Bildung für alle: Realität oder Utopie

Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben das Recht einen uneingeschränkten Zugang zu allen Bildungsangeboten zu genießen. Bestandsaufnahme und „Baustellen“ in Luxemburg.

Heterogenität versus Homogenität

Schule soll die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. Verschiedene kulturelle und soziale Hintergründe bringen mit sich, dass Lehrkräfte sich nicht vor einer homogenen Gruppe befinden. Die Erfahrungen und Bedürfnisse jedes Kindes sind heutzutage sehr unterschiedlich, sodass die Schule sich diesen anpassen muss. Zieldifferenter Unterricht ist das „Zauberwort“, um alle Kinder dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Dies kommt auch Kindern mit einer Behinderung zugute.

In einer Gesellschaft wird davon ausgegangen, dass 15% der Bevölkerung von einer Behinderung betroffen sind. Laut Informationen des Ministeriums für Bildung, Kinder und Jugend sind knapp 1% der Schüler im Sonderschulwesen untergebracht.1 Von den Kindern mit besonderem Förderbedarf, die in der Regelschule bleiben, schaffen nur einige wenige die Hürde Sekundarunterricht. Ein Universitätsabschluss bleibt den meisten verwehrt. Bei Jugendlichen mit körperlichen Einschränkungen lassen sich z.B. die architektonischen Barrieren ohne größere Probleme überwinden, da sie dem Programm folgen können. Für Schüler mit intellektuellen Beeinträchtigungen ist der Verbleib in der Regelschule nicht immer gewährleistet und die damit verbundene Schul- und Arbeitslaufbahn oft vorbestimmt.

Das Recht behinderter Kinder auf schulische Inklusion

In der Praxis stellt Info-Handicap, die nationale Informationsstelle für den Bereich Behinderung, fest, dass die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention für den Bildungsbereich nicht ganz in die Richtung verläuft, die wir uns wünschen.

Zwischen 2013 und 2016 hat Info-Handicap drei Workshops organisiert in Zusammenarbeit mit der Universität Luxemburg, der Direktion des Sonderschulwesens (Direction de l’Education différenciée) und der Vereinigung Zesummen fir Inklusioun asbl zum Thema: „Das Recht behinderter Kinder auf schulische Inklusion“. Jedes Mal stand die Veranstaltung unter einem anderen Motto: 2013 „zwischen politischem Willen und Terrain-Erfahrung“2, 2014 „zwischen sozialer Akzeptanz und pädagogischer Machbarkeit“3 und 2016 „zwischen politischer und pädagogischer Verantwortung“. Ziel war es, eine breitangelegte Diskussion zum Thema schulische Inklusion zu führen, dies sowohl mit politischen Entscheidungsträgern wie mit Lehrkräften und Betroffenen.

Fazit der drei Workshops: Das Interesse bei Fachkräften und Eltern war sehr groß, oft fehlt es an den nötigen Ressourcen, die personellen und finanziellen Mittel müssen zeitnah zur Verfügung gestellt werden und der politische Wille ist da, um die Inklusion voranzutreiben.

Nach dieser kurzen Bestandsaufnahme der aktuellen Situation werden im Anschluss drei verschiedene Dimensionen erläutert, die sowohl Chancen wie „Baustellen“ von Vielfalt im Kontext inklusiver Schulbildung aufzeigen.

Gesetzgeber

Erste gute Initiativen des Ministers für Bildung, Kinder und Jugend, Claude Meisch, sind vielversprechend. So ist er dabei in einer ersten Phase 150 „instituteurs spécialisées“, Regelschullehrer mit Master und minimum zweijähriger Berufserfahrung, einzustellen, die den
Bedürfnissen von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zur Verfügung stehen werden. Ein neuer Gesetzentwurf regelt auch in Zukunft das Recht auf deutsche Gebärdensprachdolmetscher in der Schule. (Projet de loi 7142 modifiant la loi du 24 février 1984 sur le régime des langues)4.

