- Politik
China, Luxemburg und die unverHANDELbaren Menschenrechte
Einführung ins Dossier
„Wenn in China ein Sack Reis umfällt…“, die Redewendung steht laut Wikipedia als „umgangssprachliche Metapher für ein unwichtiges Ereignis. Mit dieser abfällig-scherzhaft verwendeten Formel drückt der Sprecher sein Desinteresse aus oder signalisiert die von ihm empfundene Bedeutungslosigkeit des Themas.“ Die Herkunft dieser im deutschen Sprachraum geläufigen und offensichtlich auch in der Netzkommunikation gerne für abwertende Kommentare gebrauchten Redewendung ist unklar. Die Erklärung, die Wikipedia anbietet, spricht allerdings Bände über das europäische Verhältnis zu China. Im Sprichwort verbirgt sich die westliche Arroganz gegenüber dieser uralten Kulturnation. Es erzählt auch von der weit verbreiteten Indifferenz gegenüber den schrecklichen Ereignissen im China des 20. Jahrhunderts: von der japanischen Invasion während des Zweiten Weltkriegs, über das Massensterben im Großen Sprung nach vorn und die Kulturrevolution bis zum blutigen Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989. Und es kündet von einer gewissen Ignoranz gegenüber einer Nation mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen, die es seit 1979 unter Deng Xiaoping geschafft hat, den Hunger in China landesweit zu überwinden, eine flächendeckende medizinische Versorgung, wenn auch zum Teil auf niedrigem Niveau, zu garantieren und die Alphabetisierungsrate auf 96,8 % zu steigern (Stand 2018). Die Chinesen können zu Recht stolz auf diese rasante Verbesserung ihrer unmittelbaren Lebensumstände sein.
China
In einer grundlegenden Haltung von Wertschätzung und Respekt haben wir in unserer so vielfältig verbundenen Welt das Recht und auch die Pflicht, im Dialog und auch im Handelsdialog mit den Chinesen auf die Schattenseiten der chinesischen Entwicklung aufmerksam zu machen. Während Raymond Klein davor warnt, die Haltung des westlichen Besserwissers einzunehmen und gleichzeitig fordert, Rücksicht zu nehmen auf kulturelle Traditionen und historisch gewachsene Befindlichkeiten, sind andere Beiträge unversöhnlicher: Der in China von oben verordnete geschichtsvergessene Umgang mit den schrecklichen Ereignissen der Mao-Ära und dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens zeigt schreckliche Folgen, was den Aufbau einer Zivilgesellschaft angeht, in der auch Freiheit und Menschenrechte hätten gedeihen können. Seitdem Xi Jinping 2013 Staatspräsident wurde, hat er zunehmend eine von der Kommunistischen Partei nach Mao nicht mehr gewünschte Machtfülle auf sich vereinigt. Er hat die zaghaften Anfänge einer Zivilgesellschaft durch die rigorose Beschneidung des freien Internetzugangs durch die „Große Firewall“ und durch soziale Kontrolle mit Hilfe digitaler Beobachtungstechnologien systematisch und effektiv unterbunden.
Gleichzeitig ist China zu einem der wichtigsten und erfolgreichsten Global Player der Weltwirtschaft geworden. Ende 2020 attestierte die OECD China ein Wirtschaftswachstum von 1,8 % für 2020 und sagt für 2021 ein Plus von 8 % voraus. Zum Vergleich: Sie errechnete, dass die Weltwirtschaft 2020 um 4,4 % geschrumpft sei und erwartet für 2021 ein Wachstum von 5,2 %. Im November 2020, als die westliche Welt noch vollauf mit der Bewältigung der Coronakrise beschäftigt ist, schließt China mit 14 asiatisch-pazifischen Staaten das größte Freihandelsabkommen der Welt ab.
Menschenrechte
In einer weltpolitischen Situation, in der die (Handels-)Karten offensichtlich neu gemischt werden, sollten wir auf Madeleine Albright hören, die Grande Dame der amerikanischen Außenpolitik, die in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 2. Januar 2021 sagte: „Wir müssen wachsam sein, was China angeht.“ Menschenrechtsorganisationen fordern schon lange, dass sich die Wachsamkeit, von der Albright spricht, zuallererst auf die Einhaltung der Menschenrechte richtet. Seit die Strategie „Wandel durch Handel“ kläglich gescheitert ist, muss die freie westliche Welt, wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden will, mit großem Nachdruck die „Unverhandelbarkeit der Menschenrechte“ einklagen. China versucht schon seit einiger Zeit, auf dem internationalen Parkett die Wertekoordinaten in seinem Sinn zu verschieben. Und im Oktober 2020 wurde das Land für drei Jahre in den UN-Menschenrechtsrat gewählt, ein Vorgang, der von Amnesty International (AI) und anderen Menschenrechtsorganisationen heftig kritisiert wurde.
