Bau-Zeichen

Unsere gebaute Umwelt lesen

„… hast du nicht beobachtet, wenn du dich in dieser Stadt ergingst, daß unter den Bauwerken, die sie bevölkern, die einen stumm sind, die anderen reden, und noch andere schließlich, und das sind die seltens-
ten, singen?“ (Paul Valéry, Eupalinos, oder über die Architektur, übertragen von R.M. Rilke, 1927)

Anlässlich der Feier zum 25-jährigen Bestehen hatte der Luxemburger Ordre des architectes et des ingénieurs-conseils (OAI) eine Anfrage an das Musée d’Histoire de la Ville de Luxembourg zur Beherbergung einer Ausstellung gerichtet. Das Museum hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Ausstellung zum Thema „Zeichen — Sprache ohne Worte“ eingeplant und schlug vor, sich dem Thema anzugliedern, zumal Architektur in der aus dem Bonner Haus der Geschichte übernommenen Ausstellung nicht weiter behandelt wird.

Das Ziel des Ausstellungs-Moduls „Bau-Zeichen“ soll sein, dem breiteren Publikum Inspiration und beispielhafte Anleitungen zum vertieften „Lesen“ seiner gebauten Umwelt zu liefern. Der sozio-
politische Gedanke dahinter ist, dass ein bewussteres Verständnis und Kennen seiner Umwelt auch zu einer besseren Verankerung der Bürger führt. Diese Bereicherung speist günstigstenfalls auch den Bürgersinn, den unsere demokratische Gesellschaft als konstituierendes Element dringend und fortlaufend benötigt.

Architektur „lesen“ heißt schlicht: Narrationen im Gebauten und Gestalteten erkennen, oder sie selber schaffen. Dies muss nicht unbedingt über den Weg von dokumentierten Informationen laufen, sondern zuallererst über die einfache Wahrnehmung. Auch der/die Nicht-Fachmann/frau kann aus der Wahrnehmung von Architektur Erkenntnisse ziehen, beziehungsweise Geschichten daraus lesen. Dabei gilt es, dem eigenen Auge Vertrauen zu schenken.
Deshalb geht es in der Ausstellung um Architektur und um die gestaltete Umwelt. Methodisch ausgedrückt: Der Ansatz soll werkimmanent sein, und es zählt hier die Wirkung von Architektur, zunächst weniger der Name und der Rang des Architekten oder Bauherren.

Wenn wir über Zeichen in der gebauten Umwelt sprechen, nehmen wir einen Standpunkt aus dem öffentlichen Raum heraus ein. Der erweiterte Begriff des „Öffentlichen“ schließt alles ein, was sichtbar ist, das heißt, er umfasst sowohl das Stadt-Panorama wie auch die Fensterbank eines Wohnhauses. Jede Fassade und jeder Vorgarten ist öffentlich und dem lesenden Blick potentiell zugänglich. Die Zeichen, die wir erkennen können, haben auch mit dem Zeigen von etwas zu tun, gewollt oder ungewollt. Hier liegt dann auch die Verantwortung von uns allen, die wir durch das Zeigen Zeichen setzen.

Die Auswahl der Themen ist ein offenes Unterfangen, das selbstverständlich erweiterbar wäre. Es geht dabei um offensichtliche oder hinzuzufügende Narrationen und Lesarten. Das gelegentlich Subjektive ist dabei Teil der Einladung zur Beteiligung.

Zu den Themen:

1. Das Erscheinungsbild der Stadt Luxemburg weist besondere Aspekte auf. War die Stadt lange von den militärischen Anforderungen der Festung geprägt, kann sie sich seit 1867 ungehindert ausbreiten und entwickeln. Öbrig geblieben ist im Zentrum ein gewisser Platzmangel und Kleinparzellierung, wozu etwa der Kirchberg einen Kontrast bildet. Der
Panorama-Blick, den wir von verschiedenen Standpunkten aus haben, verdeutlicht dies. Die Hierarchie, früher durch die geologische Lage einer geschützten Oberstadt bestimmt, ist durch die Entgrenzung aufgelöst.

