Bildung, Beruf und Orientierung
Einführung ins Dossier
Wir schreiben das Jahr 2050 und alles, was zum Zeitpunkt des Entstehens der Zeilen, die Sie gerade lesen, über den Arbeitsmarkt der Zukunft vorhergesagt wurde, ist eingetroffen. Künstliche Intelligenz (KI) hat inzwischen ganze Berufszweige und -sparten obsolet gemacht: nicht nur traditionell Prestige und hohe Jobsicherheit verbürgende Berufe am oberen Ende des Gehaltsspektrums wie den des Arztes oder der Anwältin, sondern selbst solche, die als krisensicher galten, weil man davon ausging, dass sie uns Fähigkeiten abverlangen, die nur dem Menschen wesenseigen seien und ihm jederzeit einen sicheren Vorsprung gegenüber KI und Robotik bieten würden. Dennoch – und das ist die gute Nachricht – wird es keinen Arbeitsplatzmangel geben, eine Massenarbeitslosigkeit jedoch könnte diesmal trotzdem Realität werden. So oder so ähnlich stellt sich zumindest der israelische Historiker und Bestsellerautor Yavral Harari, bekannt geworden durch das populäre Zukunftsbuch Homo Deus, die Zukunft der Arbeit vor und führt seine Thesen zu Arbeit und Bildung auch in seinem 2018 erschienen Buch 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert weiter aus. Darin prophezeit er die Entstehung einer neuen Klasse der „Nutzlosen“ ohne wirtschaftliche Bedeutung und daher ohne politische Macht.
Ob und in welchem Ausmaß das prophezeite Schreckensszenario tatsächlich eintreten könnte, ist zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation – dazu eine, die von der Prämisse ausgeht, dass Routinetätigkeiten und Dienstleistungsjobs bereits überflüssig geworden sind. Kurz- und mittelfristig, so bestätigen Statistiken, wird dies sicherlich nicht der Fall sein. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass die neuen Arbeitsplätze, die entstehen werden, hohe Fachspezialisierung erfordern und damit eine ganze Schicht an Menschen ausgrenzen könnten. Der Grund dafür ist so erschreckend wie einleuchtend: Konnte man in der Zweiten Industriellen Revolution einen einfachen Bauern noch relativ problemlos zum Fabrikarbeiter umschulen, wird es in der Industrie 5.0 schon schwieriger werden, einen Kassierer zum Drohnenpiloten zu machen. Harari zieht daraus vor allem zwei Schlussfolgerungen: In einer ungewissen, von tiefgreifenden Disruptionen geprägten Welt wird Veränderung die einzige Konstante sein. Für die Arbeitnehmer der Zukunft könnte das immer häufiger notwendige Weiterbildungs- und Umqualifizierungsmaßnahmen in immer kürzeren Zeitabständen bedeuten.
Während die Digitalisierung zur Entstehung einer neuen dynamischen Kreativindustrie beigetragen hat, die es sich leisten kann, auf formale Bildungsabschlüsse zu verzichten, lässt sich der vermeintliche Bedeutungsverlust der Universität als Bildungsinstitution statistisch gesehen nicht bestätigen. Die eindeutigen Trends geben keinerlei Grund zu zweifeln: Die Wichtigkeit eines Hochschulabschlusses bleibt weiterhin ungebrochen, und die Forderungen der Arbeitgeber nach immer höheren Abschlüssen wird auch in absehbarer Zukunft wohl eher zu- als abnehmen. Diese Prognose ergibt sich hauptsächlich aus dem direkten Vergleich der Beschäftigungsraten von Hochschulschulabsolventen mit Menschen ohne Hochschulabschluss. Erstere finden nach wie vor schneller einen Job, sind deutlich weniger von Arbeitslosigkeit bedroht und verdienen mehr als letztere. Allerdings, und das belegen die Statistiken ebenso zweifellos, können Hochschulabsolventen mit ihrem Abschluss heutzutage nicht mehr die gleichen Vorteile beanspruchen, die frühere Generationen geltend machen konnten. Einer der Gründe dafür ist, dass der Mehrwert eines Hochschulabschlusses mit zunehmender Absolventenzahl abnimmt. Dementsprechend hat die Inflation an Hochschulabsolventen der vergangenen Jahrzehnte für eine bedeutende Verschiebung auf dem Arbeitsmarkt gesorgt: Hochschulabsolventen nehmen inzwischen vermehrt Jobs an, die zuvor von Menschen ohne Hochschulabschluss besetzt wurden und drücken somit die Löhne für letztere weiter nach unten, während ihre eigenen nicht ansteigen. In diesem Verhältnis gesehen, relativiert sich der vermeintliche Verdienstvorteil von Hochschulabsolventen gegenüber Nichtstudierten und erweist sich stattdessen eher als generationeller Nachteil. Die sinkenden Wohlstandsvorzüge jüngerer Generationen ergeben sich aber nicht nur aus den ausbleibenden Gehaltsvorteilen, sondern auch aus steigenden Studienkosten und der daraus resultierenden Überschuldung, die wiederum den Vermögensaufbau weiter nach hinten verschiebt. Auch hier haben heutige Hochschulabsolventen gegenüber früheren Generationen das Nachsehen. Studien belegen eindeutig, dass es einer signifikanten Anzahl von Studierten in den letzten Jahren selbst bei höheren Gehältern nicht gelingt, die Art von Wohlstand – gemessen am Rein- oder Nettovermögen bestehend aus Sach- und Geldvermögen abzüglich Schulden – aufzubauen, die frühere Generationen hatten. Der ausbleibende Return on Investment lässt sogar darauf schließen, dass das Studium für eine steigende Anzahl an Menschen eine Fehlinvestition darstellen könnte. Vor diesem Hintergrund stellt sich zunehmend die Frage, welche Relevanz ein Hochschulabschluss in Zukunft tatsächlich noch haben wird wenn a) die an den Hochschulen gelehrten Inhalte jetzt schon als zu praxis- und lebensfern eingestuft werden, b) die Schnelligkeit und Unvorhersehbarkeit der Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Planungssicherheit mehr bieten, c) sich die Studienwahl dadurch kaum noch nach Arbeitsmarktchancen ausrichten lässt und d) der zeitliche und finanzielle Aufwand im Verhältnis zum gewünschten Return on Investment unverhältnismäßig hoch ist.
