„Bisher wurde keine vernünftige Ernährungspolitik betrieben“

Ein Gespräch mit Anna Wißmann über Ernährungsräte und die Notwendigkeit einer europäischen Vernetzung

Das Schwerpunktthema dieses Heftes lautet Ernährung, darin enthalten ist auch ein Beitrag zum geplanten Ernährungsrat in Luxemburg. Sie selbst waren 2016/17 nicht nur Koordinatorin des Kölner Ernährungsrates, sondern sind auch dafür zuständig, die deutschsprachigen Ernährungsräte miteinander zu vernetzen.

Anna Wißmann: Ja, derzeit sind wir dabei, im deutschsprachigen Raum ein Netzwerk aufzubauen, zu dem natürlich auch Luxemburg gehört, genauso wie Deutschland, Österreich, die Schweiz und Süd-Tirol, und wir haben mit Amsterdam in den Niederlanden ein Mitglied, mit dem wir schon über den deutschsprachigen Bereich hinausgehen. Es könnte sich perspektivisch in Richtung eines europäischen Netzwerks weiter entwickeln, jedoch stellt der deutschsprachige Raum den Mittelpunkt dar, in dem Ernährungsräte in den vergangenen Jahren bereits gegründet wurden oder dabei sind, sich zu gründen.

In Ihrer Funktion als Koordinatorin des Netzwerkes liegen Ihnen eine nachhaltige Produktion, aber auch der Konsum von gesunden Lebensmitteln am Herzen. Was sagen Sie einem Herrn Tönnies, unter dessen Arbeitsbedingungen nicht nur die Tiere, sondern auch seine Mitarbeiter*innen leiden, von denen mittlerweile über 1.500 an ­COVID-19 erkrankt sind und den man seit einigen Tagen auf YouTube beobachten kann, wie er ganz fröhlich „Ich mach mein Ding, egal was die anderen labern“ von Udo Lindenberg singt?

A.W.: Wenn ich das höre, bin ich ganz froh, dass ich in den letzten Tagen keinen Internetzugang hatte. Was Menschen, die sich mit dem Ernährungssystem auseinandersetzen, auffällt, ist, dass das Tönnies-Beispiel die logische Folge der dort vorherrschenden Bedingungen ist, sowohl die des nicht vorhandenen Tierwohls als auch die der allgemeinen Arbeitsbedingungen, und diese wurden durch eine Politik ermöglicht, die auf billige Produktion von großen Mengen setzt und die Kontrollen immer weiter zurückgefahren hat. Wenn man beides kombiniert, kommt man an einen solchen Punkt. Dass dann gerade zufällig auch eine Pandemie herrscht, kommt erschwerend hinzu. Es zeigt aber eben auch, dass wir ein nicht resilientes System geschaffen haben, in dem Tiere und Menschen maximal ausgebeutet werden. Dies ist der ultimative Ausdruck unseres Ernährungssystems, wie es sich aktuell darstellt. Das Beispiel Tönnies mag ein Extremfall sein, es zeigt aber eigentlich auch die Norm, das, was in unserem Ernährungssystem nicht nur in Deutschland, sondern beispielsweise auch in den USA in der Massenfleisch- und Ernährungsindustrie geschaffen wurde und was passiert, sobald eine Störung – in diesem Fall Corona – in diesem System auftritt. Man sieht, wie vulnerabel diese Systeme sind, allen voran die Menschen und Tiere, die in ihnen ausgebeutet werden.

Ich kann Ihnen nur zustimmen, aber die Frage, auf die ich hinauswollte, war eher: Was sagen Sie denjenigen Menschen, denen die Szenarien, die Sie schildern, und die Auswirkungen dieses Systems komplett egal sind?

A.W.: Herrn Tönnies ist zu wünschen, dass er relativ bald Zeit bekommt, sich ganz in Ruhe Gedanken darüber zu machen. Ich gehe davon aus, dass er in irgendeiner Form dafür zur Verantwortung gezogen werden muss. Das Problem ist aber eher, dass vieles von dem, was dort geschehen ist und was auch weiterhin dort gemacht wird, vollkommen legal ist. Der eigentliche Skandal ist, dass diese Art zu wirtschaften, diese Art der Ausbeutung und die Möglichkeit, dass all das einem egal sein kann, im Rahmen des Gesetzes stattfindet.

