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Brexit: Mind the gap!
Die Bedeutung regionaler Disparitäten auf politische Weichenstellungen
Die Ergebnisse des Referendums am 23. Juni 2016 im Vereinigten Königreich (VK) sind ein Beweis dafür, dass regionale Disparitäten und der territoriale Zusammenhalt innerhalb eines Landes politisch relevante Faktoren darstellen.1
Das sogenannte „Brexit“- Referendum vom 23. Juni 2016 hat den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU entschieden. Theresa May, die Premierministerin des VK seit Ende Juni 2016, hat am 28. März 2017 die offizielle Austrittserklärung unterzeichnet. Seitdem laufen formell die Austrittsverhandlungen, die auf einen Zeitraum von zwei Jahren angesetzt sind.
Das VK ist durch große Unterschiede bezüglich der Lebens- und Arbeitsverhältnisse innerhalb der verschiedenen Regionen gekennzeichnet. Betrachtet man die Abstimmungsergebnisse der unterschiedlichen Länder und Regionen, fallen einem diese regionalen Disparitäten ins Auge. In der aktuellen Debatte und in den zukünftigen Verhandlungen werden diese Disparitäten noch eine wichtige Rolle spielen.
Die Verbindungen neu herstellen
Als Mitglied der EU hat das VK vor allem die wirtschaftliche Integration gefördert, statt eine tiefere politische Integration zu unterstützen. Das VK ist 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten, zusammen mit Irland und Dänemark. Im Zuge der weiteren europäischen Integration hat sich das VK allerdings nicht überall beteiligt. Das VK ist nicht Mitglied der Eurozone und beteiligt sich ebenso nicht am Schengener Abkommen, daher finden systematische Grenzkontrollen statt. Trotzdem sind wirtschaftliche Verflechtungen zwischen dem VK und der EU sehr wichtig. Das VK ist die zweitgrößte Marktwirtschaft in der EU und erwirtschaftet 17% des BIPs in der EU (2015). 45% aller Ausfuhren aus dem VK gehen in EU-Staaten; 4% der EU-27-Waren werden in das VK exportiert (2015).2 Die britische Regierung ist ein Verfechter einer liberalen Marktwirtschaft. Das VK hat den gemeinsamen Binnenmarkt stark gefördert, da dieser einen Zugang zu 500 Millionen Verbrauchern ermöglicht.
Durch London stellt die britische Wirtschaft einen Knotenpunkt zwischen dem EU-Markt und den Märkten in Nordamerika und Asien dar. London ist das wichtigste Finanzzentrum in Europa: Der weltweite Anteil an Devisenumsätzen liegt bei 41%.3 In 2015 erwirtschaftet der Finanzsektor 12% des Steuereinkommens im VK und bietet über 1,4 Mio. Jobs.4
Die Verhandlungen über die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen mit der EU müssen neue Regeln der Zusammenarbeit festlegen. Davon werden manche entscheidende Auswirkungen auf die regionalen Disparitäten innerhalb des VKs haben. Der zukünftige Status der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland, sowie der Grenzstatus zwischen Gibraltar und Spanien, sind die eindrucksvollsten Beispiele von Regionen mit starker funktionaler, historischer und kultureller Abhängigkeit mit anderen EU-Regionen. Dadurch könnte der Austritt aus dem gemeinsamen Binnenmarkt das Gleichgewicht dieser Regionen stark beeinträchtigen und die regionalen Disparitäten weiter vergrößern.
Zooming-in: die territoriale Vielfalt und die Ergebnisse des Referendums
In Schottland wurde mehrheitlich gegen Brexit gestimmt: 62% haben sich für den Verbleib in der EU ausgesprochen.5 Das Referendum hat in Schottland die Separatismusbewegung gestärkt und Nicola Sturgeon, die Erste Ministerin Schottlands, hat bereits ein zweites Unabhängigkeitsreferendum angekündigt.
In Nordirland haben sich 55,8% der Bevölkerung für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Für Nordirland ist die Grenze zu der Republik Irland entscheidend. Die offene Grenze seit 1993 hat einen grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt gefördert und zu einer positiven Wirtschaftsentwicklung geführt. Nach dem EU-Austritt wird die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland allerdings eine EU-Außengrenze darstellen.
Ein besonderer Fall stellt Gibraltar dar. Die Halbinsel ist ein britisches Überseeterritorium angrenzend an Spanien. 96% der Wahlberechtigten haben sich hier für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Der Disput zwischen Spanien und dem Vereinigten Königreich könnte sich weiter ausweiten zum Leidwesen der Bevölkerung von Gibraltar. Das Europäische Parlament hat Spanien bei den Verhandlungen bereits ein Veto-Recht zugesichert. Eine geschlossene Grenze wird aber auch nicht im Interesse Spaniens sein, da besonders die andalusische Bevölkerung von dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt profitiert.
