Die Jahre 2013 bis 2018 in aller Kürze
Politik wirkt manchmal wie ein Fortsetzungsroman, eine Telenovela, die jeden Tag mit einer neuen Episode aufwartet, mit schönen und schrecklichen Momenten, Helden und Schurken, Freundschaft und Verrat …
Aus tausenden Ereignissen, Entscheidungen, langsamen Entwicklungen und plötzlicher Beschleunigung formt sich mit der Zeit eine Erzählung, die das chaotische Geschehen im Rückblick verständlich macht.
Für die jüngere politische Geschichte des Landes hatte forum im März 2014 eine solche Erzählung vorgelegt. Wer den Text nicht kennt, sollte sich einmal die Zeit nehmen: Die „Chronik eines politischen Wechsels“ findet sich frei zugänglich auf www. www.forum.lu. Sie behandelt den Zeitraum zwischen 2004 und 2013.
Für die letzten fünf Jahre gibt es nichts Vergleichbares. Der zeitliche Abstand ist zu kurz, die Bewertung der (ersten) Regierungszeit von blau-rot-grün ist noch nicht abgeschlossen. Aber falls Sie die letzten fünf Jahre nicht im Lande waren, gerade erst anfangen, sich für nationale Politik zu interessieren, oder irgendwie den Überblick verloren haben, bieten wir Ihnen hier einmal das Wichtigste in Kürze.
Die Geburtsstunde der Dreier-Koalition
Der Premierminister der vorangegangenen CSV-LSAP-Koalition Jean-Claude Juncker war im Oktober 2013 nach einer Reihe von Skandalen, in die er und sein Justizminister Luc Frieden verwickelt waren, abgewählt worden. Eigentlich war er nicht abgewählt worden, denn die Wähler schenkten ihm weiterhin ihre Stimmen, aber die politische Klasse hatte das Vertrauen in ihn verloren. Nach dem Wahlgang gab es keine einzige Partei, die mit der CSV (selbst ohne Juncker) eine Koalition hätte eingehen wollen.
Das war die Geburtsstunde der Dreierkoalition. Mit 32 Sitzen von 60 bildeten DP, LSAP und déi gréng im November 2013 die Regierung Bettel/Schneider/Braz. Es folgte eine Schlammschlacht, die bis heute nachhallt. Ein nicht unerheblicher Teil der Wählerschaft war nämlich der Meinung, dass es nicht zu akzeptieren sei, wenn in ihrer Lebenszeit eine Regierung ohne Jean-Claude Juncker die Geschicke des Landes leiten würde. Die sozialen Medien sind bis heute der Austragungsort dieser oft hass erfüllten Beschimpfungen an die Adresse der vermeintlichen Vaterlandsverräter. Es stellte sich heraus, dass Luxemburg nach 70 Jahren fast ununterbrochener CSV-Regierungen und 30 Jahren Juncker-Kult ungefähr den politischen Reifegrad eines Dritt-Welt-Landes erreicht hatte: Der unterlegene Clan wollte die Wahlen nicht anerkennen.
Ein schwieriger Start
Doch nicht nur in den dissozialen Medien und bei der Opposition hatte es die neue Regierungsmannschaft schwer, auch bei der Presse und bei politischen Freunden schlug die anfängliche Begeisterung schnell in Skepsis um.
Den Grünen wurde in der Folge vorgeworfen, dass sie ihre Überzeugungen verrieten, weil sie mit dem Eintritt in die Regierung auch unökologische Entscheidungen mittrugen, die Steuerpolitik nicht im Sinne des Verursacherprinzips revolutionierten, den Finanzplatz nicht abschafften und insbesondere die Agrarpolitik der DP überließen.
Der DP wurde vorgehalten, dass sie nicht nur eine sozial-liberale Partei progressiver gesellschaftlicher Reformer war und für die gleichgeschlechtliche Ehe und die Trennung von Kirche und Staat eintrat, sondern in ihrem Kern auch eine Unternehmer- und Wirtschaftspartei war. Bei den Koalitionsverhandlungen hatte sie einen Vertreter von Ernst&Young (EY) an den Tisch gerufen und den Direktor der Handelskammer als Finanzminister nominiert.
Und die LSAP wurde wie erwartet aus dem linken Lager dafür geschmäht, dass sie zur Gesundung der Staatsfinanzen beitragen wollte und alle gesellschaftspolitisch relevanten Dossiers (Bildung, Kultur, Justiz) den Grünen und der DP überließ. Am Ende war ihr das Sportministerium sogar noch lieber als die undankbare Kulturpolitik.