Das ist ja auch ein Grund, wieso es Ernährungsräte gibt, weil diese die Politik darauf hinweisen, dass genau darin der Skandal liegt, dass bestimmte Bedingungen, unter denen produziert und konsumiert wird, legal sind und sich das ändern muss. Aber vielleicht könnten Sie erst einmal erklären, was überhaupt das Konzept von einem Ernährungsrat ist und die Frage beantworten, warum man einen Ernährungsrat braucht?

A.W.: Die Grundidee von Ernährungsräten besteht darin, dass das Ernährungssystem in seiner aktuellen Form ganz dringend und grundlegend verändert werden muss und dass diese Veränderung nicht, wie es das derzeitige Narrativ suggeriert, allein in der Hand der Konsument*innen liegen kann. Es ist eine politische Frage. Die Politik muss auf allen Ebenen eine Verantwortung übernehmen, es muss eine nachhaltige Ernährungspolitik geben. Der erste Ansatzpunkt von Ernährungsräten ist auf der lokalen Ebene, weil sich die Mitgestaltung dort relativ leicht realisieren lässt. Andere Länder zeigen beispielhaft, dass sehr viel passieren kann, wenn eine Stadt sich aktiv dafür entscheidet, Ernährungspolitik zu betreiben.

Warum braucht es dazu einen Ernährungsrat? Warum kann eine Stadt nicht alleine eine vernünftige gesunde Ernährungspolitik gewährleisten?

A.W.: Es ist nicht so, dass das per se unmöglich wäre, aber wir haben hier tatsächlich eine policy gap, eine Politik-Lücke. Bisher wurde keine vernünftige Ernährungspolitik betrieben. Es gibt dafür keine Zuständigkeit und damit einhergehend auch nicht die entsprechende Expertise in den Kommunalverwaltungen. Es gibt auch nicht die entsprechenden Plattformen, auf denen diese Expertise zusammengebracht werden kann – und genau hier kommt der Ernährungsrat ins Spiel: Er ist eine Plattform, die die verschiedenen Akteur*innen, die das System verändern können, zusammenbringt – und das sind u. a. die Kommunalpolitik und Verwaltungen, aber eben auch die Zivilgesellschaft mit ihrer speziellen Sichtweise und ihrem Wissen sowie die Produzent*innen und alle professionell in der Ernährungswirtschaft Tätigen. Diese verschiedenen Perspektiven braucht es, da das Ernährungssystem sehr komplex ist. Ich persönlich komme eher aus einer wissenschaftlichen und teilweise aktivistischen Richtung und bringe eine spezifische Expertise mit. Ich kenne aber weder die Abläufe in der Kommunalpolitik, noch die spezifischen Produktionsbedingungen etwa im Rheinland in allen Details, weiß also nicht, was dort an Verarbeitungsstruktur und Logistik vorhanden ist. Über all diese Aspekte des Systems gibt es Wissen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Diese Bereiche sprechen i. d. R. aber nicht miteinander und haben kein gemeinsames Forum, wo sie sich treffen, über die Probleme und Potenziale sprechen und gemeinsam Ideen entwickeln, wie Veränderung passieren kann, was es dazu bräuchte und was die Möglichkeiten sind.

Das heißt, dass diese drei großen Gruppen Forschung und Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung sowie Produktion idealtypisch in einem Ernährungsrat vertreten sind. Es gibt aber auch solche, in denen beispielsweise keine Vertreter*innen aus der Politik mitmachen. Was ist in Ihren Augen denn der ideale Ernährungsrat? Ist es gut, wenn Politik und Verwaltung direkt mit am Tisch sitzen, oder ist es aus Ihrer Erfahrung heraus, wenn Sie die Szene der Ernährungsräte überblicken, besser, ein Ernährungsrat operiert erstmal ohne die Politik und leitet die ausgearbeiteten Vorschläge dann später an sie weiter?