2. Kirchen waren historisch auch immer Koordinaten im Ortsbild. Da auf absehbare Zeit weniger Bedarf an Sakralbauten bestehen wird, müssen die Neubaugebiete ohne diese Orientierungspunkte auskommen. So ist die letzte Kirche im Stadtgebiet 1980 auf dem Cents eingeweiht worden. Dies ist bekanntlich auch eine internationale Entwicklung. Bei Fahrten durch ländliche Gebiete, nehmen wir Frankreich, sehen wir, noch von weitem, durch die Kirchtürme markiert, auch ohne GPS, wo sich die Ortsmitte befindet und wir ein Café mit Terrasse erwarten können.

3. Die Banken prägen unser Stadtbild. Einige haben Gebäude bezogen oder gebaut, die auch etwas über ihr — sich mit der Zeit wandelndes — Selbstverständnis erzählen. Beim genaueren Hinschauen lesen wir zum Beispiel Aussagen wie: „Zuverlässig“ (Hauptsitz Spuerkeess), „sicher“ (BIL, Rte d’Esch), „wachstumsorientiert“ (Turm der KBL), aber auch „transparent“ (Banque de Luxembourg).

4. Der öffentliche Raum, hier jener im engeren Sinne, also der zugängliche zwischen dem Bebauten, ist reich an Narrationen und gleichzeitig gefüllt mit Einladungen, Restriktionen und gelegentlichen Kollisionen von öffentlichen, kommerziellen und individuellen Interessen.

Eine Quasi-Privatisierung des öffentlichen Raumes finden wir beispielsweise auf der Place d’Armes, wo öffentliche Sitzplätze knapp sind und man zum Ruhen auf eine Terrasse mit selbstverständlichem Verzehrzwang zurückgreifen muss. Die Place du Brill in Esch/Alzette ist in einem Maße übergestaltet und vom künstlerischen Impetus geprägt, dass es zu einer Verknappung der Nutzungsmöglichkeiten gekommen ist. Dazu hier die nahezu absurde Verwendung von Bronzeskulpturen, auch zum Sitzen, die aber bei Sonne glühend heiß und unbenutzbar werden. Neue Bushäuschen werden mit Bänken versehen, die verhindern, dass man es sich zu bequem macht, und eine verglaste Ecke in der Altstadt ist Abwehr gegen die Notdurft nächtlicher Schwärmer.

5. Der Abriss, das Verschwindenlassen oder Ersetzen von Gebautem sind starke Statements. Zeichenhaft stehen diese Akte für das Öberflüssige, das Ungeliebte. Öberflüssig dort, wo Planungen neue wirtschaftliche, urbanistische oder nutzungstechnische Prioritäten setzen, ungeliebt dort, wo Akzeptanz oder befriedigende Nutzung nicht oder nicht mehr erlebt werden. Die Galerie Kons als Umbau des ehemaligen Hotels hat nie wirklich funktioniert und ist, auch aufgrund des Umfeldes, rasch „heruntergekommen“. Die Unterführung am Hamilius wurde allgemein als non-lieu empfunden, war aber gleichzeitig als informeller Treffpunkt für Jugendliche wichtig.

6. Sogenannte Spolien sind Spuren oder Verweise auf Vorgängerbauten. Eingebaute Teile oder Namensbezüge stehen als Zeichen für Vergangenes. So finden wir in der Stadt an verschiedenen Stellen Madonnen, die an ihrem alten Platz in die Neubauten übernommen wurden. Eine andere Form des Rückbezuges ist das Gebäude Pôle Nord, das den Namen seines Vorgängerbaus trägt, versehen mit einer „vereisten“ Glasfassade. Insbesondere die Konversion des Areals von Belval ist eine einmalige Anstrengung, in einer Industrieanlage und um deren Resten herum ein neues Stadtviertel mitsamt einer Universität zu errichten.

7. Mehrdeutige Zeichen prägen unsere gebaute Umwelt. Es sind Situationen, auf die wir gespalten oder auch mit Ablehnung reagieren. Wir wissen, dass wir sie brauchen, dennoch möchten wir sie nicht sehen. Im Energiesektor geht das von der Atom-Anlage Cattenom über die Tankstelle bis hin zu den Windrädern, die sanfte Energie liefern, aber ins Landschaftsbild eingreifen.

Weitere ambivalente Zeichen sind etwa moderne agrar-industrielle Bauernhöfe, die uns die nostalgischen Illusionen über die Herkunft der Nahrung nehmen und chemische Fabrikanlagen, die uns, als potentielle Verschmutzer, Angst machen. Nicht zuletzt stehen Krankenhäuser für Heilung, Krankheit, Tod und das Gefängnis von Schrassig für unsere Sicherheit, aber vielleicht auch für Gedanken an das eingeschränkte Leben der Insassen.

