Auf los, lass los
Welche Begleitung auf dem Weg vom Arbeitsleben in den Ruhestand?
„Altwerden ist nichts für Feiglinge“, meinte Quizmaster und Fernsehlegende Joachim Fuchsberger in seinem gleichnamigen Buch. Und je unsterblicher wir uns wähnen, desto mehr Mut verlangt es, den untrüglichen Zeichen des Unabwendbaren entgegen zu treten. Einer dieser Meilensteine ist der Übergang vom Berufsleben ins Nacherwerbsleben, auch Ruhestand genannt. Wie können wir dieses Ereignis nicht nur meistern, sondern aktiv gestalten?
Beruf, Berufung und Sinn
Schon das Wort „Beruf“ hat es in sich. Abgeleitet aus dem lateinischen Wort „vocatio“, hat es den gleichen Ursprung wie „Berufung“, und Martin Luther sah dann auch den Menschen als Mitarbeiter Gottes. Der „Beruf“ beinhaltete zwei Aspekte: die soziale Berufung, die durch Stand und Amt des Menschen in der Welt sichtbar war, und andererseits die innere Berufung, die für den damals göttlich vorgegebenen Sinn der jeweiligen Tätigkeit stand. In unserer heutigen, anthropo-zentrischen Gesellschaft hat sich dieser Sinn vom Göttlichen zum Individuellen verschoben. Sinnhaft ist, was für den Einzelnen Sinn macht, und demnach gibt es ebenso viele Definitionen von dem, was sinnvoll ist, wie Menschen auf dieser Erde. Genau dort liegt die Herausforderung bei der Gestaltung des Nacherwerbslebens: was macht für mich Sinn, und wie bringe ich es fertig, diesen Sinn in Verhaltensweisen zu übersetzen, seien es altbewährte, oder gänzlich neue? Um diesen manchmal sehr weiten Spagat ohne größere Verletzungen hin zu bekommen, ist es wichtig, sich dieser Frage mit Mut, Ehrlichkeit und der Bereitschaft zur Veränderung zu stellen. Dazu gehört auch die scheinbar sehr einfache Frage „Wo bin ich eigentlich nach all den Jahren gelandet?“. Oft ähnelt ein Arbeitsleben einer jahrzehntelangen Tour de France, bei der man als über den Lenker gebeugter Radfahrer nur auf die Streifen auf der Straße geschaut und die Dörfer, Ereignisse und Menschen, die diese Straßen säumten, nur als sekundär, beziehungsweise überhaupt nicht wahrgenommen hat. Zu wissen, wo man wie und warum angekommen ist, ermöglicht es, den Sinn des eigenen Handelns – sollte man ihn nicht schon kennen – für die nächste Lebensphase zu entdecken und darauf aufzubauen.
Das System Leben erfassen
Wir leben in verschiedenen Systemen und deren Subsystemen, in denen wir, ebenso wie alle anderen Teilnehmer am System, Akteure sind. Die Unternehmen, Abteilungen, Beziehungen zu Individuen, Familie, Freundeskreise, Motorradclubs usw., in denen wir leben, sind allesamt soziale Systeme1, zu deren Funktionieren wir aktiv beitragen. Nie sind wir nur passiv, denn auch nichts zu tun ist eine Handlung, die einen Einfluss auf das System hat – sei es ein erhaltender, verstörender oder zerstörender. Der Wegfall des Subsystems „meine Arbeitswelt“ hat einen zumindest verstörenden Einfluss auf das große, ganze System „mein Leben“. Denn wer, was und wie wir in diesen Systemen „sind“, hängt vom jeweiligen System und dessen Akteuren ab, von denen wir nur einer unter vielen sind: Auf dem Fußballplatz können wir z.B. einen anderen Kommunikationsstil pflegen als am Arbeitsplatz, und mit unseren Kindern sprechen wir anders als mit unserem Lebenspartner. Demnach sind wir etwas oder jemand nie absolut, sondern nur durch unsere Beziehung zu anderen, und Beziehungen sind Kommunikation.
Das Leben als was schon war, oder als was noch übrig bleibt?
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich in die Zukunft projizieren kann – was uns unweigerlich mit unserer eigenen Vergänglichkeit und unserem Tod konfrontiert. Als Jugendliche und bis in unsere frühen 20er wähnen wir uns unsterblich, als junge Erwachsene ist der Tod auch nicht mehr als ein entferntes Rauschen. Bis in unsere 40er hinein denken wir über unser Leben als „was wir schon erlebt haben“ nach. Danach kippt unsere Perspektive, und wir beschäftigen uns immer mehr damit, wieviel Zeit uns noch bleibt. Diese Erkenntnis zwingt uns zum Handeln, so wie Alain de Botton beschreibt: „If confidence can’t be summoned in more standard, gentle ways, death is always there as a resource to frighten us into productivity.“2
„Das Leben kann in der Schau nur rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ Søren Kierkegaard, 1813-1855
Das Zusammenspiel aller unserer Systeme ist ebenso komplex wie evolutiv, und demnach ist eine derartige Standortbestimmung (wo bin ich, wie bin ich hierher gekommen, und wohin will ich noch?) in der Transitionsphase vom Arbeitsleben in den Ruhestand alleine schwer zu bewältigen. Hier kann Begleitung helfen. Eine solche Begleitung braucht Zeit und persönliches Engagement, sowohl seitens des Begleiters, als auch des Begleiteten und seines Kontextes – der anderen Akteure seiner Systeme. Es ist ausschlaggebend, dass jeder Akteur sich der Tatsache bewusst ist, dass der Übergang in den Ruhestand und demnach der Wegfall des Systems „Arbeit“, einen entscheidenden Impakt auf die anderen Systeme und deren Akteure hat. Wenn der Lebenspartner plötzlich 24 Stunden am Tag statt nur am Feierabend zu Hause ist, ist dies ein Stresstest für die Partnerschaft und für die Individuen, die in dieser Partnerschaft leben.
