Cancel Culture

Bedrohen queere Aktivist*innen die Meinungsfreiheit?

Politiker Friedrich Merz, Comedian Dieter Nuhr und Autorin J. K. Rowling haben etwas gemeinsam: Sie alle kritisieren die sogenannte „Cancel Culture“. Auch in Luxemburg hört man immer öfter, dass die Cancel Culture die Meinungsfreiheit bedrohe. Besonders queeren Aktivist*innen – und hier ganz besonders trans* Aktivist*innen – wird vorgeworfen, die öffentliche Debatte mit Cancel Culture zu vergiften. Einmal öffentlich geschrieben, es gebe nur zwei (binäre) Geschlechter und schwups – schon ist man gecancelt! Was ist an dieser Sorge dran?

Beginnen wir mit den wissenschaftlichen Fakten: In der Naturwissenschaft herrscht keine Einigkeit darüber, dass Geschlecht binär sei. Stattdessen gibt es zahlreiche Wissenschaftler*innen, die diese Binarität hinterfragen. Eine auch für Laien verständliche und im Internet öffentlich zugängliche Publikation ist beispielsweise der Artikel „Sex Redefined: The Idea of 2 Sexes Is Overly Simplistic“ der Genetikerin Claire Ainsworth im Magazin Scientific American. Doch es lassen sich auch wissenschaftliche Publikatio­nen finden, die von einer Binarität der Geschlechter ausgehen. 

Wie lässt sich das nun erklären? Wissenschaft ist mehr als nur eine einzige wissenschaftliche Pu­blikation. Und wissenschaftliche Erkenntnis ist unabhängig von einzelnen Wissenschaftler*innen. Vielmehr muss man sich das gesamte Bild zur Geschlechterwissenschaft ansehen, um die Komplexität besser zu verstehen und sich der Wahrheit anzunähern. Dieses Bild verdeutlicht, dass die Definition des Geschlechts in verschiedenen Disziplinen variiert. Aus diesem Grund haben verschiedene Wissen­schaften unterschiedliche Ergebnisse in Bezug auf die Erforschung des Geschlechts und seiner Bedeutung. Eine Genetikerin kann andere Ergebnisse erzielen als ein Hormonbiologe. Und in vielen Fällen sind ihre Definitionen zu Geschlecht nicht oder nicht streng binär.

So wie ich das sehe, gibt es nur eine naturwissenschaftliche Disziplin, die noch verstärkt von einer Binärstruktur ausgeht (und wo es vielleicht auch Sinn macht). Und das ist nicht bei den Chromosomen, nicht bei den Hormonen, nicht bei den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, die alle Teil davon sind, was Geschlecht ausmacht, sondern bei der menschlichen Fortpflanzungsbiologie auf Basis der Keimzellen. Hier, und wirklich nur hier, macht es eventuell Sinn, von Binarität zu sprechen, weil man tatsächlich genau zwei unterschiedlich geschlechtliche Zellen braucht: ein Spermium und eine Eizelle. In allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen wenden sich viele immer mehr von einer strengen Binarität ab.

Aber ein großer Teil der Gesellschaft verbleibt bei dem, wie manche Fortpflanzungsbiolog*innen Geschlecht definieren. Das ist aber eine sehr verkürzte Definition von Geschlecht, die nicht auf alle anderen Aspekte des Geschlechts übertragen werden kann. Geschlecht auf Keimzellen zu reduzieren, macht vielleicht für die Fortpflanzungsbiologie Sinn, wird darüber hinaus aber nicht nur der höheren Komplexität des Geschlechts nicht gerecht, sondern ist auch gefährlich. 

Denn wenn daraus sozialpolitische Schlussfolgerungen gezogen werden, kann das sehr schnell zu ernsthaften Gefahren führen. Es reduziert die Funktion der Sexualität rein und allein auf die Fortpflanzung und negiert alle anderen Funktionen der Sexualität für den Menschen und andere Primaten: Intimität, Stressabbau, Konfliktregelung, Zusammenhalt, usw. Und dann neigt man dazu, alle Formen der Sexualität, die nicht auf Fortpflanzung abzielen, als „anormal“ oder „unnatürlich“ zu brandmarken. Und das kann wiederum zu Homo-, Sexual-, oder Sexarbeitsfeindlichkeit, usw. führen. 