Andere Gebäude an unseren Wegen sind Zeichen für ganz persönliche, gute oder schlechte, Erfahrungen und appellieren beständig an unsere Erinnerung: Die (un)geliebte Schule, der Ort des ersten Kusses oder eines Unfalls …

8. Besondere Zeichen werden als „Fünfte Fassade“ verwirklicht. Der Grundriss, die Vogelschau-
Ansicht, ist eine Aussage zum Zweck oder zur Bedeutung des Baues. Bekannt ist der Phallus der Dräi Eechelen mit dem sich angliedernden MUDAM oder auch der von der Festung inspirierte Plan der BGL auf dem Kirchberg. Hier sei aber auch eine der kursierenden „urbanen Legenden“ enttarnt: Häufig wird angenommen, dass die alte Europa-Schule bewusst in der Form des europäischen „E“ gebaut wurde, um ein Zeichen für ihre Nutzung zu setzen. Die Sichtung der Baupläne zeigt aber, dass sie ursprünglich in einer „F“-Form errichtet wurde und der dritte Flügel das Ergebnis eines späteren Ausbaues ist.

9. Wer Zeichen in der Architektur sucht, kommt an der zeichenbeladenen Postmoderne nicht vorbei. Die Architekturrichtung verbreitete sich rasch in den 1970er Jahren und hat bis heute ihren Nachhall.
Auslöser für diesen Ansatz war die Ansicht, dass die Architektur in eine Sackgasse geraten war und unsere Städte „unwirtlich“ geworden waren. Die Moderne wurde als kalt empfunden, frei von Zeichen und sinnlichen Erlebnissen.

Ein wichtiger Protagonist war der Amerikaner Venturi, der den „vergessenen Symbolismus der
architektonischen Formen“ wieder aufleben lassen wollte. Es kursierte der Slogan „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“.

Die gebauten Ergebnisse, auch hierzulande, sind mit Rundbögen, Säulen und anderen klassischen Architektur-Elementen versehen. Man bediente sich in der Geschichte und überformte deren stilis-tische Vorgaben. Nur stellte sich heraus, dass diese gewünschte Wiederbelebung der Zeichensprache häufig nicht funktionierte, weil die Zeichen ohne zeitgenössischen Kontext ins Leere liefen. Ein Umbruch fand dann teilweise Ende der 1980er statt, nachdem etwa Daniel Libeskind dazu aufrief, „das Symbolische aus der Aufgabe und in der Gegenwart zu suchen“. Nicht zu unterschätzen ist auch die Entwicklung des computerbasierten Bauzeichnens, das Architekten und Ingenieuren den Weg zu neuen Formen ermöglichte.

Ein geläufiges Motiv der Postmoderne, die „Kolossal-Ordnung“, finden wir in Luxemburg bis heute häufig an Großbauten. Dabei werden an den Fassaden Bögen und Pfeilervorlagen über mehrere Stockwerke imposant hochgezogen. Ein historischer Rückgriff, der Macht und Bedeutung repräsentiert. Das frühes-te Beispiel in Luxemburg ist die Banque IndoSuez, heute Crédit agricole, von 1981. In der Folge entwickelte sich dieses Motiv fast zu einem Lokal-Stil, da der Bedarf an repräsentativen Gebäuden für Banken und Verwaltungen bis heute hoch ist. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist das Verwaltungsgebäude von ArcelorMittal am Boulevard d’Avranches von 2008, das die Kolossalordnung auch an einem Glasbau zeigt.

Ein Luxemburger Sonderfall ist die umstrittene Cité judiciaire, von den Brüdern Leo und Rob Krier konzipiert und dann von Rob Krier ausgeführt. Die einmalige, exponierte Lage, das Volumen und die Bauaufgabe machen die Anlage zu einer solitären Realisierung. Kriers Bezüge zu klassischen „Idealen“ und Architekturformen kollidieren mit einem modernen Bild der Rechtsprechung, oder anders ausgedrückt: Die vordemokratische Formensprache steht im Widerspruch zu unseren Ansprüchen und Vorstellungen einer „Justice for all“. Hinzu kommt die Tatsache, dass nicht nur die Gebäude, sondern auch ihre Funktion von der Gesellschaft als grundsätzlich ambivalent erlebt werden.