Begleitung in dieser Lebensphase, die de facto in den 40ern mit dem Kippen der Perspektive auf das eigene „Restleben“ beginnt, kann sowohl individuell als in Gruppen erfolgen. Die Auswahl der geeigneten Begleitung ist extrem wichtig, da sie auf dem beidseitigen Vertrauen zwischen Begleitetem und Begleiter fußt, das für eine langfristige Zusammenarbeit erforderlich ist.
Systemisches Coaching – Systeme erkennen und verändern
Obwohl Coaching mittlerweile als Containerbegriff für Geschäftsideen vom Farbencoaching zum Nagellackcoaching gilt, ist besonders systemisches Coaching im Bereich der Übergangsphase ins Nach-erwerbsleben eine ernst zu nehmende Alternative. Langfristig ausgelegt und am Berufsalltag orientiert ermöglicht systemisches Coaching dem Begleiteten, seine eigenen Antworten auf seine eigenen Fragen selber zu finden und zu erarbeiten – bekäme er diese Antworten vom Begleiter serviert, würde er fortan das Leben eines Anderen leben. Durch konstantes, teilweise „zirkuläres“3 Hinterfragen der jeweiligen Situation des Begleiteten wird es ihm ermöglicht, genügend Abstand zu seinen Systemen zu erhalten, um deren Funktionsweise und seinen Beitrag dazu zu erkennen. So kann er ändern, was stört, und behalten, was funktioniert, und darauf seine weiteren Schritte aufbauen. „Systemisches Coaching erschließt dem Klienten dann neue Ideen und Handlungsoptionen – ganz im Sinne des ethischen Imperativs von Heinz von Förster: „Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst!“4
Auch morgen noch machen
Im Gruppenbereich startete die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Olten im Jahre 2016 ein Pilotprojekt mit dem – etwas unglücklich gewählten – Namen EXPIRIO. Zielgruppe waren „erfahrene und engagierte Mitarbeitende“, und das Programm war so aufgebaut, dass es ihnen „und deren Firmen erlaubt, den Übergang vom Berufsleben in die Nacherwerbsphase zielorientiert zugunsten der Mitarbeitenden und der Firmen selbst zu gestalten“. EXPIRIO ging davon aus, „dass Pensionierte oder vor der Pension stehende Personen entlang ihres Engagements sowohl in ihren Firmen, in die Gründung neuer Unternehmen als auch in die Unterstützung neuer und bereits tätiger Unternehmer eingebunden werden können (z.B. als Beratende oder als Managementkräfte auf Zeit). Auf diesem Weg kann der Erfahrungsschatz, über den diese Menschen verfügen und der im Ruhestand verloren gehen kann, geteilt werden“5. Leider wurde die Idee nicht in ein tatsächliches Weiterbildungstrajekt umgesetzt, da der Pilotworkshop nicht zustande kam – was den Handlungsbedarf nur noch größer erscheinen lässt. Das Angebot an Weiterbildungen im Gruppenformat ist eher unüberschaubar – „Weiterbildung Ruhestand Übergang“ bringt auf Google 182 000 Ergebnisse.
Loslassen
Seine eigenen Systeme verändern heißt verzichten, und verzichten heißt loslassen. Manfred Kets de Vries, Raoul de Vitry D’Avaucourt, Clinical Professor im Bereich Leadership Development, INSEAD Frankreich und Singapur, beschreibt in seinem Artikel The Retirement Syndrome – The Psychology of Letting Go6 die finanziellen, sozialen und psychologischen Aspekte des Übergangs in den Ruhestand und die Herausforderungen, die mit dem Loslassen von Macht, Geld und Status, sowie der Angst, nichts zu hinterlassen, verbunden sind. Er überschreibt seine Analyse mit einem Zitat von Maurice Chevalier: „Alt werden ist gar nicht mal so schlimm, wenn man sich die Alternative vor Augen hält“, und schließt mit folgender Feststellung: „Weisheit zu erreichen ist eines der schwierigsten Kapitel im Buch des Lebens, aber auch eines der dankbarsten“. Selber ist Kets de Vries 1942 geboren und denkt noch nicht ans Aufhören.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Systemtheorie_(Luhmann)#Soziale_Systeme
[2] Cf. Alain de Botton, School of Life.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Zirkuläre_Frage
[4] https://www.dgsf.org/service/was-heisst-systemisch/systemische_coaching.htm
[6] https://www.fhnw.ch/ppt/content/prj/T999-0695
[7] https://sites.insead.edu/facultyresearch/research/doc.cfm?did=2217
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