Erlernenswertes Wissen
Die zunehmend bemängelte Inadäquatheit institutionell vermittelter Inhalte und Kompetenzen hingegen könnte nahelegen, dass unser Verständnis von „erlernenswertem Wissen“ allmählich einer Re-Definition bedarf. In Zeiten des unbegrenzten Informationszugangs könnte die zeitaufwendige Akkumulierung von Faktenwissen, auf die das traditionelle Bildungswesen immer noch angelegt ist, immer irrelevanter werden. Die zunehmende Forderung nach lebensnahen und praxisrelevanten Lerninhalten, flexibleren (Weiter-)Bildungsangeboten und offeneren Unterrichtsformen bestätigt das Bedürfnis nach neuen Formen der Wissensaneignung und -vermittlung, denen traditionelle Bildungsinstitutionen künftig stärker werden Rechnung tragen müssen.
Während formale Qualifikationen auch weiterhin die Zugangsvoraussetzung zu bestimmten Berufsgruppen und -sparten darstellen und maßgeblich über die Positionierung auf dem Arbeitsmarkt und die Karriereaussichten entscheiden, stellt der formale Bildungsgrad allein weder eine zuverlässige Referenz für die Intelligenz noch die berufliche Eignung eines Bewerbers dar. In Zeiten, in denen die menschliche Intelligenz der künstlichen unterlegen ist, sind sich Experten über die wachsende Bedeutung anderer Formen von menschlicher Intelligenz einig, die weder messbar noch zertifizierbar ist und traditionell nicht an den formalen Bildungsanstalten vermittelt oder gefördert wird. Der steigende Marktwert von sogenannten „immateriellen Unternehmenswerten“ ergibt sich gerade dadurch, dass sie nicht direkt fassbar und damit für Maschinen auch nur schwer zu emulieren sind. Vor diesem Hintergrund könnte auch eine neue Anerkennungskultur und Förderung in der Praxis erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten, von Berufserfahrung und unternehmensinternen Weiterbildungsmaßnahmen eine immer wichtigere Rolle spielen. Das wiederum würde, ganz im Sinne eines lifelong learning, voraussetzen, „lernen“ als einen fortwährenden Prozess zu begreifen, der mit einer erfolgreichen beruflichen Eingliederung nicht abgeschlossen ist, sondern gerade im Berufsleben erhebliche Entwicklungsspielräume nicht nur im Bereich des upskilling, sondern zunehmend auch in dem des reskilling vorsieht, um berufliche Mobilität gewährleisten und auf die Volatilität und die Strukturveränderungen des Arbeitsmarktes reagieren zu können.
Upskilling und Reskilling
Grund genug, einen Blick auf die Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen der hiesigen Hochschullandschaft zu werfen. Auf der Plattform www.lifelong-learning.lu werden aktuell tatsächlich neun berufsbegleitende Bachelor- und sogar 25 Masterstudiengänge von unterschiedlichen Anbietern, nach unterschiedlichen Modellen und zu unterschiedlichen Konditionen angeboten, jedoch sind Studiendauer, Zugangsvoraussetzungen und Ausrichtung immer noch auf lineare Berufsbilder zugeschnitten und die Rahmenbedingungen der Studienangebote eher unrealistisch. So dauert das berufsbegleitende Bachelor-Studium in Business Administration am Institut supérieur de l’économie (ISEC) der Handelskammer dreieinhalb Jahre und kostet schlappe 16.040 Euro. Der Weekend-MBA (Master in Business Administration) der Luxembourg School of Business (LSB) beläuft sich sogar auf 30.000 Euro – Kosten, die selbst gutverdienende Berufstätige nicht einfach mal soeben aufbringen. Ähnlich sieht es im Weiterbildungsbereich aus. Derzeit werden insgesamt zwar 9.026 (Stand Januar) Ausbildungen (formations) angeboten, aber auch hier richtet sich das z. T. kostspielige Angebot hauptsächlich an Berufstätige in den jeweiligen Bereichen und setzt somit entweder einen ersten berufsqualifizierenden Abschluss in demselben Bereich oder eine durchschnittliche Berufserfahrung von mindestens drei Jahren voraus. Auch der Kostenfaktor spielt eine entscheidende Rolle, da die Gebühren bei fehlender Kostenübernahme durch den Arbeitsnehmer von den Teilnehmenden selbst aufgebracht werden müssen.