Der Grund, warum viele auch heute noch glauben, dass Geschlecht binär sei, hat auch mit den Nazis zu tun. In Berlin gebe ich Stadtführungen zur Sexualgeschichte. 1919 wurde hier die moderne Sexualwissenschaft und das weltweit erste sexualwissenschaftliche Institut gegründet, das Berlin zum Zentrum der weltweiten Forschung zu Geschlecht und Sexualität katapultierte. Schnell kam man hier mit wissenschaftlichen Methoden zur Erkenntnis: Es gibt mehr als zwei Geschlechter. An einem gewissen Moment sprach Magnus Hirschfeld, der Gründer der modernen Sexualwissenschaft, von sechzehn verschiedenen Geschlechtskategorien, die alle eine Ausprägung von männlich, weiblich, oder männlich und weiblich haben können. Theoretisch führe das zu der Möglichkeit von drei hoch sechzehn Geschlechtsausprägungen, also insgesamt 43.046.721. Praktisch jedoch sah Hirschfeld Geschlecht als Kontinuum. Für die Menschen, die sich grob in der Mitte dieses Kontinuums befanden, prägte er den Begriff „sexuelle Zwischenstufen“.

© William Barton / Shutterstock

Doch diese Wissenschaft war noch jung und in Berlin konzentriert. Als 1933 die Nazis die Macht übernahmen, zerstörten sie das ihnen verhasste und von Magnus Hirschfeld, einem schwulen Juden, geleitete Institut. Die Bücher und wissenschaftlichen Arbeiten, die sie aus dem Institut plünderten, verbrannten sie bei der berüchtigten Bücherverbrennung. Diese noch sehr zerbrechliche Wissenschaft wurde zerstört und viele akademische Werke unwiderruflich ausgetilgt. Die modernen Erkenntnisse zu Geschlecht konnten sich nicht verbreiten und die Forschung wurde um Jahrzehnte zurückgeworfen. Das ist mit der Grund dafür, dass auch heute noch viele der Überzeugung sind, dass Geschlecht binär sei und dass sich die Wissenschaft hier auch einig wäre. 

Hirschfeld starb 1935. Die wenigen Überreste, die er vor den Nazis retten konnte, wurden 1993 in Kanada in einem Müllcontainer gefunden. Wenige Tage zuvor verstarb dort sein vergessener Partner und Erbe Tao Li und seine Habseligkeiten landeten im Müll. Die Überreste der Anfänge der modernen Sexualwissenschaft – welche die Nazis nicht zerstören konnten – lagen traurig und vergessen in einem Müllcontainer und wären unwiderruflich zerstört worden, hätte ein überraschter Nachbar nicht diese Papiere und Bücher aus dem Müll gefischt und dies in der frühen Version des Internets gepostet, um einen möglichen Interessenten zu finden. Ich bin mir sehr sicher, dass die gesamte Welt, dass wir alle heute ganz anders über Geschlecht nachdenken würden, wären die Nazis nie passiert. 

Ich glaube nicht daran, dass Geschichte sich wiederholt. Aber es gibt manchmal Parallelen. Heute kommen wir – mit anderen Worten und Definitionen – langsam wieder da an, wo wir bereits in den 1920er Jahren waren. Statt von „sexuellen Zwischenstufen“ und „Transvestiten“ reden wir heute von queeren Menschen, nicht-binären Menschen, trans* Menschen. Der Glaube an die Geschlechterbinarität gerät wieder ins Wanken. Und das gefällt nicht allen. Und diese fühlen sich dann schnell als Opfer einer Cancel Culture, wenn sie das wiederholen, was sie doch gelernt haben.

