Bürgerräte und Bürgerversammlungen
Eine Antwort auf das Demokratiedefizit in Luxemburg?
Im Koalitionsprogramm von 2018 findet sich eine denkwürdige Passage, die indirekt Bezug nimmt auf die außergewöhnliche innenpolitische Situation des Landes: „La participation citoyenne sera encouragée pour permettre la participation de toutes les composantes de notre société au projet national et pour renforcer la lutte contre le déficit démocratique.“ Hinter dem Vorsatz „alle“ Teile der Gesellschaft politisch einbeziehen zu wollen, steht die Feststellung, dass eine Hälfte der luxemburgischen Bevölkerung nicht über die Staatsbürgerschaft verfügt und nahezu die Hälfte der aktiven Bevölkerung ihren Wohnsitz im Ausland hat. Grob gerechnet, wird so zwei Drittel der BürgerInnen, die zu unserem Gemeinwesen gehören und zu ihm beitragen und die von den nationalpolitischen Entscheidungen betroffen sind, die Möglichkeit versagt, über eine Stimmabgabe politischen Einfluss zu nehmen. In diesem Missverhältnis zwischen Anzahl der WählerInnen und der Gesamtzahl der Menschen besteht das spezifische luxemburgische Demokratiedefizit. Nach dem gescheiterten Referendum von 2015, als sich rund 80 % der Wahlberechtigten gegen eine Ausweitung des Wahlrechts aussprachen, kann dieses Problem auch nicht mehr über eine Reform des Wahlgesetzes gelöst werden.
Das Referendumsdebakel von 2015 erklärt sicherlich zum Teil, warum das Thema Bürgerbeteiligung in den letzten Jahren in Luxemburg eine solche Bedeutung entwickeln konnte und bei kaum einem nationalpolitischen Anliegen fehlen durfte. Eine wirkliche Reflexion oder sogar eine nationale Strategie im Hinblick darauf, was Bürgerbeteiligung sein und leisten kann und wie sie ausgestaltet sein sollte, hat es jedoch nicht gegeben. Jede Verwaltung und jedes Ministerium, auch jede Kommune beteiligt die BürgerInnen ein bisschen nach Gutdünken und entwickelt Konzepte und Kriterien von Fall zu Fall. Deutlich wurde nur, dass die Instrumente der direkten Demokratie keine große Zustimmung mehr erfahren und stattdessen deliberative, dialogische Beteiligungsformate an Bedeutung gewinnen.
Direkte Demokratie …
Auch wenn einige Sternstunden der luxemburgischen Geschichte auf eine direkte Intervention des Volkssouveräns zurückgehen (etwa 1919 die Bestätigung der Monarchie oder 1937 die Ablehnung des „Maulkorbgesetzes“), haben Volksbefragungen bei uns spätestens seit dem Brexit keine gute Presse mehr. Die Referenden von 2005 (zum europäischen Verfassungsvertrag) und von 2015 (zur Reform des Wahlrechts) haben die Lust der Parteien an einer direkten Einbindung der BürgerInnen in den politischen Prozess gedämpft. Selbst bei der anstehenden großen Verfassungsreform setzen die großen Parteien trotz gegenteiliger Ankündigungen in den Wahlprogrammen nicht mehr auf eine direkte Zustimmung der Bevölkerung. Die Angst ist zu groß, dass der mühsam erarbeitete Kompromiss aus den unterschiedlichsten Motiven heraus von einzelnen Interessengruppen zerpflückt und dann womöglich von einer Mehrheit der WählerInnen aus völlig gegensätzlichen Gründen verworfen wird.
Volksabstimmungen, als klassische Instrumente der direkten Demokratie, haben den großen Nachteil, komplexe Probleme auf eine Ja/Nein-Alternative zu reduzieren und das Wahlvolk in zwei Lager zu spalten. Diese Zuspitzung schafft zwar eine für den politischen Betrieb attraktive Dramatisierung, sie ist aber den heutigen politischen Problemen in keiner Weise angepasst, die sich – man denke etwa an die Maßnahmen gegen den Klimawandel – nicht auf einfache Positionen reduzieren lassen. Das ausgeweitete Petitionsrecht wird oft als Ersatz ins Fenster gestellt (https://www.petitiounen.lu). Tatsächlich belegen die Anzahl und die Vielfältigkeit der Petitionsanträge eher das hohe Interesse der luxemburgischen BürgerInnen an einer Teilnahme an der politischen Debatte als die Sinnhaftigkeit dieses Instrumentes, dessen praktische Ausgestaltung immer wieder zu Frustrationen führt.