A.W.: Ich glaube, es kommt auf die lokalen Bedingungen an. Das Wesen der Ernährungsräte ist, dass sie sich sehr stark an den lokalen Bedingungen strukturieren und ihre Strukturen, Inhalte und Ziele dementsprechend entwickeln. Was ich bisher beobachten konnte – wir haben hier im deutschsprachigen Raum erst seit kurzer Zeit, sprich, seit 2016 die ersten Ernährungsräte –, ist, dass z. B. die Stadt Köln Mitglied der ersten Stunde im Ernährungsrat war und in Köln bisher auch sehr gute Ergebnisse erzielt werden konnten. Es gab einen gemeinsamen Prozess zur Entwicklung einer Ernährungsstrategie, die inzwischen vorliegt und vor kurzem im Stadtrat als Leitlinie für die zukünftige Politik der Stadt verabschiedet wurde. Das kann, denke ich, auch möglich sein, wenn man einen solchen Prozess ohne die aktive Beteiligung der Stadt durchläuft, halte es aber eigentlich für weniger wahrscheinlich. Wenn Menschen aus Politik und Verwaltung an einem solchen Prozess aktiv beteiligt sind, kommt ein wichtiges Praxiswissen über die Möglichkeiten von Umsetzung hinzu. Was kann eine Kommune beschließen? Worüber hat sie die politische Hoheit? Was sind ihre Handlungsmöglichkeiten? Wie muss man solche Dinge angehen, damit sie auch geschehen können? Dieses Wissen haben wenige von uns, die nicht selbst in der Kommunalpolitik oder Verwaltung sind.

Was könnten die konkreten Eckpfeiler einer solchen Ernährungsstrategie sein? Könnten Sie das für Deutschland auf der lokalen Ebene vielleicht mal am Beispiel Köln darstellen?

A.W.: Diese Ernährungsstrategie wurde veröffentlicht und ist relativ umfangreich. Es ist ein Dokument von rund 60 Seiten und es geht um die Benennung der einzelnen Bereiche, in denen die Stadt selbst, aber eben auch andere Akteur*innen in der Stadt und Region aktiv werden können. Darin werden zunächst die aktuellen Problembereiche benannt. In Köln und Umgebung gibt es aktuell ein massives Problem des Flächenverbrauchs. Köln ist eine Region mit starkem Zuzug, die Stadt wächst rapide. Es gibt Prognosen, dass im Jahr 2040 über 6 % mehr Menschen in Köln wohnen werden als noch vor drei Jahren. Dadurch gibt es Druck auf Flächen. Das Flächenthema wird insofern als ein Ziel einer regionalen und lokalen Ernährungspolitik benannt. Dann gibt es die allgemeineren Problemfelder, mit denen alle Städte zu kämpfen haben: der Rückgang der Biodiversität, der Verlust der Vielfalt der Betriebe (Höfe- und Bäckereiensterben) usw. Auch diese Probleme werden benannt und dazu Ziele formuliert, wie man sich diesen Trends entgegenstellen oder sie eventuell umkehren kann. Das Thema Ernährung ist ein weites Feld, das viele unterschiedliche Bereiche umfasst und uns alle auf so vielfältige Weise betrifft. Nehmen wir beispielsweise den sozialen Aspekt: Was ist mit dem Recht auf Nahrung von Menschen, die sich zurzeit gesunde und nachhaltig produzierte Lebensmittel nicht leisten können, und was kann eine Stadt tun, um dies zu gewährleisten? Es sind viele verschiedene Aspekte, die zur Sprache kommen und behandelt werden und für die dann Ziele und erste Schritte formuliert werden, in welche Richtung man daran arbeiten kann.

Können Sie aus diesen Aspekten ein Beispiel nehmen, damit man so eine konkrete Umsetzung auf lokaler Ebene nachvollziehen könnte? Nehmen wir beispielsweise das Thema Flächenverbrauch: Die Fläche ist begrenzt, während die Zahl der Menschen, die ernährt werden müssen, steigt. Wie kann eine Stadt mit der Kluft, die zwischen der zur Verfügung stehenden Fläche und den zunehmenden Konsument*innen besteht, umgehen?