In Wales und England hat sich die Bevölkerung mehrheitlich für einen Brexit ausgesprochen, allerdings lohnt sich hier eine genauere Betrachtungsweise. In Wales hat 52,5% der Bevölkerung für den Brexit gestimmt. Derzeit besteht aber eine gewisse Unsicherheit, da Wales besonders von EU-Fördergeldern profitiert hat und auch die Gefahr besteht, dass die wichtigsten Wirtschaftszweige von Wales (Fertigungsindustrie und Landwirtschaft) besonders von dem EU-Austritt betroffen sein werden.
Zu guter Letzt betrachten wir England: 53% derBevölkerung haben sich für einen Brexit ausgesprochen. Jedoch zeigen die verschiedenen Wahlkreise sehr unterschiedliche Abstimmungsergebnisse: In London war die EU-Unterstützung am größten (die Region „Inner London“: 72% für EU), gefolgt von wirtschaftlich und akademisch erfolgreichen Städten wie Bristol, Cambridge und Oxford. In ländlichen Regionen oder in anderen Städten, die in den letzten Jahren einen wirtschaftlichen Abstieg erfahren haben, wurde mehrheitlich für den Brexit gestimmt.
In England und Wales spiegelt das Abstimmungsverhalten die wirtschaftliche und soziale Situation wider. Analysen zeigen, dass sich in Regionen mit einem niedrigen Bruttoinlandsprodukt, einem durchschnittlich schlechten Bildungsniveau und einem hohen Anteil an älteren Menschen (über 65 Jahre) die Bevölkerung mehrheitlich für einen Brexit entschieden hat. Dagegen ist die Arbeitslosenrate weniger entscheidend gewesen.6 Die Mehrheit in Schottland und Nordirland hat sich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen, obwohl das BIP nicht so stark ist. Dies kann durch die politischen Besonderheiten begründet werden, da die eigenen nationalen Interessen eine Rolle spielen.
Das Referendum über den EU-Austritt im VK hat die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Länder hervorgehoben und es besteht die Gefahr, dass die Gräben immer tiefer werden. Besonders Schottland und Nordirland fühlen sich von der Regierung in London nicht genügend beachtet.
Was kommt nach der EU-Regionalpolitik?
Großbritannien ist das Land in der EU mit der höchsten wirtschaftlichen Ungleichheit. Dies wird statistisch durch die City of London beeinflusst, deren BIP pro Kopf mehr als dreimal so hoch ist wie der Durchschnittswert des VKs (2015)7. Andererseits weisen Regionen im Südwesten Englands und im westlichen Teil von Wales Entwicklungsrückstände auf. Industrieregionen, die zur Zeit der Industriellen Revolution zum wirtschaftlichen Wohlstand beigetragen haben, sind heute durch eine stagnierende Wirtschaftslage gekennzeichnet (z.B. Sheffield und die Grafschaften Lincolnshire, Yorkshire). Andere Regionen sind durch ihre periphere Lage beeinträchtigt (z.B. Südwestengland und Nordschottland).
Die EU hat sich territoriale Kohäsion als Ziel gesetzt. Dieses Ziel wird vor allem durch die Regionalpolitik (sog. Strukturfonds) umgesetzt. Die Wettbewerbsfähigkeit wird gefördert und schwächeren Regionen wird die Möglichkeit gegeben, Entwicklungsrückstände aufzuholen. Der Förderbetrag für den Förderzeitraum 2014-2020 beträgt insgesamt 351,8 Milliarden Euro (ca. 33% des Gesamthaushalts der EU). Dem VK stehen 11,8 Milliarden Euro zu (3,1%). Insbesondere die wirtschaftlich schwächsten NUTS 2 Regionen – Cornwall & Scilly Inseln und West Wales & the Valleys – erhalten eine finanzielle Unterstützung der EU. Ihr BIP beträgt unter 75 % des EU-Durchschnitts.8 Für die Regionen, die nach einem Brexit nicht mehr von den Europäischen Strukturfonds profitieren werden, ist eine neue Regionalförderpolitik der britischen Regierung unabdingbar. Dies wird besonders entscheidend sein für Wales, Nordirland, sowie für den nordöstlichen und südwestlichen Teil Englands, denn die Strukturfonds stellen einen wichtigen Bestandteil der regionalen und lokalen Entwicklungsstrategien der jeweiligen Länder und Regionen dar.9
Ebenso wichtig ist die territoriale Zusammenarbeit mit anderen EU-Staaten und Regionen, die durch INTERREG unterstützt wird (besonders für Nord-
irland und Südengland). Im transnationalen Bereich beteiligt sich das VK an mehreren Programmen (u.a. Nordsee, Atlantikraum und Nordwesteuropa). Weitere EU-Instrumente unterstützen die territoriale Entwicklung, z.B. in der Agrarpolitik: 55% des Einkommens in der Landwirtschaft kommen im VK von EU-Agrarfördermittel.10 In den Bereichen Wissenschaft und Innovation profitieren besonders die Universitäten: 9,7% des gesamten Budgets für Forschung wurden im Zeitraum 2013/2014 durch EU-Fördergelder finanziert.11
In der aktuellen Brexit-Debatte äußern sich Repräsentanten von Kommunen und Städten, dass sie zu wenig beachtet werden, obwohl auf lokaler und regionaler Ebene viel auf dem Spiel steht. Die frühere starke kohärente Regionalpolitik im VK ist seit 2010 durch Reformen aufgebrochen worden. Viele Institutionen auf regionaler Ebene wurden in den letzten Jahren geschlossen. Stattdessen wurden Initiativen auf lokaler Ebene gegründet wie Local Enterprise Partnerships. Ein institutionalisierter Rahmen dafür ist nicht klar definiert. Diese Situation steht im Widerspruch zu der europäischen Regionalpolitik, die bisher die unterschiedlichen Regierungsebenen miteinbezogen hat.