Vorsorglich hatten die drei Koalitionspartner, um späterem Ärger untereinander aus dem Weg zu gehen, einen Koalitionsvertrag aufgestellt, der die politischen Ziele der Regierung ziemlich präzise aufzählte. In den kommenden Jahren hielt sich jeder Minister weitgehend an diesen Plan, versuchte ihn abzuarbeiteten und ließ die Kollegen in ihren jeweiligen Domänen gewähren.
Die Beziehungen zu den Medien entwickelten sich denkbar schlecht. Luxemburger Wort, Lëtzebuerger Land, RTL und 100komma7 suchten (und fanden) Gründe, die Regierung des Amateurismus und der Scheinheiligkeit zu überführen. Unrühmliche Höhepunkte dieser Form von Investigationsjournalismus mit eigener Agenda waren in den ersten Monaten die „Dienstwagenaffäre“ (wo RTL-Journalisten ihre ehemalige Kollegin Francine Closener vorführen wollten) und die „Säuberungen“ im Finanzministerium (wo das Luxemburger Wort seitenweise Räubergeschichten publizierte). Auch die guten Beziehungen, die einzelne Beamte in den ehemaligen CSV-Ministerien zur neuen Opposition unterhielten, förderten die Unsicherheit bei der neuen Mannschaft und ihr Gefühl, sich in feindlicher Umgebung zu bewegen (die SMS von CSV-Präsident Marc Spautz, die versehentlich statt an einen befreundeten Beamten an die neue Ministerin ging, illustrierte diese Situation vortrefflich). Als Reaktion verschärfte der Premierminister die Bedingungen, unter denen Beamte auf Informationsanfragen der Presse zu reagieren haben (Circulaire Bettel), und auch ein modernes Gesetz für den Informationszugang kam zum Leidwesen der Presse trotz anders lautender Ankündigungen nie zustande. Die Pressekonferenzen nach den Sitzungen des Regierungsrates wurden zu sterilen und kontrollierten Veranstaltungen und mit der Zeit immer seltener. Innerhalb weniger Monate hatte sich bei der neuen Mannschaft eine regelrechte Wagenburgmentalität eingestellt.
Die ersten Entscheidungen der Regierung ließen diese Fronten kaum aufweichen, sondern schafften eine Vielzahl neuer Konfliktlinien. Auf drei Gebieten wollte die neue Koalition schnelle Fortschritte erreichen: bei den Staatsausgaben, in der Gesellschaftspolitik und im Bildungswesen.
Der unglückliche „Zukunftspak“
Unter diesem Titel wurde von der blau-rot-grünen Regierung sofort nach Amtsantritt ein Ideenwettbewerb in den Ministerien gestartet, wo und wie man in Zukunft staatliche Ausgaben einsparen konnte. Das Ziel war simpel gestrickt: Durch die Bank sollten in jedem Ministerium etwa 10% der laufenden Ausgaben eingespart werden. Unerfahrene Beamte brachten daraufhin sinnvolle Vorschläge ein, die alten Hasen warteten lieber ab. Es war wie beim Mikado-Spiel: Wer sich zuerst bewegte, hatte verloren. Im Juli 2014 legte die Regierung dann ein Paket vor, das das gesamte Land in Aufruhr brachte. Das Kalkül, dass die Bevölkerung (Erhöhung der TVA um 2%), die Beamten (Senkung einer Reihe absurder Vergünstigungen) und die verschiedenen großzügig alimentierten Interessengruppen (Reduktion gewisser Subventionen) die bitteren Pillen schon schlucken würden, solange sie nur gerecht und großflächig verteilt würden, ging nicht auf. Das Gegenteil war der Fall: Alle und jeder war auf einen Schlag unzufrieden.
Fast tragisch war dann, dass das Wirtschaftswachstum wieder stark anzog und Luxemburg bereits ab 2014 erneut einen regelrechten Boom erlebte. Die Regierung, die angetreten war, die Schulden des Staates und damit auch die Verletzlichkeit des Gemeinwesens bei zukünftigen Wirtschaftskrisen sowie die Abhängigkeit von hohen Wachstumsraten zu senken, verlor auf diesem Wege jegliche Begründung, um den Lauf der Dinge in Luxemburg zu entschleunigen. Diejenigen, die schon immer alles Geld ausgeben wollten, sobald es in die Kassen strömte, sahen sich von der Entwicklung bestätigt: Es lief ja alles bestens! Ab dem Jahr 2015 und angesichts desaströser Umfragewerte riss die Regierung das Ruder komplett um. Die im Budget festgeschriebenen Investitionen stiegen massiv an, die Ministerien bekamen Mittel für neue Stellen, die hungrige Beamtenschaft erhielt alle geforderten Zugeständnisse und im Januar 2017 trat eine Steuerreform in Kraft, die sowohl Unternehmen wie Privathaushalte weiter entlastete. Das Unternehmen „Gesundung der Staatsfinanzen“ war angesichts fast chinesischer Wachstumsraten gescheitert und die Staatsverschuldung Luxemburgs erlaubte sich mit dem Verweis auf die rasant steigende Einwohnerzahl des Landes immer neue Rekordwerte. Und die von Finanzminister Pierre Gramegna großangekündigte Reform des Budgets (das nach Zielen aufgeschlüsselt werden sollte) wurde aufgrund der hohen Komplexität des Unternehmens fallengelassen.