A.W.: Die Stadt Köln hat eine besonders große Rolle in dem Bereich, weil sie selbst gewissermaßen „Großgrundbesitzerin“ ist. Sie besitzt auch außerhalb des Stadtgebietes große landwirtschaftliche Flächen und verpachtet diese an landwirtschaftliche Betriebe. Damit hat sie Zugriff auf Flächen aus dem Umland. In der Strategie sind vier Hauptziele formuliert: Die Erhaltung der restlichen landwirtschaftlichen Flächen im Stadtgebiet, Sicherung der Flächen aus dem Umland für die landwirtschaftliche Nutzung, die Stärkung von bäuerlichem und genossenschaftlichem Landbesitz und die Erhöhung des Anteils der biologischen Landwirtschaft. Dieser Anteil ist in und um Köln derzeit noch relativ gering. Als Verpächterin hat die Stadt die Möglichkeit, Einfluss darauf zu nehmen, wie die Flächen, die sie dort vergibt, bewirtschaftet werden. Das ist ein wichtiger Hebel, den die Städte haben: Wenn sie ihre Fläche verpachten, können sie Kriterien vorgeben und z. B. verlangen, dass Flächen ökologisch bewirtschaftet werden. Das ist etwas, was durch den Ernährungsrat auf den Weg gebracht wurde. Bisher gab es keine Kriterien, in Zukunft aber werden für die Vergabe dieser Flächen ökologische Kriterien angesetzt, wenn die Pachtverträge erneuert werden. Das ist nur ein Unterpunkt in der Strategie, der aber ansatzweise zeigt, welche vielfältigen Aspekte dort angesprochen werden und was die Stadt selber teilweise schon in der Hand hat.

Zwei Begriffe, die im Zuge von ­COVID-19 stark aufgekommen sind und für die Ernährungsräte eine große Rolle spielen, sind Ernährungssouveränität und Relokalisierung, also der Versuch, sich weniger von langen internationalen Ernährungsketten abhängig zu machen und eine Ernährungsautonomie auf lokaler oder regionaler Ebene gewährleisten zu können. Aber: Nicht alles lässt sich in allen Gegenden dieser Welt anbauen oder produzieren. Es gibt Lebensmittel, die wir einfach importieren müssen. Es sei denn, wir verzichten darauf.

A.W.: Das ist im Prinzip richtig, wobei es weniger darum geht, sich abzuschotten, in seine Region zurückzuziehen und keinerlei Handel mit Lebensmitteln mehr zu betreiben, sondern es geht eher darum, die Balance wiederherzustellen. Wir haben inzwischen nämlich das andere Extrem erreicht. Wenn wir über Relokalisierung sprechen, geht es darum, etwas gegen die Exzesse der Globalisierung zu tun. Diese werden auf Basis unfassbar billiger Energie betrieben, was sich nicht beliebig lange fortsetzen lässt. Stichwort: Maximale Ausbeutung fossiler Ressourcen. Dieses System wird sowieso zusammenbrechen. Insofern geht es nicht darum, etwas vorzuschreiben, weil es ideologisch „besser“ ist, sondern einfach, weil es praktisch nicht mehr umsetzbar ist. Wir haben zurzeit ein System, das alleine in der Produktion eine sehr schlechte Energiebilanz aufweist: Weder die Menge an fossiler Energie, die in jede produzierte Lebensmittelkalorie geht, noch die Tatsache, dass alle Ressourcen – menschliche Arbeitskräfte, natürliche Ressourcen, Transport usw. – so billig zur Verfügung stehen, kann länger aufrechterhalten werden. All das bringt nämlich auch Verzicht mit sich, nämlich den Verzicht auf ein bisher für die menschliche Zivilisation extrem positives Klima, fast die gesamte Biodiversität, die wir bisher kannten, aber auch auf eine Vielfalt, die wir alle schon nicht mehr erlebt haben und die wir deswegen nicht als Verzicht wahrnehmen. Die Menschen denken nämlich vor allem daran, dass sie nicht rund ums Jahr importierte Erdbeeren, Äpfel und billiges Fleisch essen können und haben vor Augen, dass sie den gesamten Winter über an einer Steckrübe nagen werden. Das ist ein Bild, das aus der heutigen Sicht entstehen kann. Wenn man aber zurückschaut, was es an Vielfalt mal gab, wie vielfältig z. B. das Gemüse war, das in Mitteleuropa produziert und konsumiert wurde, dann tauchen dort viele Dinge auf, die heute keiner mehr kennt, weil sie sich nicht für eine Massenproduktion und lange Transportwege eignen. Wir verzichten jetzt gerade auf viel mehr als uns bewusst ist.