Trotzdem zeigen rezente Gesetze wie z.B zur Regelschule (Loi du 29 juin 2017 portant modification 1. de la loi modifiée du 6 février 2009 portant organisation de l’enseignement fondamental…)5 oder Gesetzesentwürfe, (Projet de loi 7155 modifiant la loi modifiée du 15 juillet 2011 visant l’accès aux qualifications scolaires et professionnelles des élèves à besoins éducatifs particuliers)6 oder der Gesetzentwurf über die Kompetenzzentren des Sonderschulwesens (Projet de loi 7181 portant création de Centres de compétences en psycho-pédagogie spécialisée en faveur de l’inclusion scolaire)7, dass sich Luxemburg, trotz positiver Bemühungen, nur sehr zaghaft und halbherzig vom Sonderschulwesen verabschiedet. Es hat den Anschein, als ob das Sonderschulwesen noch weiter ausgebaut wird, anstatt dass das dort beschäftigte Personal langsam in die Regelschule integriert wird. Überdies wird eine Art Hierarchie zwischen den verschiedenen Behinderungsarten eingeführt, indem man beispielsweise zwischen Kindern mit besonderem und spezifischem Förderbedarf unterscheidet. Diese Unterscheidung führt nicht zu Inklusion sondern Segregation.

Fachkräfte

In Luxemburg hat es in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von erfolgsversprechenden inklusiven Schulprojekten gegeben. Leider ist es bei diesen vereinzelten guten Beispielen geblieben und sie wurden nicht flächendeckend auf ganz Luxemburg übertragen. Die Gemeinde oder Klasse in der ein Kind zur Schule geht, ist nach wie vor ausschlaggebend, ob es dort mit seinen spezifischen Bedürfnissen „willkommen“ ist und es bestmöglich gefördert werden kann. Besonders in der Regelschule wurden uns Situationen zugetragen, dass Schüler „ausgesondert“ werden oder unerwünscht sind aufgrund ihres herausfordernden Verhaltens oder aufgrund von intellektuellen Beeinträchtigungen. Den „Schüler à la carte“ darf es aber unserer Meinung nach nicht geben. Wir verstehen, dass Unwissenheit, Ängste oder mangelnde Unterstützung Lehrkräfte überfordern können. Es kann aber nicht sein, dass die Schüler sich der Schule anpassen müssen, sondern die Schule muss sich auf alle Schüler einlassen und zieldifferenten Unterricht anbieten. Ist dies nicht gewährleistet, fällt es leicht, Schüler ins Sonderschulwesen zu orientieren, aus Mangel an gleichwertigen Angeboten.

Eltern

Eltern haben in Luxemburg das letzte Wort, wenn es darum geht, ob ihr Kind die Regelschule oder eine Sonderschule besucht. Eine echte Wahlmöglichkeit besteht dennoch nicht, da die Unterstützung in der Regelschule durch speziell ausgebildetes Personal zeitlich beschränkt ist. Eltern fühlen sich dann manchmal unter Druck gesetzt und entscheiden im Zweifelsfall für eine Beschulung im Sonderschulwesen aus Angst ihr Kind wäre dem Leistungsdruck der Regelschule nicht gewachsen. Dies betrifft besonders Kinder mit intellektuellen Einschränkungen. Die Sensibilisierung der Eltern nicht-behinderter Kinder ist auch noch ungenügend. So befürchten diese oft, dass ihre Kinder nicht genug Aufmerksamkeit bekommen, wenn Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf die gleiche Klasse wie ihr Kind besuchen. Dass Kinder mit und ohne Behinderung viel voneinander lernen können, wird in diesem Kontext oft vergessen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Einbahnstraße.