Trennung von Staat und Kirche
Einen schnellen Erfolg strebte die Regierung auch in der Gesellschaftspolitik an. Ähnlich wie die legendäre DP-LSAPRegierung in der Mitte der 70er Jahre, die den Bildungs- und Kulturbereich reformierte, die Stellung der Frau in der Gesellschaft verbesserte und insbesondere die Todesstrafe abgeschafft und die Abtreibung ansatzweise entkriminalisiert hatte, wollte das neue Team als Reformregierung in die Geschichtsbücher eingehen. Ein schneller, symbolischer Erfolg gelang schon im Juni 2014 mit der Einführung der (schon von der CSV vorbereiteten) Ehe und Voll adoption für gleichgeschlechtliche Paare – getragen von den Stimmen fast aller im Parlament vertretenen Parteien.
Der größere Brocken war jedoch die Entwirrung der Verbindungen zwischen Staat und katholischer Kirche. Dazu musste der Religionsunterricht in den Schulen abgeschafft werden (eine Forderung, die selbst die CSV im Wahlkampf für die Sekundarschulen aufgestellt hatte) und Konventionen mit allen Religionsgemeinschaften ausgehandelt werden. Zelebriert wurde die angestrebte Trennung von Staat und Kirche schon anlässlich des Nationalfeiertags 2014, als erstmals eine zivile Zeremonie im Stadttheater veranstaltet wurde und der Erzbischof ganz alleine und ohne die Regierung zum traditionellen Te Deum in die Kathedrale einlud.
Unter der Leitung des damaligen Generalvikars Erny Gillen einigte sich die Katholische Kirche im Frühjahr 2015 mit der Regierung auf einen Kompromiss, den kaum einer für möglich gehalten hatte. Zentrale Punkte waren Abmachungen hinsichtlich der Finanzierung der Religionsgemeinschaften, des Statuts der Bediensteten der Kirche und der Abschaffung des Religionsunterrichtes in den Schulen.
Anstelle des Religionsunterrichtes trat im Herbst 2016 in den Sekundarschulen ein komplett neues Schulfach („Leben und Gesellschaft“), dessen erklärtes Ziel es ist, die jungen Menschen mit überkonfessionellen Werten und Einsichten zu konfrontieren. An den Grundschulen startete der Kurs ein Jahr später. Gegen diese Entscheidung, die auch für rund 200 Religionslehrer das Aus ihres Berufsstandes bedeutete, bildete sich massiver Widerstand. Eine Petition mit 25.000 Unterschriften aus dem Kreis der kirchlich engagierten Laien verlangte unter dem Slogan „Fir de Choix“ ein Beibehalten des Status Quo. Vergebens.
Die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche hatte, über 100 Jahre nach der großen Schulreform von 1912, immer noch das Potential, einen Graben durch die Gesellschaft zu ziehen. Doch auch die katholische Kirche war nach dieser Episode gespalten: Die Kompromissbereitschaft der kirchlichen Verhandlungsführer einerseits, aber auch eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber den eigenen Mitarbeitern, deren Lebensgrundlage auf dem Spiel stand, schaffte viel böses Blut innerhalb der Kirche.
Hätte die Kirchenleitung eine andere Wahl gehabt, als den Kompromiss zu suchen? Die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft schien die Sonderstellung der katholischen Kirche nicht mehr mittragen zu wollen (so zumindest lauteten die Ergebnisse von Umfragen, die die Kirche selber in Auftrag gegeben hatte) und die Regierung drohte, die Frage der staatlichen Besoldung der Kirchendiener in einem Referendum vors Volk zu bringen. Die Aussicht, in aller Öffentlichkeit gedemütigt zu werden und auf einen Schlag das Gesicht zu verlieren, wirkte. Die Kirche suchte den Kompromiss und fand ihn gemeinsam mit einem sich großzügig gebenden Staatsminister.