Hauptproblem bleibt nach wie vor die mangelnde Durchlässigkeit des luxemburgischen Hochschulsystems, das den Übergang in fachfremde Bereiche nach Abschluss eines ersten qualifizierenden akademischen Grades nicht vorsieht. Intensive Aufbaustudiengänge, sogenannte conversion courses nach britischem oder amerikanischem Vorbild, die je nach Wahl des Studienmodells, als Voll-, Teilzeit oder Schnellstudium (dem sogenannten „fast-track“), zwischen einigen Monaten und mehreren Jahren dauern können, gibt es in Luxemburg nicht. Zu schwer wiegt die Befürchtung, ein gerafftes Studium, das den Lehrstoff in einem kürzeren Zeitrahmen verdichtet, könne ohne entsprechende Vorkenntnisse nicht dieselben Grund- und Fachkompetenzen vermitteln wie ein Regelstudium. Dabei greifen die meisten der derzeit angebotenen berufsbegleitenden universitären Ausbildungen interessanterweise auf die Flexibilität digitaler Lehrangebote wie dem des E-Learning oder des Blended-Learning (Kombination von Präsenzlernen und E-Learning) zurück, die jene Soft Skills der Selbstständigkeit, Eigenmotivation, Selbstdisziplin und Belastbarkeit beanspruchen, die selbstorganisiertes Lernen und agiles Studieren voraussetzen und in der heutigen Arbeitswelt eine immer größere Rolle spielen.
Überblick
Das vorliegende Dossier wird weder die Entwicklung der Hochschulbildung geschweige denn den Arbeitsmarkt der Zukunft ansatzweise abstecken können. Es könnte aber an aktuellen Tendenzen aufzeigen, wo mögliche Entwicklungspotenziale liegen und somit Ansatzpunkte der Orientierung schaffen.
Wie es um den Bereich der Hochschulbildung bestellt ist und wie die einzige Universität des Landes auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft – Forschungsprioritäten, Fachkräftemangel, Kompetitivität, und lebenslanges Lernen – reagieren kann, verrät Forschungs- und Hochschulminister Claude Meisch. Im Interview gesteht er Nachholbedarf in Sachen Fortbildung und Umschulung ein und setzt beim Ausbau flexibler berufsbegleitender Studienmodelle verstärkt auf das University of Luxembourg Competence Centre, das zukünftig ein Angebot entwickeln soll, das den Lebensrealitäten Rechnung trägt. Yannick Lambert gibt einen Überblick über einige Vorzüge des anglo-amerikanischen Studienmodells, dessen Flexibilität dem luxemburgischen Arbeitsmarkt in vielerlei Hinsicht zugutekäme. Rita Knott, Unternehmensberaterin und Coach, fasst die veränderten Anforderungen in der Arbeitswelt zusammen und gibt einige Impulse, wie sich die vielfältigen neuartigen Transitionen in Unternehmen vollziehen lassen. 3 Fragen zum Thema Studium, Beruf und Orientierung stellt forum an die, die es wissen müssen: und zwar an die OGBL-Präsidentin und Vorsitzende der Arbeitnehmerkammer Nora Back, den UEL-Präsidenten Nicolas Buck, den EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte Nicolas Schmit und den Generalvikar und Seminarpräses Patrick Muller. In einem kurzen Erfahrungsbericht schildert Olivier Treinen die beiden Seiten der Selbstständigkeit und welche Bedeutung Karriere, Erfolg und Work-life-balance dabei einnehmen. Wer trotz aller Orientierungshilfen immer noch Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen im Leben oder Auswege aus den großen und kleinen Sackgassen des Lebens sucht, kann inzwischen digital auf einen unerschöpflichen kollektiven Wissensschatz aus Informationen, Befunden und Erfahrungswerten zurückgreifen. In Podcasts, auf Blogs, durch Tutorials und Videos teilen sowohl Experten als auch Laien ihre best practices zu den unterschiedlichsten Themen mit einem interessierten Publikum, die Erkenntnisgewinn ganz ohne Eigenleistung suggerieren. Samra Cindrak skizziert, welchen Mehrwert man von Massenphänomenen wie TED Talks erwarten kann, und Pedro Castilho, professioneller Coach und Sprachtrainer erzählt, worauf es dabei wirklich ankommt. Und die Autorin Elise Schmit, die 2019 mit dem Prix Servais ausgezeichnet wurde, hat einen bisher unveröffentlichten Prosa-Text beigesteuert.
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