… versus dialogische Bürgerbeteiligung
Einen anderen Weg gehen dialogische, deliberative Beteiligungsformate. In der einfachsten und häufigsten Ausführung wird hier das Publikum eingeladen, sich bei einem Diskussionsabend, einem Workshop oder einer Bürgerversammlung zu einem bestimmten Thema zu äußern, woraufhin sich meistens die direkt Betroffenen, die Engagierten oder die beruflich Involvierten einfinden und entsprechend ihrer Agendas Input geben. Am Auftraggeber, der Verwaltung, die eingeladen hat, ist es dann, aus der Vielzahl der Vorschläge und Forderungen diejenigen auszuwählen, die ihr sinnvoll erscheinen und ins eigene Konzept passen. Auch wenn diese Versammlungen in der Regel öffentlich sind, ist es meistens so, dass hier aufgrund der Art und Weise, wie die Einladungen verschickt und formuliert sind, die üblichen Verdächtigen unter sich sind, und man ehrlicherweise besser von Stakeholder-Treffen sprechen sollte als von Bürgerbeteiligung.
Einen radikalen Schritt weiter gehen Bürgerräte oder Bürgerversammlungen, deren Mitglieder nach dem Zufallsprinzip ausgewählt sind. Die Menschen, die hier zusammenkommen, sind keine Betroffenen und haben als Nicht-ExpertInnen im Prinzip auch keine festen Meinungen zu den behandelten Themen. Ihre Aufgabe ist es, aus einer unabhängigen Position heraus Empfehlungen auszuarbeiten, die von Parlament, Parteien, Regierung oder Gemeinderat aufgegriffen werden können. Um die TeilnehmerInnen zu befähigen, erhalten sie in einer ersten Phase Informationen und Expertenwissen, um ein Verständnis für die behandelte Problematik zu entwickeln. Erst danach werden in einem „deliberativen“ Prozess – also im Rahmen von Diskussionen und Arbeitssitzungen mit Feedback von ExpertInnen – die Vorschläge ausgearbeitet.
Das eigentliche Ziel dieser Vorgehensweise ist es, auch solche Menschen in den politischen Prozess zu integrieren, die normalerweise ungehört bleiben. Bei uns in Luxemburg würde man dabei an erster Stelle an Nicht-LuxemburgerInnen oder nicht-ansässige ArbeitnehmerInnen denken, aber gemeint sind auch junge Menschen, Menschen ohne hohen Bildungsabschluss, Menschen mit einem geringen Einkommen und all jene, die im öffentlichen Diskurs in der Regel keine Stimme haben. Es entstehen auf diese Weise sehr „bunte“ Versammlungen, die die Diversität einer Gesellschaft tatsächlich ein gutes Stück besser widerspiegeln als ein gewähltes Parlament.
Eine losbasierte Versammlung kann zu Schlüssen kommen, die den einen oder anderen blinden Fleck überwinden, den gewählte RepräsentantInnen sich womöglich im Laufe ihrer politischen Karriere angeeignet haben. Und sie ist in der Regel weniger beeinflusst von den vorgestanzten Argumenten, mit denen die verschiedenen Interessengruppen auf die Arbeit im Parlament Einfluss nehmen.
Hatte die Gruppe genügend Zeit, um die Informationen zu einem Thema zu sichten und dann zu verdauen, kann sie vergleichbar mit einer Jury zu einem abgewogenen Ergebnis kommen, das im nobelsten Sinne des Wortes dem Gemeinwohl entspricht. Durch diese ausdrückliche Ausrichtung auf das Gemeinwohl bieten sich Bürgerräte und Bürgerversammlungen auch sehr gut an für Fragestellungen, die im politischen Spiel unbeantwortet oder aufgeschoben werden, weil keine politische Kraft sich die Finger verbrennen möchte – in Irland war das vor ein paar Jahren die Frage der Abtreibung, in Luxemburg könnte das die Reform des Rentensystems sein, und weltweit suchen Gesellschaften über den Weg von Bürgerversammlungen Lösungen auf die Frage, mit welchen Einschränkungen unseres Lebensstils auf den Klimawandel zu reagieren ist.