Das Referendum von Juni 2015
In fast jugendlichem Leichtsinn hatte die Regierung bei ihrem Antritt beschlossen, die luxemburgische Demokratie zu öffnen und den 47% ausländischen Mitbewohnern im Lande das Stimmrecht auch bei den Parlamentswahlen einzuräumen. Die Forderung war seit 30 Jahren in Ausländerorganisationen und in der Zivilgesellschaft und seit kurzem auch in Unternehmerkreisen diskutiert worden als Reaktion auf die außerordentliche Bevölkerungsentwicklung, und die Regierung dachte sich in dieser Frage von einer großen gesellschaftlichen Bewegung getragen. Statt jedoch selber die Verantwortung zu übernehmen und die Ausweitung des Wahlrechts in einem Gesetz zu regeln, wollte sie die Entscheidung ausgerechnet den Leute überassen, deren Einfluss auf diesem Wege geschmälert worden wäre: die derzeitigen Wähler.
Die Einigung mit der Kirche im Januar 2015, an sich ein großer Coup, wurde in diesem Zusammenhang zum strategischen Nachteil. Durch sie war es der Kirche gelungen, sich aus dem Schussfeld der gesellschaftlichen Debatte zu manövrieren und die Regierung mit ihrem Referendums – projekt ohne designierten Gegner alleine zu lassen. Als es im schon angekündigten Referendum plötzlich nur noch um die Ausweitung des Wahlrechtes ging (und die Frage nach der Trennung von Kirche und Staat nicht mehr zur Debatte stand), sah sich die Regierung der geballten Ablehnung praktisch der gesamten Wählerschaft gegenüber. Und auch der Erzbischof, der zumindest beim Ausländerwahlrecht ein Alliierter der Regierung hätte sein können, konnte nicht mehr helfen, nachdem der konservative Block in der Kirche rund um die Kirchenfabriken seine Autorität offen herausforderte. Schließlich vertrat die Regierung ihr eigenes Projekt nur noch halbherzig und überließ der Zivilgesellschaft die Kampagne für das Ausländerwahlrecht.
Das Referendum vom 7. Juni 2015 brachte dann ein eindeutiges Ergebnis: Rund 80% der Wähler lehnten die Ausweitung des Wahlrechtes auf Nicht-Staatsbürger ab, ebenso die Ausweitung auf Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren. Obwohl die vorausgehenden Umfragen auf ein negatives Ergebnis hingedeutet hatten, wirkte dieses Ergebnis auf die Regierungskoalition wie ein Schock. Innerhalb weniger Stunden wandelten sich die jungenhaften Idealisten in der Regierung in frühzeitig ergraute Zyniker, bereit in Zukunft dem Volk zu geben, was auch immer das Volk verlangen würde.
Glücklicherweise hatte die größte Oppositionspartei, um nicht als Totalverweigerer und möglicher Verlierer dazustehen, im Vorfeld des Referendums den Vorschlag gemacht, den Zugang zur Nationalität weitgehend zu liberalisieren. Und so ist heute zwar immer noch die Hälfte der Bevölkerung ohne politische Rechte bei den Parlamentswahlen, dafür haben aber die neuen Zugangsberechtigungen für die luxemburgische Staatsbürgerschaft zu einer Ausweitung des Nationalitätsbegriffes geführt: Ab 1. April 2017 gilt das Jus Soli. Jeder der in Luxemburg geboren wird, bekommt mit 18 Jahren automatisch die Luxemburger Staatsbürgerschaft, falls er die fünf Jahre vor diesem Datum in Luxemburg gelebt hat. Daneben gab es noch viele kleine Erleichterungen. Die Staatsbürgerschaft kann so bereits nach fünf Jahren Aufenthalt in Luxemburg und nicht erst nach sieben Jahren beantrag werden; der Sprachentest wurde vereinfacht und entfällt ganz, wenn man bereits 20 Jahre hier wohnt. Beim Neujahrsempfang verkündete Minister Félix Braz, dass dieses Gesetz zu einer Verdreifachung der Einbürgerungsanträge geführt hat.
Die Baustelle Schule
Im dritten prioritären Feld, der Reform der luxemburgischen Schule, hatte sich die Regierung ebenfalls große Veränderungen vorgenommen. Die Schule war im Laufe der Jahre zu einem Fremdkörper im mehrsprachigen und heterogenen Luxemburg geworden. Das musste sich ändern, sollte das multikulturelle Experiment Luxemburg nicht in einem der Kernbereiche der sozialen Produktion scheitern. Als Claude Meisch sich mit seiner Mannschaft dieser Baustelle annahm, wollte er nicht den aufreibenden Weg großer Gesetzesreformen gehen, den seine unglücklichen Vorgänger beschritten hatten. Stattdessen zielten eine Unzahl von Angeboten, Schulprojekten, neuen Regelungen, Umstrukturierungen und erst am Ende auch einige große Gesetze darauf, die eingespielten Abläufe in den Schulen durcheinander zu bringen. Das System wurde dabei regelrecht unterspült.