In ihrem Beitrag über Menschenrechtsverletzungen in China wird Anne Ploetz von AI einen aktuellen Überblick geben. Der Beitrag von Mareile Aldinger von der Action des chrétiens pour l’abolition de la torture (ACAT) widmet sich der Situation der Uiguren in der Autonomen Region Xinjiang, geopolitisch bedeutsam im äußersten Nordwesten der Volksrepublik China gelegen. Spätestens mit den „China Cables“, die im November 2019 veröffentlicht wurden, ist der offizielle Beweis für die massenhafte systematische Verfolgung, Unterdrückung und Inhaftierung der Uiguren erbracht. Das Europäische Parlament hat im Dezember 2019 mit der Verleihung des Sacharow-Preises an Ilham Tohti, seit 2014 inhaftierter uigurischer Menschenrechtsverfechter und Wirtschaftsprofessor, auf die eklatanten Menschenrechtsverletzungen durch die chinesische Zentralregierung reagiert. Mittlerweile hat der französische Politiker und Publizist Raphaël Glucksmann im Dezember 2020 vor dem Europäischen Parlament mit einem eindringlichen Appell („J’accuse“) den Skandal der Zwangsarbeit in den chinesischen Lagern medienwirksam auf die politische Tagesordnung gesetzt. Der Beitrag von Jean-Louis Zeien zeigt auf, wie verstrickt in das Unrecht der Zwangsarbeit Unternehmen und Konsumenten sein können und welche gesetzgeberischen Maßnahmen erforderlich sind, um die verbindliche Einhaltung allgemeingültiger Menschenrechtsstandards in wirtschaftlichen Aktivitäten nicht nur mit chinesischen Unternehmen zu garantieren.
Nach fast siebenjährigem Ringen wurde am 30. Dezember 2020 zu Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Windeseile die Grundsatzeinigung für das Investitionsabkommen zwischen der EU und China beschlossen. Die EU-Kommission muss sich die Frage gefallen lassen, warum sie so schnell auf das Drängen der chinesischen Seite eingegangen ist. Denn die Zugeständnisse, die China etwa im Zusammenhang mit der Zwangsarbeit machte, bezeichnete Reinhard Bütikofer, Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzender der Delegation des Europaparlaments für die Beziehungen zur Volksrepublik China, im Deutschlandfunk am 30. Dezember 2020 als „wertloses Gerede“. Die Ratifizierung des Investitionsvertrages durch das Europäische Parlament steht noch aus. Die menschenrechtsfreundlichen Abgeordneten quer durch (fast) alle Parteien, die in den Entschließungen insbesondere über die Situation der Uiguren vom 19. Dezember 2019 und vom 17. Dezember 2020 Kritik an China üben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglässt, werden sich wohl, so ist zu befürchten, mit ihrer Position nicht durchsetzen können. Isabel Wiseler-Lima (CSV/EVP), Mitautorin der genannten Entschließungen des Europäischen Parlamentes, legt in diesem Dossier in einem Beitrag ihre durchaus differenzierte Sicht auf das Investitionsabkommen und die Zukunft der europäisch-chinesischen Zusammenarbeit dar.
Der Investitionsvertrag wird sehr wahrscheinlich mit einer Mehrheit des Parlaments ratifiziert werden. Das ist eine verpasste Chance, gegenüber China „die Sprache der Macht“ zu reetablieren, die vom Außenbeauftragten der EU Josep Borrell noch im Februar 2020 angemahnt wurde. Am 6. Januar 2021 hat die Polizei in Hongkong mehr als 50 Oppositionelle festgenommen, darunter Politiker, Aktivisten und Menschenrechtler. Das ist ein deutliches Alarmsignal, wie sicher sich China in seiner Position gegenüber dem zahnlosen Westen fühlt.
Luxemburg
Seit die Arbeit an dem Dossier begonnen wurde, sind offensichtlich in China ziemlich viele „Reissäcke umgefallen“, mit tektonischen Verschiebungen bis nach Europa und damit auch nach Luxemburg, einem kleinen und finanzstarken EU-Mitgliedstaat, der sich zunehmend auf Handelsebene mit China verbandelt. Die Luxemburger Politik muss sich die Frage gefallen lassen, wie ernst es ihr mit der Wahrung der Menschenrechte in China ist. Menschenrechte sind unverhandelbar! Da reicht es nicht, wenn es von Seiten der Politik in der Beziehung zu China bei der beiläufigen Erwähnung der Menschenrechte und Appellen zu ihrer Wahrung bleibt. Das gilt zuallererst auf europäischer, aber auch ganz konkret auf nationaler Ebene. Deshalb legt dieses Dossier großen Wert darauf, das Ausmaß der wirtschaftlichen und finanziellen Verstrickungen zwischen China und Luxemburg aufzuzeigen, so in den Beiträgen von Laurent Schmit und Paolo Balmas. Eine ganz andere Perspektive, nämlich die auf den chinesischen Film und Kinomarkt, nimmt Viviane Thill in ihrem Beitrag ein.
Wer nach der Lektüre des vorliegenden Dossiers politisch handeln möchte, kann dies tun. forum druckt die von ACAT initiierte Kampagne für die sofortige Freilassung von Ilham Tohti und für ein deutliches Engagement der EU für die Wahrung der Menschenrechte in der Autonomen Region Xinjiang neben zwei Briefvorlagen an den chinesischen Präsidenten Xi Jinping und an den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell ab. Auf den Seiten von ACAT und forum können sie heruntergeladen, unterzeichnet und abgeschickt werden.
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