In diesem Umfeld könnte ein EU-Austritt eine Chance sein, um eine neue, kohärente Regionalentwicklungsstrategie zu entwerfen. Allerdings besteht die Gefahr eines zwischenzeitlichen finanziellen und politischen Vakuums. Ohne die EU-Fördergelder könnte die territoriale Ungleichheit innerhalb des Landes noch weiter wachsen.
Der Brexit und Luxemburg
Der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs bedeutet für Luxemburg den Verlust eines liberalen Befürworters innerhalb der EU. Besonders im Dienstleistungssektor vertreten beide Länder ähnliche Interessen. Falls das VK aus dem Binnenmarkt austreten sollte, könnte die Attraktivität von Luxemburg für internationale Konzerne steigen. Wirtschaftsexperten vermuten, dass der Finanzmarkt in Luxemburg von einem Brexit profitieren könnte. Standortverlagerungen nach Luxemburg sind möglich. Für solch eine Verlagerung möchte Luxemburg aber nicht zu offensiv werben und abwarten, wie sich die Verhandlungen weiter entwickeln werden. Dennoch wurde eine Taskforce eingerichtet, die von der Agentur Luxembourg for Finance gegründet wurde. Solche Standortverlegungen nach Luxemburg bedeuten aber auch, dass Luxemburg mit einem weiteren Bevölkerungszuwachs rechnen müsste. Die Immobilienpreise werden weiter steigen und die Infrastruktur muss ebenso angepasst werden. Daher braucht auch Luxemburg eine Regionalentwicklungsstrategie, die solche Szenarien miteinbezieht.
Die Ergebnisse des Referendums am 23. Juni 2016 machen deutlich, dass regionale Disparitäten und der territoriale Zusammenhalt innerhalb eines Landes politisch relevante Faktoren darstellen. Eine europäische Regionalpolitik sollte weiterhin eine wirtschaftliche Aufholung unterstützen, dies aber mit Projekten, die sich gezielt an die jeweiligen Bedingungen in den einzelnen Regionen richten. Gerade in schwachen oder in ländlichen Regionen besteht offensichtlich die Gefahr, dass der direkte Bezug zur EU fehlt und „Brüssel“ als Sündenbock für innenpolitisch begründete Schwierigkeiten gemacht wird.
1 Diese Publikation ist entstanden im Rahmen der Aktivitäten des ESPON Contact Point Luxemburg. Eine längere Fassung ist unter espon.lu zu finden.
2 Holger Schmieding, „Brexit: Das Risko des Jahres“, ifo Schnell- dienst, Oktober 2016.
3 TheCityUK, A practioner’s guide to Brexit, März 2016.
4 Franz Peter Lang, „Der Brexit: Rückschritt für Europa in der Welt, den die EU verkraften kann“, ifo Schnelldienst, Oktober 2016.
5 Die Wahlergebnisse sind entnommen aus: BBC. EU Referendum Results, www.bbc.com/news/politics/eu_referendum/results
6 Agust Arnorsson, Gyfli Zoega, „On the Causes of Brexit“, in: Birbeck Working Papers in Economics & Finance, 2016.
7 Jayne Woolford, What a difference a decade can make: cohesion policy and Brexit, 6. Mai 2016.
8 European Commission, Cohesion Policy and the United Kingdom, Oktober 2014.
9 John Bachtler, What future for UK regional develop- ment after Brexit?, Januar 2017, http://ukandeu.ac.uk/ what-future-for-uk-regional-development-after-brexit/
10 „Many British farms not viable without EU support“, says NFU“ in: Financial Times, 18. April 2016.
11 The Royal Society, UK Research and the European Union. The role of the EU in funding UK research, S. 19.
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