Insbesondere die stark geförderte Autonomie der Schulen und das zum Teil schon von der Vorgänger-Regierung aufgebaute Angebot an internationalen (aber öffentlichen) Schulen und internationalen Abschlüssen brachte Bewegung in die Schullandschaft. Die öffentliche Schule ist endlich dabei, sich auf vielfältige Weise auf eine Schülerpopulation einzustellen, die in ihrer großen Mehrzahl zu Hause nicht mehr Luxemburgisch spricht.
Welches Verständnis von der luxemburgischen Gesellschaft dahinter steckt, verrät das neue Fach „Leben und Gesellschaft“. Hier wird die Heterogenität der Gesellschaft als Grundlage ihres Reichtums erklärt und der Rahmen formuliert, in dem das Zusammenleben gelingen kann. Konservativere Wählergruppen wurden mit einem zusätzlichen Conseil national de la langue luxembourgeoise und weiteren Luxemburgischkursen beruhigt, doch diese Nebelwand verbirgt nur, dass der Abschied von der luxemburgisch-katholischen Leitkultur in dieser Legislaturperiode endgültig vollzogen wurde. Und wenn Luxemburg ein Teil der globalen Wertschöpfungskette bleiben möchte, wird sich daran auch kaum mehr etwas ändern. Der Wertekanon einer pluralistischen, mehrsprachigen, liberalen und demokratischen Gesellschaft ist heute Konsens bei allen, die nicht zurück auf den Acker wollen.
Luxemburg als internationaler Paria-Staat
Die erste und bislang einzige große internationale Bewährungsprobe, die die luxemburgische Regierung der Jahre 2013/18 zu bestehen hatte, kam im Herbst 2014 und ging unter dem Namen Lux-Leaks in die Geschichte ein. Whistleblower hatten Dokumente des Beratungsunternehmens PWC an Medienvertreter weitergegeben. Sie belegten, wie aktiv die luxemburgischen (Steuer-) Behörden an der internationalen Steuervermeidungsindustrie beteiligt waren. Finanzminister Pierre Gramegna hatte nach seinem Amtsantritt zwar versucht, die schlimmsten Auswüchse der von den großen Beratungsunternehmen (Big 4) und Anwaltskanzleien gepushten Steuersparmodelle einzudämmen und das berüchtigte Steuerbüro 6 unter Kontrolle zu bekommen. Doch da war ein Journalistenkonsortium aus 26 Ländern schon dabei, die entwendeten Papiere zu sichten und Veröffentlichungen in allen wichtigen internationalen Medien vorzubereiten. Die Geschichte wurde weltweit an dem Tag publiziert, als Jean-Claude Juncker, selber als ehemaliger Finanzminister und langjähriger Premierminister mitverantwortlich für die luxemburgische Steuerpolitik, sein neues Amt als Präsident der Europäischen Kommission antrat. Der Imageschaden durch die Enthüllungen für Juncker und für Luxemburg war gewaltig. Auch der anschließende Prozess gegen die Whistleblower und einen der beteiligten Journalisten brachte Luxemburg eine internationale Berichterstattung, auf die das Land sicher gerne verzichtet hätte. Europaweit mussten Regierungen ihren Wählern erklären, wie es möglich war, dass prosperierende Unternehmen in der EU praktisch keine Steuern zahlen, wenn sie ihre Gewinne nach Luxemburg verschieben.
In den Folgejahren versuchte Finanzminister Pierre Gramegna das Vertrauen in Luxemburg als fairen europäischen Partner wieder herzustellen und unterstütze eine Reihe von europäischen Initiativen in Steuerfragen. Wenn es hart auf hart zugeht, z.B. bei der Besteuerung der transnationalen Internet- und Technologiekonzerne (GAFA) oder bei der Frage einer Finanztransaktionssteuer blockiert Luxemburg jedoch weiterhin. Gemeinsam mit Irland und den Niederlanden und im Verbund mit dem Finanzzentrum London riskiert Luxemburg mittlerweile einen Teil der Verantwortung für das Scheitern der europäischen Integration zu tragen. Nichts weniger als das.
Rifkin statt Zukunftstisch
Nachdem die Grünen aus der Opposition heraus über Jahre hinweg eine gesellschaftsübergreifende Debatte über das wenig nachhaltige Entwicklungsmodell des Landes gefordert hatten, ließen sie sich dieses Thema ausgerechnet vom sozialistischen Wirtschaftsminister wegnehmen. Etienne Schneider beauftragte Ende 2015 den US-amerikanischen Zukunftsforscher Jeremy Rifkin, Szenarien für die Zukunft des Landes zu entwickeln. Dieser verpackte seine hinlänglich bekannten Theorien über die Zukunft der Sharing-Economy und passte sie im Rahmen von 9 Arbeitsgruppen an die luxemburgischen Verhältnisse an. Heraus kam eine Vision, in der Luxemburg in den Bereichen Energie und Mobilität „smart“ vernetzt ist und die Industrie durch „Kreislaufwirtschaft“ ressourcenschonend produziert. Die Technologiebegeisterung und der Zukunftsoptimismus des Rifkin-Ansatzes lassen fast vergessen, dass Luxemburg schon heute vor konkreten Herausforderungen steht und die Wachstumsfrage in jeglicher Hinsicht die Achillesverse des Landes darstellt.