Für eine solche Umstellung braucht es einen breiten Mentalitätswandel.

A.W.: Uns wurde über einen relativ langen Zeitraum beigebracht, dass das Hauptkriterium beim Lebensmittelkauf der Preis ist. In Deutschland findet man regelmäßig Werbungen, auf denen aktiv mit billigen Lebensmitteln geworben wird. Die Idee dahinter ist, dass man an Lebensmitteln sparen sollte statt an anderen Dingen. In Deutschland werden derzeit durchschnittlich 10 % des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben. Das ermöglicht, dass das Einkommen für viele andere Dinge, u. a. für völlig überzogene Mieten, ausgegeben werden kann. Das war über sehr lange Zeit unserer Geschichte eben nicht die Norm. Es wurde deutlich mehr Geld für Lebensmittel ausgegeben. Einen großen Teil der Kosten aber, den die Lebensmittel wirklich verursachen, zahlen wir nicht an der Supermarktkasse, sondern über Steuern, z. B. Abwassergebühren. Das sind Kosten, die auf die Lebensmittel eigentlich noch draufkommen, die aber nicht direkt sichtbar werden. Zu einer gewissen Marktverzerrung kommt es dann, wenn ökologisch produzierte Produkte, die eigentlich viel weniger Begleitkosten verursachen, nochmal teurer sind.

Sämtliche Veränderungen, die Sie schildern und die eintreten müssten und für die sich Ernährungsräte einsetzen, leuchten hundertprozentig ein. Wir können allerdings nicht nur auf lokaler Ebene bleiben, sondern es müsste auch auf europäischer Ebene politisch etwas passieren. Die Europäische Union hat die Farm-to-fork-Strategie verabschiedet (siehe den Beitrag von Jeannette Muller in diesem Heft), den Eckpfeiler des europäischen Grünen Deals, mit der sie den Übergang zu einem nachhaltigen EU-Nahrungsmittelsystem befördern will, um Ernährungssicherheit zu gewährleisten und für jeden Zugang zu gesunder Ernährung zu sichern. Wie stehen Sie zu dieser Strategie? Würden Sie sagen, sie ist ausreichend oder muss da nachgebessert werden?

A.W.: Grundsätzlich finde ich es zunächst einmal positiv, dass es diese Strategie überhaupt gibt und vor allem, dass dieses Ziel dort formuliert wird. Wenn man sich aber näher damit auseinandersetzt, merkt man schnell, dass es nicht wirklich eine Änderung des Mindsets gibt. Die Sprache ist weiterhin sehr technokratisch geprägt, die Hoffnung wird in technologische Lösungen gesetzt und das ist letztlich das, was das jetzige Ernährungssystem ganz stark charakterisiert und uns an den Punkt gebracht hat, an dem wir sind. Da stellt sich schon die Frage, ob wir das Problem mit dem gleichen Ansatz lösen können, der uns überhaupt erst in diese Situation gebracht hat. Es gibt sicherlich positive Passagen, beispielsweise, wenn es um die Stärkung der ökologischen Landwirtschaft geht, es gibt aber eben auch Stellen, die am Status quo festhalten. Es ist bisher auch kein bindendes Dokument, so ist noch völlig unklar, inwiefern sich diese Strategie auf eine mögliche Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) auswirken könnte. Das ist letztlich das Instrument, was die Landwirtschaft und die Ernährung Europas und zu ganz großen Teilen der Welt verändern könnte, weil es konkrete Auswirkungen hat. Welches Subventionsregime die EU sich gibt, ist die entscheidende Frage, deren Antwort das globale Ernährungssystem prägen wird. Ob die Farm-to-fork-Strategie mit der GAP in irgendeiner Form in Verhältnis gesetzt wird, ist jetzt noch völlig unklar.

