Bitte, bitte, kommt doch wählen!

Warum sich die Mehrheit der Nicht-Luxemburger mit dem Wahlrecht schwertut

Lydie Polfer hätte eine erfolgreiche Schuhverkäuferin werden können. Eine, die den skeptischen Kunden zu überzeugen weiß, dass der Schuh in Wirklichkeit gar nicht drückt, sondern wie angegossen passt.

Wer seit dreieinhalb Jahrzehnten in der Berufspolitik ist, begegnet solchem Schuhwerk Tag für Tag. Ein beredtes Beispiel ist das Wahlrecht für Ausländer. Wo andere hartnäckig ein Defizit zu erkennen glauben, hat für die erfahrene Kommunalpolitikerin alles seine natürliche Ordnung. Viel zu wenig Nicht-Luxemburger wollen von dem ihnen großzügig gewährten Privileg Gebrauch machen? Na wenn schon! Für die Bürgermeisterin gibt es eine simple, plausible Erklärung: Die lieben Mitbürger tragen sich nicht in die Wählerlisten ein, weil sie mit ihrem Leben allgemein und der Gemeindepolitik im Besonderen zufrieden sind.

Aus dem Munde der großen alten Dame der Demokratischen Partei klingt diese Aussage, nun ja, doch etwas verstörend. Denn im logischen Umkehrschluss würde dies nämlich bedeuten, dass Wählengehen nur dann wirklich rational ist, wenn man als Bürger unzufrieden ist (willkommen in der Postdemokratie!). Beziehungsweise dass eine illiberale Luxemburger Staatsmacht ihre eigenen, zufriedenen Staatsbürger seit fast hundert Jahren zum Wählengehen zwingt, obschon sie eigentlich kein Bedürfnis dazu verspüren.

Mein Recht, dein Recht

Chauvinistische Luxemburger werfen ihren portugiesischen Putzfrauen, den Bauarbeitern und Supermarktkassiererinnen allzu gerne vor, über die Bestimmungen des Arbeits- und Sozialrechts besser Bescheid zu wissen als die Eingeborenen. Dass wir uns draußen in der Welt mit einem vorbildlichen Sozialsystem brüsten können … alles schön und gut. Doch mit der praktischen Inanspruchnahme und, falls nötig, gerichtlichen Durchsetzung seiner Rechte sollte es der Einzelne, zumal wenn er/sie hierzulande nur zu „Gast“ ist, bitte nicht übertreiben. Ansonsten wir das Risiko laufen, eingeübte paternalistische Rollenverteilungen über den Haufen zu werfen und damit, wenn’s hochkommt, den für die nationale Selbstdarstellung so wichtigen sozialen Frieden aufs Spiel zu setzen.

Warum also reagieren nur so wenige Nicht-Luxemburger auf die wohlgemeinten Sensibilisierungskampagnen von Regierung, Gemeinden, politischen Parteien und Ausländerorganisationen? Warum gehen sie nur zögerlich auf die Offerte ein, zu vollumfänglichen Mitgliedern der demokratischen Bürgergesellschaft in einer „offenen Stadt“, einem weltoffenen Land aufzusteigen? Hat schon mal jemand versucht, diese Fragen mit den Instrumenten seriöser Sozialwissenschaft anstelle der sattsam bekannten ideologischen Denkschemata zu beantworten? Nein? So erlaube man uns das empirische Herantasten an drei mögliche Erklärungsmuster.

1. Mitmachen und Mund halten

Ganz viele Nicht-Luxemburger im Land können sich nicht – bewusst oder unbewusst – von der Attitüde und dem Habitus des „Gastarbeiters“ emanzipieren. Das gilt in erster Linie für die wirtschaftlich weniger gutgestellten, patriarchalisch sozialisierten Südländer – aber nicht nur. Auch jene Gutverdienenden, in deren Herkunftsländern patriotische Gesinnung und monarchische/republikanische Rituale eine große Rolle spielen (Frankreich, Großbritannien, Schweiz, Skandinavien, USA …), halten sich in Sachen Wahlbeteiligung vornehm zurück, möchten sich nicht aufdrängen. Schließlich geht es in der Politik nicht zuvorderst um das Zelebrieren größtmöglicher Einigkeit und Harmonie, sondern um Meinungswettstreit, Mehrheitsfindung und Machtausübung. So gesehen ist es einleuchtend, wenn „Zugezogene“ es vermeiden wollen, bei den „Einheimischen“ den negativen Eindruck zu erwecken, sie wollten sich in deren ureigene Belange einmischen oder gar mitentscheiden.

Wer häufiger bei Freunden zur Grillparty eingeladen ist, kann diese Haltung nachvollziehen: Unverbindlicher Smalltalk ist der Garant für einen gelungenen Abend, keineswegs aber das ungezwungene Kommentieren von Partnerschafts-, Erziehungs- oder Geldproblemen des Gastgeberpaars. Auch dessen scheußliche Tapete im Wohnzimmer oder die obszönen Abgaswerte des neuen Autos bringt man lieber nicht zur Sprache.