Landesplanung, Mobilität und Wohnungsfrage
Die Wachstumsfrage, seit Jahrzehnten nur am Rande der Gesellschaft aus einer ökologischen Perspektive diskutiert, ist mittlerweile in ihrer Mitte angekommen. Die Einheimischen wundern sich, dass auch sie im Stau stehen und nicht mehr allein die Grenzgänger (die ja nach weitverbreiteter Überzeugung dafür bezahlt werden). Die Überversorgung an Autos, steuerlich gefördert, und der jahrzehntelange Rückstand beim öffentlichen Transport machen sich jetzt in kilometerlangen Staus am Morgen und Abend quer durchs Land bemerkbar. Die hauptstädtische Tram, noch unter der vorherigen Regierung in einem überparteilichen Konsens beschlossen, wurde unter dem zuständigen Minister François Bausch in einer Rekordzeit auf die Schiene gesetzt, eine Vielzahl von Bahninfrastrukturen, darunter insbesondere der ziemlich größenwahnsinnige Bahnsteig in Luxemburg/Pfaffenthal, wurden realisiert oder auf den Instanzenweg gebracht, das landesweite Radwegenetz weiter ausgebaut. Doch gleichzeitig ist unter einem grünen Minister der Ausbau der Autobahnen auf drei Spuren kein Tabu mehr, weitere Umgehungsstraßen wurden genehmigt und das Nachtflugverbot wird zur Verzweiflung der Anwohner der Viertel Hamm, Cents, Bonnevoie und Gare weiterhin systematisch ausgehebelt.
Die Landesplanung konnte auch in dieser Legislaturperiode nicht in trockene Tücher gebracht werden. Die Sektorpläne (Landschaft, Wohnen, Gewerbegebiete und Verkehr) sind nach anfänglichen Problemen zwar jetzt veröffentlicht, sie sind aber noch in der Genehmigungsprozedur und werden sowieso nur als mehr oder weniger unverbindliche Leitplanken dienen. Das erklärte Ziel der Landesplanung ist, das Land entlang drei zentraler Pole um die Nordstadt, die Stadt Luxemburg und den Süden mit Esch einigermaßen planvoll und „qualitativ“ wachsen zu lassen. Doch natürlich konnte die Regierung nicht die Vormacht der 102 Gemeinden im Lande brechen, die eine kohärente Landesplanung immer dann zunichte machen, wenn Gemeindeinteressen berührt sind. Die sehr schwierige Zusammenarbeit zwischen Innenministerium und Nachhaltigkeitsministerium spielt den Gemeinden dabei noch zusätzlich in die Hände.
Auch an den selbst gesteckten Zielen im Wohnungsbau musste die Regierung scheitern. Die steuerpolitischen Schrauben, an denen sie drehte und die auf die Mobilisierung von Baugrundstücken und der Schaffung von mehr Wohnraum abzielten, konnten der Immobilienspekulation kaum etwas entgegen setzen. Bei etwa 6500 zusätzlichen Haushalten, um die Luxemburg Jahr für Jahr wächst, und im Schnitt nur 2600 neugebauten Wohnungen (zu großen Teilen für das obere Marktsegment) kann man sich ausrechnen, dass gerade ein knallharter Verdrängungswettbewerb im Gange ist, der mehr und mehr auch die Kinder der oberen Mittelschicht erfasst. Während der Staat durch seine Steuerpolitik also dafür sorgt, dass die Zuwanderung von vermögenden Neubürgern unvermindert weitergeht, erwartet er von den Gemeinden, dass sie die Bau terrains und Baugenehmigungen für Villen und Wohnungen schnell frei geben. Gutschreiben konnte man dem Wohnungsbauministerium, dass es gelang, größere staatliche Wohnungsbauprojekte über den SNHBM und den Fonds Kirchberg zu initiieren, den öffentlichen Bauträger Fonds de Logement aus seinem Koma zu reißen und eine Diskussion über zeitgemäße Wohnformen (z.B. Baugruppen) loszutreten.