10. Neue Wahrzeichen auf dem Lande. Außerhalb der Hauptstadt, in den kleineren Städten und Dörfern, gibt es in den letzten Jahren eine rege Bautätigkeit an neuen Verwaltungsgebäuden, Schulen sowie Kultur- und Sporteinrichtungen. Der rasant wachsende Bedarf ist hier der Hauptantrieb. Gleichzeitig ist der Wille der Verantwortlichen spürbar und lesbar, sich und ihre Institutionen mit einer teils spektakulären, zeitgenössischen Architektur zu positionieren und Zeichen zu setzen. Diese Zeichen stehen auch für einen relativen Wohlstand, der Bauen in dieser Form erst ermöglicht. Dabei entstehen neue Ortsmarkierungen, manchmal brechen diese aber durch ihre Opulenz in die gewachsenen Strukturen ein. Lesarten lassen Öberlegungen zu, ob wir bei aller Beglückung nicht auch ein hors mesure erkennen, eine Unverhältnismäßigkeit zwischen dem Gebauten und der Nutzung. Wir wissen von den Kulturstätten, dass der Unterhalt der Gebäude auf Kosten des Programmangebotes geht und die mangelnde Bevölkerungsdichte die Spielpläne beeinflusst.
11. Solitäre Architektur am Beispiel des Kirchbergs. Auf dem Kirchberg werden Zeichen gesetzt. Hier sind über die letzten Jahrzehnte eine Reihe von wirklich bedeutenden Einzel-Bauten in besonderer Dichte errichtet worden. „Bedeutend“ steht hierbei nicht für „Sinn“, sondern für die Wichtigkeit der Institution, des Baues und nicht zuletzt des Entwerfers. Das signe tritt hier zunächst als „Signatur“ von Bauherr und Architekt auf.

Es sind Solitäre, Architekten-Entwürfe, die sich auf dem Kirchberg addieren und als Einzelgänger durchaus in Konkurrenz zueinander stehen. Die Einheit entsteht dabei nach und nach aus der Vielfalt. Dies ist die primäre Lesbarkeit, dazu wären individuelle Narrationen sicherlich erschließbar und diskutierbar.

Die Motivation, die Anstrengung und die Befähigung des Bürgers, seine gebaute Umwelt zu lesen, trägt zum Zusammenspiel von Auftraggebern, Architekten, Nutzern und eben den Betrachtern bei.

Trotzdem geht es bei unserer Verortung nicht um eine Perfektionierung von dem, was ist, sondern zunächst einmal um die Erlebnismöglichkeit, um das Potential der Lesbarkeit. Um das Eingangszitat von Paul Valéry zu ergänzen: Bauwerke dürfen auch flüstern, und Schreien lässt sich nicht verhindern.

Die stadtsoziologischen Diskussionen zum Thema „öffentlicher Raum“ der letzten Jahre haben gezeigt, dass sowohl wohlgestaltete als auch sogenannte non-lieux zu einem urbanen Empfinden beitragen. Die gebaute Umwelt ist ständig im Wandel, und diese somit nie perfekte Situation ist eine Realität voller Geschichten. Die Place de l’Europe auf dem Kirchberg wird von manchen als eine perfekte Kulisse für Hochzeitsfotos genutzt, andere entspannen sich dort auf den Terrassen mit Weit- und Hochblick. Genauso gibt es junge Menschen, für die das desolate Hollericher Schluechthaus ein Ort zur Identifizierung und zum Ausleben ihrer Kreativität ist. Einige sträuben sich gegen den Anblick der hellen, neuen Fassade des Nationalmuseums, für andere ist es ein Lichtblick in der Altstadt. Was manche hier als „singen“ empfinden, erleben andere als „angeschrien werden“.

Beim Spaziergang in den städtischen Wohnquartieren fällt bei den neuesten Résidences die sich breit machende, waagerechte Ausdehnung der Wohnan-lagen auf. Hier führt das „Lesen“ zurück zu einer „Kritik der Zustände“: Trotz Grundstücksknappheit spielt die Architektur mit der Ausbreitung, trotz eines Mangels an Wohnfläche und Verdichtung auf dem Stadtgebiet bleibt nach wie vor die 4- bis 5-Geschossigkeit die Regel. Womit wir zum Schluss wieder
beim Lesen der Urbanität angelangt wären. u

Die Ausstellung im Musée d’Histoire de la Ville de Luxembourg läuft noch bis zum 3.1.2016.

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