. Jahrhunderts hatten sich die punktuellen Verfassungsänderungen in Luxemburg gehäuft, insbesondere weil es immer offensichtlicher wurde, dass der Text von 1868 im Widerspruch zu einer Reihe internationaler Abkommen stand, die Luxemburg unterzeichnet hatte. Um nicht in Widerspruch zu europäischen oder internationalen Standards zu stehen, musste der Gesetzgeber nachbessern, zum Beispiel bei der Einführung des kommunalen Wahlrechts für EU-Bürger (1994), der Reform des Staatsrats mit Schaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit (1996), der „Heiligkeit“ des Großherzogs (1998) oder dem Zugang von Nicht-Luxemburgern zum Staatsdienst (1999). Doch die eigentliche Crux war, dass die luxemburgische Verfassung in ihrer Grundstruktur gewissermaßen eine juristische Fiktion darstellte, die nur funktionieren konnte, solange niemand ihren Wortlaut für bare Münze nahm. Das leicht schizophrene institutionelle Arrangement bestand darin, dass kein notwendiger Zusammenhang bestehen müsse zwischen der geschriebenen Verfassung und der täglich gelebten Verfassungswirklichkeit. Denn der Text gab dem Großherzog vordergründig alle Macht, in der Realität sollte er jedoch nur ihren Schein in den Händen halten.
Als Großherzog Henri 2009 jedoch ankündigte, er werde sich auf den Text der Verfassung berufen, um das ihm widerstrebende Euthanasie-Gesetz nicht unterzeichnen zu müssen, brach das juristische Kartenhaus zusammen. Das Parlament musste den Großherzog über Nacht in einem wichtigen Punkt entmachten (dieser konnte fortan die Gesetze nicht mehr „gutheißen“, sondern nur noch „erlassen“) und gab sich – mutig geworden – den Auftrag, eine von Grund auf neu geordnete Verfassung auszuarbeiten, um in Zukunft allen Überraschungen vorzubeugen. Das Durcheinander um die vorgezogenen Neuwahlen von 2013 offenbarten der staunenden Öffentlichkeit dann noch einmal das ganze Ausmaß der juristischen Unklarheiten. Nach dem Sommer 2013 war jedem einsichtig, dass die Verfassung dringend entstaubt werden müsse.
Le Luxembourg est un Etat démocratique, libre, indépendant et indivisible.
Der Entwurf der neuen Verfassung gestaltete sich langsam unter der Federführung von Paul-Henri Meyers (CSV, Mitglied der Chamber von 1999 bis 2018) und Alex Bodry (LSAP, Mitglied der Chamber seit 1984, zwischenzeitlich Minister von 1989 bis 1999). Die Arbeiten wurden von den vier großen Parteien gemeinsam getragen, die Berichte immer gemeinsam validiert. Da für Verfassungsänderungen eine Zweidrittelmehrheit in der Chamber erforderlich ist, konnte die CSV auch nach dem Regierungswechsel von 2013 den Gang der Arbeiten maßgeblich mitbestimmen.
Mehrfach gab der Staatsrat seine Stellungnahmen ab. Ausländische Verfassungsexperten wurden hinzugezogen (etwa der belgische Verfassungsrechtler Francis Delpérée). Die Venedig-Kommission des Europarats, die die Staaten Europas in Verfassungsfragen berät, wurde zweimal um ihre Einschätzung gebeten und lieferte wertvolle Hinweise. Und schließlich wurde die Bevölkerung befragt: einmal durch das Referendum vom 7. Juni 2015, das insbesondere zwei kontroverse Fragen im Zusammenhang mit dem Wahlrecht klären sollte (Wahlrecht ab 16 Jahren und das sogenannte „Einwohnerwahlrecht“; beide Vorschläge wurden wie bekannt mit rund 76 Prozent der Stimmen, d.h. von rund 28 Prozent der Wohnbevölkerung des Landes abgelehnt), und zum anderen durch eine als Bürger-Partizipation deklarierte Onlinebefragung, die die Wünsche der Bevölkerung insbesondere im Bereich der Grundrechte einholen sollte. Die anschließenden, sehr spannenden Hearings in der Chamber führten zu einer Reihe von nicht unerheblichen Textänderungen.
Le Grand-Duc est le Chef de l’Etat. Il représente l’Etat.