Modellregion Ostbelgien
Um zu überprüfen, inwieweit Bürgerräte einen Gewinn für die Demokratie darstellen, muss man nicht weit in die Ferne schauen: In Eupen, am Verwaltungssitz der etwa 80.000 EinwohnerInnen zählenden deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, lässt sich seit drei Jahren beobachten, wie eine „permanente, deliberative Bürgerbeteiligung“ aussehen kann. Das Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft hatte nach einem ersten, erfolgreichen Pilotprojekt Anfang 2019 einstimmig beschlossen, ein strukturiertes Modell der Bürgerbeteiligung einzuführen, das mittlerweile schon seinen dritten Konsultationsprozess durchführt.
Das ostbelgische Modell besteht aus einem „Bürgerrat“, der zu behandelnde Themen festlegt und die Umsetzung begleitet, einer „Bürgerversammlung“, die die Empfehlungen zu dem jeweiligen Thema erarbeitet, und einem am Parlament angesiedelten, ständigen Sekretariat, das die Arbeit unterstützt.
Der Bürgerrat leitet den Prozess, er sucht die Themen aus, unterstützt die eigentliche Bürgerversammlung, erstattet Bericht über die Umsetzung der Empfehlungen und beaufsichtigt die Arbeiten des Sekretariats. Dieses Kontroll- und Leitungsorgan besteht aus TeilnehmerInnen der vorherigen Bürgerversammlungen, die sich freiwillig dazu melden können und per Los ausgewählt werden. Die Mandatszeit im Bürgerrat ist zurzeit auf 18 Monate begrenzt, alle sechs Monate wird ein Drittel der Mitglieder ersetzt.
Für jedes Thema wird eine eigene Bürgerversammlung einberufen, die sich aus 25 bis 50 BürgerInnen zusammensetzt. Rund 1.000 Personen aus den Melderegistern der Kommunen der deutschsprachigen Gemeinschaft werden dazu nach dem Zufallsprinzip angeschrieben. Aus dem Kreis derjenigen, die positiv auf diese Einladung reagieren, wird eine kleine Gruppe ausgesucht, die bestmöglich die Diversität der Gesellschaft widerspiegelt: Kriterien sind Geschlecht, Alter, Herkunft und weitere sozio-ökonomische Parameter. Die Bürgerversammlung entscheidet selber auf der Grundlage eines Vorschlags des Sekretariats, wie oft sie sich zu einem Thema trifft und welche ExpertInnen sie einlädt.
Ein strukturierter Dialog mit der Politik
Liegen die Empfehlungen einer Bürgerversammlung vor, werden sie mindestens dreimal mit den politischen EntscheidungsträgerInnen diskutiert. In einem ersten Schritt werden die Empfehlungen dem zuständigen Parlamentsausschuss vorgelegt und mit diesem diskutiert. Der Ausschuss arbeitet in den Monaten danach in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Ministerium eine Stellungnahme aus, um darzulegen, inwieweit die Empfehlungen umgesetzt werden sollen. Der Ausschuss muss begründen, wenn er eine Empfehlung nicht zurückbehalten möchte. Diese Stellungnahme wird mit den Mitgliedern der Bürgerversammlung dann in einem zweiten Treffen diskutiert. Innerhalb eines Jahres muss eine dritte öffentliche Sitzung des Parlamentsausschusses einberufen werden, bei der die Bürgerversammlung über den Stand der Umsetzung informiert wird. Weitere Sitzungen können anberaumt werden, um die Umsetzung der Empfehlungen noch weiter zu verfolgen. Die Sitzungen sind öffentlich und über Video auf der Internetseite des Parlaments zugänglich.