Reformen und Initiativen am laufenden Band
Neben diesen großen Dossiers, die im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit standen, war die Legislatur von einer Vielzahl von überfälligen Reformen und einzelnen Initiativen geprägt. Die neuen MinisterInnen übernahmen Verwaltungen, die zu einem Teil völlig neu aufgestellt werden mussten. Die Gouvernance wurde an die heutige Zeit angepasst, jahrzehntealte Muster und Hierarchien mussten aufgebrochen werden. Eine der wichtigsten Veränderungen betraf die Zusammenarbeit zwischen den Ministerien, die bislang immer als Silos gearbeitet hatten ohne große Abstimmung untereinander. Mit einigen Ausnahmen (siehe oben) gewöhnten sich die Verwaltungen jetzt daran, in Arbeitsgruppen gemeinsam an Projekten und Reformen zu arbeiten. Der Kulturwandel in den Verwaltungen, der teilweise als regelrechter Befreiungsschlag erlebt wurde, wurde unterstützt von einer neuen Generation von Beamten, die mit Begeisterung an die Sache gingen. Dieser Wandel blieb den Medien und der Öffentlichkeit leider weitgehend verborgen.
Fast unbemerkt (aber oft heftig umstritten bei den direkt Betroffenen) blieben auch die Reformen, die in praktisch allen Bereichen staatlichen Handelns angesetzt wurden: die gesamte Sicherheitsarchitektur des Staates (SRE, Rettungsdienste und Polizei) wurde reformiert, die ADEM endlich neu aufgestellt und der Tourismussektor aus seiner Lethargie erweckt. Ein neues Prostitutions-, Ehe- und Scheidungsrecht wurden auf den Weg gebracht, der Elternurlaub erweitert, ein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt erlassen und erste Schritte zur Bekämpfung des Menschenhandels eingeleitet. Der RMG wurde zu einem sehr kritisierten, auf „Aktivierung“ ausgerichteten REVIS umgestaltet, die Gemeinde finanzen reformiert, eine Unmenge sehr spezifischer Gesundheitsförderprogramme auf den Weg gebracht. Die Forschungs- und Universitätslandschaft wurde neu geordnet, das gesamte Arsenal der Umweltschutzgebung wurde auf den neuesten Stand gebracht, eine Vielzahl von Agrarumweltmaßnahmen eingeleitet, die öffentliche Auftragsvergabe an nachhaltige Kriterien angepasst. Die Ziele des Klimaschutzes wurden angepasst und konkretisiert, erste Strategien zur Anpassung an den Klimawandel entwickelt usw. usf. Keine wirklichen Erfolge gab es dagegen in der überfälligen Umgestaltung der Agrarpolitik.
Nicht abgeschlossen sind große Projekte wie die Reform der Pressehilfe und die Einführung eines Gesetzes zum Informationszugang sowie das seit 15 Jahren in einer Schublade schmorende Denkmalschutzgesetz. Überhaupt brachte die Kulturpolitik der blau-rot-grünen Regierung kein Glück. Der Bereich bot viel Angriffsfläche und führte sogar zum Rücktritt einer Ministerin. Der Verzicht auf eine Ausstellung über den 1. Weltkrieg, die formale Kündigung aller Konventionen im Kultursektor, das unrühmliche Spiel mit dem MUDAM-Direktor und die unendliche Geschichte um einen Kulturentwicklungsplan sorgten für viel böses Blut und den Eindruck, dass hier Verantwortliche am Werke sind, denen entweder das Interesse oder einfach das Fingerspitzengefühl abgeht.
Während der eigentliche Kulturbetrieb sich so während Jahren ohne staatlichen Ansprechpartner sah, erkannte die Regierung parallel das wirtschaftliche Potential des Kreativ-Sektors und bot Unterstützung und Infrastrukturen für jene Kreative (Designer, Modeschöpfer und Architekten), die bereit sind, ihre Arbeit auf den Markt zu tragen.
Das Luxemburg von morgen: Digitalisierung und SpaceResources
Keine Mühe und keine Mittel scheute die Regierung auch, um Luxemburg im Bereich der Digitalisierung den Ruf einer Weltmetropole zu verschaffen. Die Infrastrukturen (Datacenter und Glasfaserverbindungen) sind auf dem höchsten Niveau, die EU wird einen ihrer Supercomputer im Lande installieren und Google konnte davon überzeugt werden, in Bissen ein Grundstück von 33 Hektar zu kaufen, um hier eines Tages ein gewaltiges, gekühltes Datenzentrum mit ein paar Dutzend Mitarbeitern hinzustellen. Abgesehen davon, dass sich das Projekt für 15-Jährige cool anhört, gelang es dem Wirtschaftsministerium nicht wirklich, der Bevölkerung zu erklären, was sie von dieser sperrigen Präsenz hat. Die in Aussicht gestellte Investitionssumme von 1 Milliarde Euro wird kaum in die Taschen Luxemburger Handwerkerbetriebe oder einheimischer Informatiker fließen und auch die Ökobilanz einer solchen Einrichtung ist jenseits von Gut und Böse. Wirklich innovativ – aber kaum wahrgenommen – war hingegen die Einrichtung einer digitalen „Botschaft“ für Estland in einem Datacenter in Luxemburg, in der alle Daten dieses exponierten baltischen Staates und seiner Bevölkerung dupliziert und geschützt sind und die wie eine ordentliche Botschaft sogar über einen exterritorialen Status verfügt.