Die Regierung legte ihre eigenen Bescheide vor, die zum Teil berücksichtigt wurden. Auch der Hof versuchte, seine Interessen einzubringen, was eher nicht gelang. Der jetzt vorliegende Text spricht vom Großherzog in einem eigenen Unterkapitel (De la monarchie constitutionelle), ansonsten wird nur noch vom Staatschef gesprochen. Die Bemühungen des Hofes, den privatrechtlichen Familienpakt in der Verfassung zu verankern (etwa um die Erbfolge zu definieren), hat nicht gefruchtet. Und wer den Text aus einem ganz bestimmten Blickwinkel liest, wird erkennen können, dass der Weg in die Republik zwar nicht ausdrücklich vorgezeichnet ist, aber auch kein juristisches Problem darstellen wird, sollten die Mitglieder der Familie Nassau-Weilburg irgendwann einmal kein überzeugendes Interesse mehr an dem Amt zeigen.
Gerade im Hinblick auf den Großherzog hätte der Text aber auch noch weiter gehen können. Ungeklärt bleibt insbesondere die Frage, wie der Staatschef sich bei der Regierungsbildung verhalten soll. Er kann weiterhin gewissermaßen nach Gutdünken einen Formateur (der die Regierung bildet) oder auch einen Informateur (der die politischen Mehrheiten erkundet) ernennen. Eine Auflage, etwa die stärkste Partei zuerst mit der Regierungsbildung zu beauftragen, besteht nicht.
An über 20 Stellen verweist der Text auf Gesetze, die Einzelheiten klären sollen. Das gilt zum Teil auch für das Wahlgesetz. Die Chamber als Verfassungs- und Gesetzgeber lässt sich damit für die Zukunft die Möglichkeit offen, in wichtigen Bereichen noch Änderungen anzubringen, und zwar nicht mittels Verfassungsänderung, sondern über den Weg der einfachen parlamentarischen Mehrheit. Gerade weil die Bevölkerung aber in naher Zukunft über die Verfassung abstimmen soll, sollten essenzielle Fragen fairerweise im Vorfeld beantwortet sein.
Um eine dieser Fragen zu klären, hatte Premierminister Xavier Bettel im April einen Brief an die Parteien gesandt, um deren Position hinsichtlich der Einführung eines einheitlichen Wahlbezirkes in Erfahrung zu bringen (der Entwurf schreibt zurzeit die vier Wahlbezirke fest). Der einheitliche Wahlbezirk, d.h. die Aufstellung gemeinsamer Wahllisten für das gesamte Land, wäre tatsächlich ein so bedeutender Eingriff in die politische Kultur des Landes, dass eine Klärung im Vorfeld sicherlich sinnvoll wäre. Genauso verhält es sich mit der Abschaffung der Doppelmandate (BürgermeisterIn/Abgeordnete), die ebenfalls seit Jahren diskutiert wird – gegen den erbitterten Widerstand der amtierenden Députés-maires.
Les partis politiques concourent à la formation de la volonté populaire.
Diese Anfrage bot dem neuen CSV-Präsidenten Frank Engel am 2. Juli den Vorwand, die bislang herrschende überparteiliche Zusammenarbeit bei der Verfassungsrevision aufzukündigen. Die CSV brachte als Begründung jedoch keine neuen Positionen ins Spiel; ihre Mitglieder im Verfassungsausschuss stimmten sogar wenige Tage später, am 10. Juli, noch gemeinsam mit den anderen Parteien für die letzten Anpassungen am Text. Stattdessen möchte die CSV die Bürger noch einmal zu einzelnen Aspekten der Verfassung in einem Referendum befragen. Welche Aspekte dies sein könnten, und wie diese Fragen zu bestimmen seien, hat sie jedoch nicht mitgeteilt – ausdrücklich sollten keine Tabus bestehen, was auch immer das heißen mag. Damit verabschiedet sich die CSV zumindest in diesem Punkt von eigenen politischen Positionen und mutiert zu einer „Referendumspartei“.
Die CSV-Fraktion und ihr eher vorsichtiger Verfassungssprecher Léon Gloden stimmten der „disruptiven“ Strategie ihres Parteichefs zum Teil zähneknirschend zu, doch der Ärger über die Regierungsmehrheit, die in dieser Legislaturperiode alle Rücksichtnahme auf die Opposition hat fallenlassen und die CSV-Kollegen bei jeder Gelegenheit zu demütigen scheint, veranlasste offenbar auch die staatstragenderen Elemente in der Fraktion, ihre vornehme Zurückhaltung aufzugeben. Wie die Stimmung bei den Parteimitgliedern selber aussieht, kann nur gemutmaßt werden. Seit der Wahl Frank Engels zum Vorsitzenden äußern sich die alten Parteigranden nicht mehr öffentlich.