Nach drei Jahren Existenz hat der Bürgerdialog in Ostbelgien eine erste Bürgerversammlung abgeschlossen (zum Thema Pflegedienste), bei einer zweiten sind die Empfehlungen in der Umsetzungsphase (zum Thema Inklusive Bildung), und eine dritte hat gerade ihre Empfehlungen übermittelt (zum Thema Wohnraum). Nähere Informationen finden sich unter der Adresse: www.buergerdialog.be. Nach Einschätzung des Sekretariats, des ehemaligen Parlamentspräsidenten, der das Modell mitinitiiert hat, einem Wissenschaftler, der das Projekt begleitet und einem der externen Moderatoren, die alle für diesen Artikel befragt wurden, lässt sich eine erste positive Zwischenbilanz ziehen: Die überparteiliche Unterstützung im Parlament hat nicht nachgelassen; von den Teilnehmenden kommt eine überwiegend positive Resonanz; die Öffentlichkeit beginnt, das Modell als Möglichkeit wahrzunehmen, sich aktiv in den politischen Prozess einzubringen; und die konkreten Ergebnisse – d. h. die Qualität der Empfehlungen – sind so, dass sie von der Politik und den Verwaltungen als tatsächliche Bereicherung angesehen werden. Im Juli wird eine erste wissenschaftliche Evaluation publiziert, auf deren Grundlage möglicherweise kleinere Anpassungen am Konzept vorgenommen werden. Im Rahmen dieses Artikels ergibt es wenig Sinn, auf weitere Einzelheiten einzugehen, die jedoch für ähnlich gelagerte Inititaitiven in Luxemburg sehr inspirierend sein können. Die Zeitschrift forum wird stattdessen versuchen, für Anfang Herbst eine Veranstaltung mit Beteiligten aus Eupen zu organisieren.
Erste Schritte in Luxemburg
Luxemburg ist zurzeit noch in einer Experimentierphase. Nachdem im Jahre 2021 das Energie- und Landesplanungsministerium mit dem Biergerkommitee Lëtzebuerg 2050 Erfahrungen gesammelt hatte, organisiert zurzeit das Staatsministerium in Zusammenarbeit mit dem Umwelt- und dem Energieministerium einen Klima-Biergerrot. Beide Initiativen haben sich von Beispielen aus dem Ausland inspirieren lassen, haben aber zusätzlich noch Antworten auf die besonderen Herausforderungen der Covid-Zeit und der Mehrsprachigkeit Luxemburgs entwickeln müssen, und sie hatten die Besonderheit, dass nicht nur Gebietsanssässige, sondern auch GrenzgängerInnen vertreten waren.
Das Biergerkommitee bestand aus anfänglich 30 Mitgliedern, die von TNS-Ilres rekrutiert worden waren (davon 5 GrenzgängerInnen). Sie arbeiteten über ein Jahr hinweg parallel zur landesplanerischen Konsultation Luxembourg in Transition Empfehlungen aus, wie sich das Territorium Luxemburgs bis 2050 in Richtung Klimaneutralität entwickeln kann. In einer ersten Phase wurden mehr als ein Dutzend digitale und öffentliche Konferenzabende für die Gruppe organisiert, bei denen rund 25 ExpertInnen zu Wort kamen. In der zweiten Phase arbeitete die Gruppe in einem iterativen Prozess Empfehlungen aus, die sie Anfang 2021 vorstellten (siehe www.luxembourgintransition.lu/biergerkommitee). Der Gruppe gelang es, die zum Teil sehr divergierenden Positionen im Laufe der Diskussionen anzunähern und in allen Punkten einen Konsens oder zumindest Kompromisslösungen zu finden (siehe auch Seite 38f. in diesem Dossier).
Der seit Ende Januar diesen Jahres für fünf Monate einberufene Klima-Biergerrot hat eine noch viel größere Herausforderung zu bewältigen. Er soll bis Ende Juni alle fünf Themen (Landwirtschaft, Energie, Industrie, Bauwesen und Mobilität) des Plan national intégré en matière d’énergie et de climat (PNEC) behandeln und Empfehlungen aussprechen, inwiefern die dort genannten Maßnahmen verstärkt werden können. Die Ergebnisse sollen dem Parlament vorgestellt und dort kontrovers diskutiert werden und in eine Neuauflage des PNEC einfließen.
Auch wenn beide Initiativen als Einzelprojekte konzipiert wurden, öffnen sie doch eine Perspektive, diese Form von Austausch mit den BürgerInnen zu verstetigen. Dass das Parlament und die Parteien sich im Herbst noch vor der heißen Phase des kommenden Wahlkampfes parteiübergreifend auf ein Konzept einigen könnten, würde zwar einem Wunder gleichkommen. Doch wenn es gelingen sollte, könnte Luxemburg weltweit das erste Land sein, das diese Form der Bürgerbeteiligung auf nationalem Niveau etabliert.
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