Technologie-Begeisterung und eine gute Portion Unverfrorenheit waren auch die treibenden Kräfte für den wahrscheinlich größten Coup dieser Regierungszeit. Mit der Initiative SpaceResources.lu katapultierte der Wirtschaftsminister das Hochtechnologieland Luxemburg in den Weltraum – zumindest las sich das so während Monaten in der internationalen Presse. In Wahrheit bietet Luxemburg in Zukunft privaten Unternehmen, die im Weltraum Ressourcen abbauen oder Geld verbrennen wollen, lediglich einen juristischen Rahmen für ihre Geschäfte. Wenn die Wette aufgeht, sammelt sich jedoch in Zukunft ein Teil der internationalen Player der Weltraumnutzung in Luxemburg, um von Gesetzen, Finanzierungen und Partnerschaften zu profitieren. Wenn nicht, dann hat es zumindest Spaß gemacht.
Über die fast kindliche Begeisterung einiger Regierungsmitglieder an der schönen neuen digitalen Welt kann man sich natürlich lustig machen. Festzustellen ist aber auch, dass diese Regierung mittlerweile einen fast uneinholbaren Vorsprung vor der größten Oppositionspartei hat, wenn es um das Verständnis der digitalen Welt geht, um die Beherrschung des richtigen Vokabulars und um die nötigen Kontakte zu den weltweit dominierenden Technologiefirmen. Die CSV – weitgehend noch mit einem Personal ausgestattet, das in Kategorien des 20. Jahrhunderts denkt – dürfte Schwierigkeiten haben, hier sofort den Anschluss zu finden…
Die Herausforderungen der kommenden Regierung
Als Oppositionspartei hatte die CSV fünf Jahre lang Zeit, um sich nach dem politischen Zusammenbruch von 2013 wieder aufzubauen. Die anfänglichen Startschwierigkeiten waren nach dem Abgang von Jean-Claude Juncker nach Brüssel überwunden und die größte Oppositionspartei hatte unter Claude Wiseler in vielen Dossiers zumindest konstruktiv stillgehalten. Insbesondere die Ausarbeitung der neuen Verfassung brachte die vier großen Parteien zusammen. Unter den Abgeordneten Alex Bodry (LSAP) und Paul-Henri Meyers (CSV) waren die Arbeiten schon 2017 fast zum Abschluss gekommen, dann signalisierte die CSV, dass sie vor den Wahlen einer neuen Verfassung nicht zustimmen würde und nach den Europawahlen 2019 dazu ein Referendum abhalten wolle. Die anderen Parteien sollten das nicht einfach hinnehmen, sondern im Gegenzug eine Reihe zusätzlicher institutioneller Reformen fordern.
Hauptsächlich wird es in den kommenden Jahren darum gehen, die Wachstumsfrage zumindest ansatzweise zu beantworten. Die Umstellung der luxemburgischen Landwirtschaft ist überfällig und bedeutet, wenn sie konsequent angegangen wird, eine Chance für die internationale Ausstrahlung des Landes. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes darf auch nicht weiter vom Imperativ der hohen Pensionsansprüche abhängen. Welche Finanzunternehmen und Industriebetriebe das Land wirklich beherbergen möchte, sollte klarer und – warum nicht – politisch definiert werden. Damit lässt sich dann vielleicht auch die Rolle Luxemburgs in Europa wiederherstellen. Und die Frage, wie sich Bevölkerungsentwicklung und Wohnungsbau aufeinander abstimmen lassen, lässt sich natürlich nicht mit Sprachkursen lösen, sondern verlangt nach landesplanerischen und steuerpolitischen Entscheidungen (und Eingriffe ins Eigentumsrecht).
Schließlich kann man der kommenden Regierung nur eines wünschen – dass sie in einem spezifischen Dossier genauso unaufgeregt und sorgfältig weiter arbeiten kann wie die derzeitige: in der Flüchtlingspolitik. Luxemburg ist in Europa wahrscheinlich das letzte Land, wo die Flüchtlingsfrage noch nicht wahlpolitisch missbraucht wird. Hoffentlich bleibt es dabei.
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