Die Aufregung, die Engels Ankündigung im Parlaments- und Regierungsviertel folgte, hat sich jedoch über den Sommer gelegt. Niemand glaubt mehr ernsthaft daran, dass die CSV sich am Ende verweigern könnte, der Schaden wäre für alle Beteiligten zu groß. Die CSV hat in mehreren Interviews nach dem Sommer auch schon angedeutet, dass sie mit sich reden lassen möchte. Ein bisschen wie Trump und Johnson (ohne hier weitere Parallelen ziehen zu wollen) will auch Frank Engel ein Game changer sein, von politischen Freunden wird er als Hasardeur beschrieben, der die Grenzen des politischen Spiels testen möchte. Für die am Boden liegende CSV kann das die Revanche für ihre Demütigung darstellen, es könnte aber auch die endgültige Weichenstellung sein, um aus der ehemaligen Staatspartei CSV eine normale konservative Partei zu machen, die zwischen 15 und 25 Prozent Wähleranteil vereint.
Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Regierungsparteien der CSV in den kommenden Wochen symbolisch entgegenkommen, um ihr aus der selbstgestellten Falle herauszuhelfen. Ist dieser Stolperstein aus dem Weg geräumt, kann die geplante Informationskampagne anlaufen, es werden weitere Gespräche geführt werden, die letzten Änderungen am Entwurf werden vorgenommen. Schließlich wird es aller Voraussicht nach im kommenden Jahr ein Votum in der Chamber und danach ein Verfassungsreferendum geben, vielleicht verbunden mit der Frage nach der Staatsform. Alles andere wäre den Bürgern nicht mehr zu vermitteln.
Überblick
Diese forum-Ausgabe möchte eine erste Einführung in den Text der zukünftigen Verfassung bieten. Das Dokument selber (weitgehend abgeschlossen, in der Version vom 10. Juli 2019) findet sich in der Mitte unseres Heftes (hier) und auf www.chd.lu. Es lohnt sich, den Text einmal als Ganzes zu lesen (oder zu überfliegen), um sich einen Überblick zu verschaffen und sich von der formalen Qualität zu überzeugen.
In den Beiträgen unserer Autoren werden die verschiedenen Hauptkapitel des Entwurfes vorgestellt, die dahinter stehenden Motive erläutert und zum Teil kritisch kommentiert. Einige Texte bieten sich als Einleitung an für alle, die sich noch nie mit dem Thema beschäftigt haben. Das gilt insbesondere für den Text von Henri Kox zur „demokratischen Modernisierung“ und von André Hoffmann zur Rolle und Stellung des Parlaments. Andere Beiträge sind eher beschreibend und erläutern auf relativ nüchterne Weise die neuen Zusammenhänge wie jener von Alex Bodry zur Regierung und von Paul-Henri Meyers zur Monarchie. Der Beitrag von Danielle Wolter diskutiert die Beziehung der Verfassung zu internationalen Verträgen. Paul Schmit präsentiert die im Entwurf aufgenommenen Grundrechte und Staatsziele und die damit aufgeworfenen Fragen. Gerade bei seinem Beitrag kann es sinnvoll sein, sich den Verfassungstext aus der Mitte des Heftes herauszutrennen und daneben zu legen. Auch das Kapitel von Georges Wivenes über die Reformen innerhalb der Justiz könnte einige Nicht-Juristen erst einmal entmutigen, aber wenn man sich darauf einlässt und sich mit dem Vokabular vertraut macht, bietet es eine exzellente Einführung in die Funktionsweise der luxemburgischen Justiz und in die Problematik der beabsichtigten Änderungen.
Jene, die weiter ins Thema einsteigen wollen, finden auf www.forum.lu unter dem Menüpunkt „Fokus“ einige Dutzend Beiträge aus dem forum-Archiv der letzten 15 Jahre, die der Verfassungsreform gewidmet waren. Das Thema wird die luxemburgische Öffentlichkeit mit Sicherheit in den nächsten Monaten beschäftigen, und wir möchten Sie als forum-Leser gut auf die Debatte vorbereiten!
Wenn Sie Fragen, Zweifel oder Anmerkungen zu dem hier präsentierten Verfassungsentwurf haben, dann senden Sie uns diese doch bitte an forum@pt.lu. Wir kommen in einem der nächsten Hefte darauf zurück.
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