Was also erwarten wir Luxemburger von „unseren“ Ausländern? Dass sie sich anpassen und integrieren, die Sprache lernen, fleißig und ehrlich sind, uns nicht kritisieren, sich dankbar zeigen. Das ist bei den Deutschen, Franzosen, Italienern, Spaniern, usw. usf. nicht anders: In Hamburg kritisiert man als Zugezogener nicht das sündige Treiben auf der Reeperbahn, in Paris nicht die Nachtbeleuchtung des Eiffelturms, in Rom nicht das Glockengeläut der Kirchen und in Madrid nicht den Stierkampf. Wer’s trotzdem tut, sich gar in der Lokalpolitik engagiert, um die Dinge zu verändern, soll sich, gelinde gesagt, warm anziehen. Autochthone begnügen sich mit weit weniger symbolträchtigen Provokationen, um ihre Trotzreaktion in den liebenswürdigen Satz zu kleiden: „Wem’s hier nicht passt, kann ja dorthin zurück, wo er herkommt.“ Auch im Großherzogtum erübrigt sich diesbezüglich die Probe aufs Exempel.

2. Der scheinheilige Rechtsstaat

„In Luxemburg gilt ausnahmslos die Herrschaft des Rechts.“1 Tut es das wirklich? Zumindest die Nicht-Luxemburger glauben es aufs Wort – und so lautet eine ihrer häufigsten, meist privat artikulierten Bemerkungen in puncto Einschreibung auf die Wählerlisten: „Ich möchte mir bis zum Wahltag offenhalten, ob ich wählen gehe oder nicht. Und falls nicht, will ich nicht auch noch dafür bestraft werden.“ In den allermeisten Herkunftsländern gibt es nämlich keinen Wahlzwang. Wählen wird als Recht empfunden, das man eigenverantwortlich, souverän und autonom wahrnimmt. Dass man in Luxemburg fürs Nichtwählen laut Gesetz mit einer Geldbuße von 100 bis 250 Euro sanktioniert wird, stößt etlichen sauer auf. Andere wollen schlicht kein Risiko eingehen, nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten, unangenehm auffallen, auf einer schwarzen Liste landen. So bleiben sie dem Ganzen vorsichtshalber von Anfang an fern.

Sollen die teuren Informationskampagnen, die farbigen Broschüren und Wohlfühl-Werbeclips ihren angepeilten Zweck tatsächlich erfüllen, müssten sie dem verunsicherten Zielpublikum als Erstes diese eine Frage beantworten: „Wie haltet Ihr, großherzogliche Behörden, es mit der strikten Anwendung des Wahlgesetzes?“ Allwo es dann heißen müsste: „Nein, liebe Leute, immer schön locker bleiben! In Luxemburg wird schon seit Jahrzehnten niemand mehr dafür bestraft, wenn er/sie, Wahlpflicht hin oder her, nicht im Stimmlokal erscheint.“

Dass der „Rechtsstaat“ sich eine solche, wenig schmeichelhafte Blöße ersparen will, ist verständlich. Genau genommen gäbe er damit ja explizit zu, dass er sich selbst nicht unbedingt ernst nimmt. Was also tun? Bestehende Gesetze anwenden? – Ein rechtsstaatliches Gebot. Wahlpflicht abschaffen? – Eine politische Entscheidung, bei der Pro und Contra abzuwägen sind. In Erwartung der Dinge grüßt erst mal die Schweigespirale!

3. Honoratioren statt Politik

Auf ihr Wahlsystem sind die Luxemburger besonders stolz. Es lässt ihnen alle Freiheiten, gibt ihnen die Möglichkeit, Kandidaten statt Parteien zu wählen, persönliche Vorzugsstimmen zu verteilen, parteiübergreifend Fleiß und Kompetenz zu belohnen. Es stellt hohe Ansprüche an den mündigen Bürger, gilt als Garant dafür, dass in allen Parlamenten immer nur die Besten sitzen. Dabei sind je nach Wahlgang und -ort bis zu zwei Dutzend und mehr Stimmen zu vergeben. Wer sein Wahlrecht also umfassend ausüben will – und welcher rechtschaffene Bürger will das nicht? –, muss gut aufpassen, darf sich nicht verzählen und nur ja kein Kreuzchen zu viel (oder auch zu wenig) auf das Bulletin malen.

Zugegeben, Außenstehende halten die Finessen luxemburgischer Wahlkunst und Wahlarithmetik für hochkompliziert. Viele sind es von Haus aus gewohnt, mit nur einer einzigen Stimme die Partei oder den Wahlkreiskandidaten ihres Vertrauens zu honorieren. Von Luxemburger Kollegen und Bekannten aber wissen sie, dass diese oft wochenlang auf fotokopierten Wahlzetteln üben, damit am Wahlsonntag in der Kabine alles glatt läuft.

Dazu ein paar Fragen nur: Wann, wo und wie werden die heiß umworbenen ausländischen Mitbürger in unser Wahlsystem, dessen Funktionsweise und innere Logik eingeweiht? Und wie gehen wir mit deren pointiertem Einwand um, dass jede panaschierte Stimme die politische Willensbekundung des Wählenden im Grunde relativiert, neutralisiert, schlimmstenfalls ad absurdum führt? Sind wir überhaupt bereit zuzuhören, wenn Nicht-Luxemburger uns auf mögliche Ungereimtheiten in unserem fast 100 Jahre alten Wahlkodex aufmerksam machen, der etablierte Honoratioren bevorzugt und vor allem ausländische Kandidaten ganz massiv benachteiligt und zu bloßen Listenfüllern degradiert?

Wer die wahrhaft offene Stadt will, muss hart daran arbeiten. Mit Plattitüden aus der Marketingklitsche ist es nicht getan. Viel eher bedarf es der Überwindung von allseitigem Unwissen, Herrschaftsdenken, Berührungsangst und Sprachlosigkeit.

1 João Nuno Pereira, Jochen Zenthöfer, Einführung in das luxemburgische Recht, München, C. H. Beck, 2017 (JuS-Schriftenreihe / Ausländisches Recht; Band 202), S. 2.

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