Das wäre ja eigentlich Ansporn für eine weitere Vernetzung der Ernährungsräte auf einer europäischen Ebene, um so auch Druck auf eine europäische Ernährungsstrategie üben zu können und einen Paradigmenwechsel zu erzielen.

A.W.: Anfang vergangenen Jahres hat das internationale Expert*innenpanel IPES-Food (International Panel of Experts on Sustainable Food Systems), das vom früheren UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung Olivier De Schutter gegründet und geleitet wird, einen Vorschlag, die sogenannte EU food policy, in Abgrenzung zu einer reinen agricultural policy veröffentlicht. Sie strebt die Entwicklung von einer Landwirtschafts- hin zu einer Ernährungspolitik an. Sie wurde in einem dreijährigen partizipativen Prozess, für den in ganz Europa Expert*innenpanels und Konferenzen abgehalten und Politikvorschläge formuliert und gesammelt wurden, entwickelt. Teil dieses Vorschlages ist es, auf europäischer Ebene einen Ernährungsrat einzurichten. Das Prinzip, die verschiedenen Akteur*innen des Ernährungssystems an einen Tisch zu bringen, wäre also nicht nur auf der lokalen und regionalen Ebene anzustreben, sondern eben auch in Brüssel, von wo aus wirksame Signale kommen, die dann in den einzelnen EU-Ländern natürlich noch einmal unterschiedlich umgesetzt werden. Ohne in Brüssel etwas zu verändern, kann man das Nahrungssystem nicht grundlegend ändern, das ist den Ernährungsräten auch bewusst. Sie sind aber noch relativ jung und fangen erst einmal da an, wo man jetzt schon etwas bewirken kann. In Deutschland beginnt das schon auf Landesebene. In Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gibt es bereits Landesnetzwerke.

Im Zuge der 68er-Bewegung sprach man davon, globale Zukunft im Kleinen antizipieren zu müssen, sozusagen also im Kleinen schon einmal das zu leben, was später auf gesamtgesellschaftlicher Ebene realisiert werden sollte. Das war auch das Prinzip der Kommunen. Hier beobachten wir ja eigentlich einen ähnlichen Mechanismus: Im Lokalen anfangen, den Blick aber immer auf das Globale haben, wenn ich Sie richtig verstehe?

A.W.: Ja, das ist ein Teil davon. Wichtig ist aber auch, erlebbar zu machen, dass etwas anderes möglich ist. Die jetzige Normalität macht es schwer vorstellbar, dass Dinge ganz grundsätzlich anders sein könnten, ohne in Angst zu verfallen, dass das etwas Schlechteres sein wird und Verzicht und Mangel bedeutet. Vor allem, weil uns vermittelt wird, dass wir den Gipfel der Entwicklung erreicht haben und alles, was anders ist, im Zweifel nur schlechter sein kann. Es geht darum, es Menschen möglich zu machen zu erleben, dass Dinge anders und damit nicht unbedingt schlechter sein können, dann kann Veränderung vielleicht sogar erstrebenswert erscheinen. Wenn man die Erfahrung macht, dass nicht alles zusammenbricht, wenn man versucht, sich zu verändern, ist schon sehr viel gewonnen, nicht nur für uns individuell, sondern auch für die politischen Entscheidungsträger*innen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in ihrem Bericht aus dem letzten Jahr berechnet, dass 2018 weltweit 820 Millionen Menschen nicht genug zu essen hatten. Am stärksten ist Afrika betroffen, in Ost-Afrika war ein Drittel der Bevölkerung unterernährt, Tendenz steigend. Olivier De Schutter, den Sie eben bereits erwähnt haben, hat das Menschenrecht auf angemessene Ernährung, das völkerrechtlich verankert ist, so definiert: „Das Recht auf Nahrung ist das Recht jedes einzelnen Menschen, allein oder in Gemeinschaft mit anderen jederzeit faktischen und finanziellen Zugriff zu ausreichender und kulturell angemessener Qualitätsnahrung zu haben.“ Das Problem des Welthungers ist uns seit vielen Jahrzehnten bewusst, dennoch hat sich bisher nichts geändert. Es wurde, im Gegenteil, immer schlimmer. Wie optimistisch sind Sie, dass das Problem des Welthungers wirklich in den Griff zu bekommen ist?

