Buchtipps zum Dossier-Thema
Bitte tu was!
Was tun Kinder im Internet? Auf welchen Seiten turnen sie herum? Wissen die Erwachsenen, was da läuft? Nein. Sollten sie es wissen? Ja! Denn nicht alles, was nach digitalem Spaß aussieht, ist es auch. Viele Kinder machen leidvolle Erfahrungen und verzweifeln. Ihre Spielplätze sind digital, die Freunde unechte Avatare, ihre Abenteuer: krankmachende Computerspiele. Die Erwachsenen um sie herum sind entweder nicht Teil dieser Welten oder ebenso deren Opfer. Sie verstehen zu oft die digitalen Strukturen selbst nicht und verlieren ihre Kinder aus den Augen. Mit katastrophalen Folgen.
Gabriela Rapp ist Expertin für Cybersicherheit und Feldaktivistin. Sie weiß, wovon sie spricht. Das kommt auf jeder Seite dieses schonungslosen Buches deutlichst zum Ausdruck, das die Erfahrungen zweier Jahrzehnte engagierten Arbeitens mit von Cyberkriminalität betroffenen Kindern und Jugendlichen, Eltern, Beamten und Ministerien zusammenfasst. Trotz des zu Tage getretenen Horrors blieb die Autorin stets optimistisch und glaubt fest daran, dass entschiedenes Eingreifen noch etwas zum Guten hin ändern kann. Das ist ihre Botschaft. Und der Titel ist Programm: Hilfloses Achselzucken ist nicht die Antwort, die man nach der Lektüre der 240 mit Infos und Ratschlägen prall gefüllten Seiten noch ruhigen Gewissens geben kann.
Welchen massiven Angriffen junge Menschen im Internet ausgesetzt sind, was Snapchat, Instagram, TikTok, Call of Duty, God of War & Co unseren Kindern – vor aller Augen und gleichzeitig im toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung – antun, wissen immer noch zu wenige. Die digitalen Kriminellen entwickeln immer infamere Methoden, um unsere Kinder körperlich, geistig und seelisch gefangen zu nehmen. Die Technik ist digital, das Leiden der Kinder real.
Die Dokumentation klärt auf, indem sie nahezu alle Qualen verursachenden Internet-Strukturen aufzählt und ihre Wirkung auf Kinder und Jugendliche erklärt. Die ungeheure Vielzahl der beschriebenen Kinder-Schicksale legt offen, dass es sich eben nicht um vereinzelte Unglücksfälle handelt, bei denen sich mal ein Kind im Netz verirrt. Rapp beweist, dass es sich um gezielt süchtig machende, zerstörerische Strukturen handelt, deren Kicks Kinder hinterherrennen (müssen). Sie benennt die biologischen und psychischen Schäden, die ein zu früher, intensiver und ungeschützter Zugang bei Kindern anrichtet, und integriert dabei die neuesten Erkenntnisse der Gehirnforschung sowie aktuelle Studien aus verschiedenen Disziplinen.
Nach der Aufklärung folgen Vorschläge, was wir tun können, um unsere Erziehungs- und Schutzfunktionen gegenüber Kindern auch in den digitalen Welten wirksam ausüben zu können. Das Buch gibt Handlungsanleitungen für Eltern, deren Kinder schon zu weit ins Netz vorgedrungen sind, aber auch für Familien und Menschen, die mit ihren Kindern sicheres Verhalten im digitalen Verkehr trainieren wollen.
Das Buch ist keine leichte Kost, will es auch gar nicht sein. Es ist ein Weckruf und bietet konkrete Konzepte, wie wir unsere Kinder besser schützen und vorbereiten können, wenn sie sich gesund, munter und sicher in den virtuellen Welten bewegen sollen. Ein Muss.
Gabriela Rapp, Bitte tu was! (Cyber) Porno Sex Gewalt Drogen Sucht Mobbing Ritzen & Co., Independently published, Luxemburg, 2021, 244 S., € 18,-
PS
Hello World
For many people, Cathy O’Neil’s Weapons of Math Destruction (2016) was a wake-up call to the dangers of big data algorithms and the ways in which they reinforce bias and exacerbate inequality. Whilst O’Neil illustrates these risks persuasively, though, the solutions she offers are less compelling. Indeed, her book acts more as a warning than a considered examination of the pros and cons of the age of the machine.
This is where Hannah Fry comes in. In Hello World – the title alludes to the first phrase people learn to programme the computer to display on the screen –, Fry acknowledges both the poison and the potential of algorithms, thoughtfully weighing up the options with characteristic wit and humour.