Was viele jedoch als vermeintliche „Cancel Culture“ beschreiben, ist nicht ein Problem, ausgelöst durch ein paar vermeintlich „radikale Aktivist*innen, die der ganzen Welt Sprechverbote auferlegen wollen“. Sondern es sind nichts anderes als die toxische Logik und die manipulativen Algorithmen „sozialer“ Medien wie Facebook, Twitter (bzw. X), Instagram und TikTok. Ihr Geschäftsmodell basiert darauf, so viel Werbung wie möglich zu schalten. Und das kann nur funktionieren, wenn wir so viel Zeit wie möglich auf deren Plattformen verbringen. Und die Entscheidungszentralen dieser Firmen wissen, dass wir nur dann so viel Zeit auf ihren Plattformen verbringen, wenn wir mit so viel hoch-emotionalisiertem Content wie möglich konfrontiert werden. Und die beste Emotion dafür ist – oh Wunder – Wut! Vor allem politische Wut, weswegen ich als jemand, der in diesem Bereich arbeitet, Social Media als eine der größten Gefahren für unsere Demokratie ansehe und generell davon abrate, überhaupt ein Social Media Profil zu besitzen.

Diese noch sehr zerbrechliche Wissenschaft wurde zerstört und viele akademische Werke unwiderruflich ausgetilgt.

Der Fokus sozialer Medien, Wut online zu verstärken (oft bewusst angestachelt durch Desinformationskampagnen rechtsradikaler und rechtslibertärer Akteure, um damit ihre Gewinne zu erhöhen, führt nicht nur dazu, dass hoch-emotionalisierte Inhalte gefördert werden, die keinen wissenschaftlichen Fakten gerecht werden und manipulativ sind. (Zum Beispiel hat eine mir nahestehende Person vor Kurzem wütend ein Bild geteilt, auf dem suggeriert wird, dass die „verrückten Gender-Aktivist*innen“ nun auch wollen, dass wir Gebäck wie Berliner zu Berliner*innen umgendern, was natürlich Quatsch ist und nur dazu führt, dass leicht zu manipulierende Menschen das aufgebracht weiterteilen). Sozia­le Medien verstärken auch den Streit online. Und zwar so massiv mit manchmal abertausenden an Kommentaren, dass es uns regelrecht überfordert. Je polarisierter und extremer, desto besser für das Geschäftsmodell. Das ist nicht nur gefährlich für unsere Demokratie, sondern auch genau das, was viele als „Cancel Culture“ beschreiben. Dabei wird hier gerade eben nicht „gecancelt“, sondern von den Algorithmen sozialer Medien zur Gewinnmaximierung gefördert. Also das genaue Gegenteil. 

Aber genau weil online alles so manipulativ polarisiert wird, glauben viele, dass ihnen gegenüber ein wütender Mob steht, der ihnen das Sprechen verbieten will – wobei viele aus diesem Mob oftmals Bots der digitalen Kriegsführung sind, also nicht einmal reale Menschen. Übrigens nicht nur von linker Seite, sondern auch von rechter, ja von allen Seiten. Es wird von rechter Seite nur so getan, als käme „Cancel Culture“ nur von links. 

Was wir also als „Cancel Culture“ beschreiben, ist in Wahrheit eine bewusste, Menschen manipulierende, Demokratie zerstörende Polarisierung der Gesellschaft durch Wut erzeugende Inhalte, die wegen der finanziellen Gier von Big Tech in Wahrheit nicht gecancelt, sondern bestärkt werden. 

Unsere Demokratien und ihre Werte sind in Gefahr. Aber sie werden durch digitale Kriegsführung, durch Desinformationskampagnen in den sozialen Medien, durch rechtsradikale und rechtslibertäre Akteure, und durch die finanzielle Gier des Tech-Kapitalismus gefährdet – und nicht durch Cancel Culture. Wir können unsere Demokratien nur retten, wenn wir die wahre Gefahr auch erkennen.  


Jeff Mannes ist ausgebildeter Sozialwissenschaftler mit Fokus u. a. auf Sexualität und Geschlecht. Außerdem ist er zertifizierter Sexualpädagoge, Social-Media-Manager bei der Deutschen Aidshilfe, sowie Stadtführer zur Berliner Sexualgeschichte, Berlins Clubkultur, sowie Berlins queere und trans* Geschichte.

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