A.W.: Unter den jetzigen Corona-Bedingungen sind sehr viele Unsicherheiten hinzugekommen. Inwieweit wir in dieser Situation überhaupt handlungsfähig sind, ist sehr schwer zu beantworten. Aus Perspektive der Aktivist*innenszene denke ich aber grundsätzlich schon, dass sich ein gewisser Paradigmenwechsel abzeichnet. So gibt es innerhalb der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) inzwischen eine starke Strömung für Agrarökologie, die in Richtung Ernährungssouveränität und Regionalisierung und nachhaltige Produktion durch u. a. Kleinbauern geht, was noch vor wenigen Jahren als Hippietum abgetan wurde. Modernisierung der Landwirtschaft bedeutete immer die Industrialisierung der Landwirtschaft. Der Diskurs hat sich verändert. Die Frage ist, ob das schnell genug auf die Agrarpolitik durchschlägt und wir das Ruder dieses sehr großen Schiffes des Ernährungssystems herumreißen können.

Sie haben eben bei der Farm-to-fork-Strategie davon gesprochen, dass man einen Paradigmenwechsel bräuchte. Kann man eine wirklich nachhaltige und globale Ernährungspolitik in einem System erzielen, das eigentlich immer noch stetig auf Wachstum setzt? Anders gefragt, kann es eine Ernährungswende ohne einen Systemwechsel geben?

A.W.: Dass wir die industrielle Wachstums­logik seit schätzungsweise hundert Jahren auf das Ernährungssystem appliziert haben, hat uns an genau diesen Punkt gebracht, an dem wir jetzt sind, nämlich einerseits Überproduktion, andererseits massive Zerstörung von Ökosystemen und weiterhin relativ flächendeckend Hunger sowie Unter- und Mangelernährung. Es ist ja nicht so, dass wir mit dem jetzigen System in der Lage sind, die Weltbevölkerung angemessen zu versorgen, auch weil das gar nicht das Ziel ist, das wir verfolgen. Das Ziel ist Profit, und Profit zielt darauf ab, jene maximal gut zu versorgen, die sich die Ernährung leisten können. Insofern ist ein grundsätzlicher Wandel von Nöten. In allen Bereichen des Ernährungssystems, ob Saatgut, Input, Technologie oder Landbesitz, können wir eine Konzentration der Mittel in den Händen weniger großer Konzerne und damit ein starkes Machtungleichgewicht feststellen. Das macht es schwierig, grundlegende Veränderungen anzustoßen.

Das verbindet Sie als Aktivistin und Ihre Kolleg*innen mit den Klimaaktivist*innen, dass am Ende doch die Einsicht steht, es bräuchte einen radikalen Systemwechsel, um diese Ziele durchzusetzen.

A.W.: Ich denke, dass kann man so unterschreiben. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Dinge, die wir auf lokaler, oder im Fall von Luxemburg auf nationaler Ebene, vorantreiben, nicht sinnvoll sind. Sie zeigen in die richtige Richtung und aktivieren im Zweifel die Menschen für das Thema. Gerade im Zuge von Corona erreichen Fragen danach, wie es rumänischen Wanderarbeiter*innen in deutschen Schlachthöfen oder auf deutschen Spargelfeldern geht, eine breitere Öffentlichkeit. Interessant wird es sein zu sehen, ob dieses Interesse bestehen bleibt und wenn ja, welche politischen Auswirkungen das haben könnte.

Die sogenannte Tierwohlabgabe in Höhe von 40 Cent pro Kilo Fleisch, wie von der deutschen Bundeslandwirtschaftsministerin vorgeschlagen, wird das Problem wohl nicht lösen.

A.W.: Davon würde ich ausgehen. Ich habe eine gewisse Vorstellung davon, was nachhaltig produziertes Fleisch kosten muss. Die Tierwohlabgabe ist eine der typischen symbolischen Handlungen unseres Landwirtschaftsministeriums, die dazu beitragen soll, den Status quo aufrecht zu erhalten.

Vielen Dank für das Gespräch!

(Das Gespräch fand am 29. Juni 2020 per Video-­Konferenz statt, die Fragen stellte HM.)

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