Aus Utopie wird Realität: zwei Praxisbeispiele

Der Verein Zesummen für Inklusioun asbl (ZEFI) setzt sich seit mehr als 25 Jahren unermüdlich für die Inklusion von Menschen mit spezifischen Bedürfnissen ein. ZEFI bietet insbesondere Begleitung und Beratung im Bereich schulische Inklusion an. Seit 2003 vergibt ZEFI jedes Jahr den Preis „Zesummen“.8 Mit diesem Preis unterstützt die Vereinigung vorbildliche Initiativen mit innovativen Ideen zur Inklusion von Personen mit spezifischen Bedürfnissen. Darüber hinaus hat ZEFI 2016 einen Film Inklusioun Jo x Nee9 zusammen mit dem Centre national de l’audiovisuel realisiert. Dort werden zwei Beispiele von Schulinklusion gezeigt, die sehr gut veranschaulichen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Schulinklusion gelingen kann. Nachahmenswerte Beispiele, die zeigen, dass Team-teaching, Offenheit, Toleranz und zieldifferentes Lernen Grundvoraussetzungen für eine Schule für „alle“ sind.

Eine der Aufgaben der Universität Luxemburg ist es, die auszubildenden Pädagogen für das Thema Inklusion zu sensibilisieren und zu aktivieren. Die Teilnahme seit 2013 am Projekt TdiverS ist ein weiterer Schritt in Richtung bessere Vorbereitung der Lehrpersonen auf das Thema Inklusion.10 Am Projekt haben sechs Länder teilgenommen: Luxemburg, Deutschland, Schweden, Island, Spanien und Litauen. Das Lehren unter inklusiven Rahmenbedingungen ist eine große Herausforderung für Lehrkräfte. In Europa ist das Ausmaß und die Qualität von Inklusion sehr unterschiedlich. Die Zusammenarbeit zwischen Ländern fördern, die über eine langjährige Erfahrung in punkto Inklusion verfügen und solchen, die noch nicht ganz so weit sind, ist eines der Hauptziele des Projekts. TdiverS verknüpft Wissenschaftler mit Praktikern, um Vielfalt in Theorie und Praxis zu erforschen. Zum Abschluss des Projekts steht nun ein USB-Stick zur Verfügung, der gelingende Praxisbeispiele zeigt, die als Inspiration gelten können und der von Fachkräften und anderen Interessierten in der Aus- und Weiterbildung eingesetzt werden kann.

Es bleibt noch viel zu tun, damit das Leben und Lernen von Vielfalt nicht ausgrenzt, sondern einschließt, nicht trennt, was von Anfang an zusammen gehört.

(1)  https://www.gouvernement.lu/6768942/2016-rapport-activite-education-nationale-enfance-jeunesse.pdf
(2)  http://www.info-handicap.lu/index.php/fr-FR/documents/schule-und-bildung-education-et-formation/596-protokoll-des-1-workshops-aus-der-reihe-qinklusive-bildungq/file
(3)  http://www.info-handicap.lu/index.php/fr-FR/documents/schule-und-bildung-education-et-formation/681-2014protokoll-2-workshop-inklusive-bildung/file
(4)  http://chd.lu/wps/portal/public/Accueil/TravailALaChambre/Recherche/RoleDesAffaires?action=doDocpaDetails&backto=/wps/portal/public/Accueil/Actualite&id=7142
(5)  http://legilux.public.lu/eli/etat/leg/loi/2017/06/29/a617/jo
(6)  http://chd.lu/wps/portal/public/Accueil/TravailALaChambre/Recherche/RoleDesAffaires?action=doDocpaDetails&id=7155
(7)  http://www.chd.lu/wps/portal/public/Accueil/TravailALaChambre/Recherche/RoleDesAffaires?action=doDocpaDetails&backto=/wps/portal/public/Accueil/Actualite&id=7181
(8)  http://www.zefi.lu/index.php/fr/prix-zesummen-fir-integratioun ; http://www.zefi.lu/index.php/de/zesummen-preis
(9) http://www.zefi.lu/index.php/fr/films-et-photos/film
(10) http://www.tdivers.eu/

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