A professor of mathematics by day and seasoned podcaster and TED Talks speaker by night, Fry is adept at breaking things down in approachable and entertaining fashion. Making masterful use of anecdotes, she manages to draw even the most technologically averse into the charged discourse surrounding AI and successfully highlights our simultaneous distrust in machine learning and unthinking acceptance of algorithmically produced results.
Throughout the book, Fry makes a point of placing the responsibility for AI firmly back into our hands, covering areas like justice, crime, medicine and transport. For example, what happens when a pilot who has only ever flown a plane with the help of the autopilot has to take over when the system fails? The tragic result: the plane crashes, killing all 228 souls on board. Automated systems are all very well, but they also cause us to lose the skills necessary to do the job ourselves and leave us in a tight spot when there’s a glitch in the system.
With chilling examples like the Air France flight 447, Fry illustrates how high the stakes are here, whilst also considering the alternative – not leveraging the powers of technology at all, which she argues would ultimately be self-defeating. At best, humans and machines should work together, compensating for each other’s weaknesses and blind spots to ensure that fewer people are diagnosed incorrectly, arrested when innocent, denied parole or die in self-driving cars.
Where her arguments are less convincing is when Fry strays into the realm of art and attempts to tackle the thorny issue of what art really is. Ending on a rather sentimental note, she concludes that “true art” lies beyond the influence of algorithms, making for a rather disappointing final chapter.
For people new to the issues at hand, this is nevertheless a highly digestible, smart and entertaining take on algorithms, AI and big data, showing how, really, the age of the machine forces us to think deeply about what it is to be human – and to take a long, hard look at ourselves in the mirror.
Hannah Fry, Hello World: How to be Human in the Age of the Machine, London, Black Swan, 2019, 320 S., € 11,-
KT
Morgen werde ich Idiot
Steuerung durch Selbststeuerung. Das ist das Thema eines schmalen Buches des Hamburger Künstlers und Autors Hans-Christian Dany, der hier eine prägnante, hochintelligente und literarisch anspruchsvolle Analyse des digitalen Überwachungskapitalismus liefert. Dany beschreibt die Entstehung einer alptraumhaften Welt aus dem Geist der Kybernetik, in der sich der Kapitalismus aus der Selbstoptimierung der Individuen nährt und der einzelne durch ständige Feedbacks zum Erhalt und Gleichgewicht des Systems (der Homöostase) beiträgt. „In einer durchsichtigen Umgebung glauben alle, sie würden gesehen“ – und sie passen sich ohne weiteren äußeren Zwang an. Selbstregulierung in vorgeblich nicht hierarchischen Beziehungen (in Familie, Schule und Unternehmen) ersetzen so die Disziplinarmaßnahmen der Vergangenheit. Was früher der Zwang der weitgehend autoritär organisierten Familien-, Dorf- oder Stadtgemeinschaft erreichte, leistet heute die sanfte Kontrolle der digitalen Medien, denen wir unsere Persönlichkeitsstrukturen restlos ausliefern. Das Sinnbild für diese umfassende Kontrollleistung ist für Hans-Christian Dany (wie schon für Michel Foucault) das Panoptikum des englischen Philosophen Jeremy Bentham – ein Gefängnis, das so angeordnet ist, dass die Insassen sich jederzeit vom Wärter im Zentrum des Gebäudes beobachtet fühlen müssen. Nur dass wir heute im digitalen Spinnennetz beide Funktionen gleichzeitig ausfüllen: Wärter und Insasse in einem. Und selbst jene, die glauben, Widerstand zu leisten (etwa Künstler*innen, Protestierende oder am Rande der Gesellschaft Stehende), senden Signale, die sich produktiv ins System einspeisen lassen.
Denen, die sich dem verweigern oder gar Sand ins Getriebe streuen wollen, bietet Hans-Christian Dany Boykott und digitale Abstinenz als subversive Haltung an. So würde die Maschine überlistet und eine Gemeinschaft von Idioten entstehen, die Feedback verweigert. Diese Idioten sind dann gerade nicht als „Gebrauchsidioten“ zu verstehen, sondern als solche, „die wirklich nicht zu gebrauchen sind.“ Eigentlich selber ein Adept dieser Methode und ohne Twitter-, Facebook- und LinkedIn-Account habe ich mittlerweile Zweifel, ob dieser Weg noch zielführend ist. Denn auch die Stille, die Verweigerung, ist ein Signal, das die Datensammler*innen sehr wohl verstehen.
Hans-Christian Dany, Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Nautilus-Flugschrift, Hamburg, 2013, 128 S., € 12,-
JST
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