Die Radikalität der Veränderung durch Covid-19, das gerade unser aller Leben umkrempelt, ist monströs. Die Grundbausteine unseres westlichen Selbstverständnisses zerbröseln nahezu geräuschlos. Millionen gesunder Menschen stehen seit Wochen quasi unter Hausarrest. Wir wurden, auch hierzulande, in Rekordgeschwindigkeit unserer Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Teilhabe enthoben.
Was wir – bis dato – verstanden haben, ist, dass das Virus gefährlich ist, dass es sich rasend schnell verbreitet, dass wir nicht begreifen, wie’s funktioniert. Die Informationslage zu COVID-19 ist verwirrend. Hier in Luxemburg hat man sich strikt organisiert und hält die Fallzahlen in Schach, seine EinwohnerInnen allerdings auch. Der Ausnahmezustand droht, sich allzu häuslich einzurichten. Manche freuen sich über die erzwungene Ruhe, nennen es trendy Entschleunigung. BerufsoptimistInnen sprechen von kreativer Entspanntheit; Beziehungen, Gespräche würden auf eine qualitativ höherwertige Ebene springen, quasi von selbst. Die Wiederentdeckung der Zeit im Allein-mit-sich-sein sei ein Geschenk, das Corona dem aufgeregten und hektisch-übergeschnappten Gegenwartsbewusstsein darbiete; die „Chancen in der Krise sehen“… wohl dem, der welche hat. Für die übrigen hört es sich zynisch an.
Die gesellschaftspolitischen Handlungsalternativen wurden in Luxemburg sowenig wie in den meisten europäischen Ländern diskutiert. Die zurückliegenden Virus-Ausbrüche, die Monopolisierung bestimmter Lieferketten, die Entwicklung in Wuhan wurden zu lange distanziert beobachtet, im Kern nicht ernst genommen. Dann war „es“ plötzlich da; für demokratische Verfahren blieb keine Zeit mehr. Die Verantwortlichen handeln unisono: „Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen“, weg mit der Demokratie und ihren zeitraubenden Begleiterscheinungen. Einige wenige sprechen sich mit anderen wenigen ab; man beobachtet die Nachbarländer, handelt Sonderlösungen bezüglich der GrenzgängerInnen aus, zückt das staatliche Scheckbuch und lässt sich treiben. Die Aktionen bleiben vorrangig national. Letztlich machen aber alle dasselbe. Zügig rein in den Lockdown, sehr zögerlich und unter Schmerzen wieder raus, nicht wissend, was das bedeuten wird.
Stand Ende April 2020 gibt es nur wenige, stromlinienförmige, meines Erachtens nach entdemokratisierende Lösungsvorschläge:
- Totale Umorganisation in eine 2-Meter-Abstand-Gesellschaft,
- Maskenpflicht für jedes Lebensalter,
- rigoroses Upgraden der Hygienemaßnahmen, digitale Voll-Kontrolle von Bewegung, Begegnung und Gesundheit,
- erhöhte Polizeieinsätze und Kontrollen, hohe Strafen,
- massenhaftes Testing,
- schnelle Isolation von infizierten Personen und des Infekts Verdächtiger,
- dauerhafte gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschen in den sogenannten Risikogruppen,
- Schließung der Grenzen, de facto und im Kopf,
- Re-Nationalisierung, Europäisierung unserer Wirtschaft,
- Marginalisierung unserer Freiheitsrechte,
- Verbot von Festen, Feiern und Großveranstaltungen,
- Einüben der neuen isolationistischen Verhaltensweisen,
- Redefinition von Solidarität, Nachbarschaft, Freiheit, Mobilität, Religionsausübung,
- Warten auf einen Impfstoff.
- Das Ende der Spaßgesellschaft
Das Projekt Spaßgesellschaft kam abrupt zum Erliegen. Der Spaß an der Isolation und der erwarteten Wirtschaftskrise will nicht so recht aufkommen. Alles steht und fällt mit der Digitalisierung. Menschen ohne digitalen Appendix, aber geistig und körperlich fit, sind sozial so gut wie tot. Mensch-Sein dekliniert sich ab jetzt radikal digital.
Die Ruhe in Europa ist erzwungen, vordergründig, die Menschen fügen sich, noch. Man nutzt die freie Zeit, optimiert sich, ist faul oder kreativ, arbeitet, lernt allein zu Haus, beschult und bespaßt seine Kinder. Doch das Gefühl der Ohnmacht steigt, wenn den Menschen dabei die Kontrolle über das Geschehen komplett aus Hand genommen wird. Die totale Verunsicherung nagt an der psychischen Stabilität, sie verändert den Charakter. Steter Tropfen höhlt selbst Stein. Es gibt wie immer ein paar fröhlich grinsende KrisengewinnerInnen, einige quirlige BeutejägerInnen, aber für die Mehrheit ist diese Krise erschütternd, beängstigend, gefährlich. Die Zwangspause zwingt viel zu viele in die Gesprächs- und Begegnungslosigkeit. Die Expansion des Digitalen, Virtuellen ist auf Dauer unbefriedigend, verstörend. Es widerspricht zutiefst dem, was wir sind – soziale Wesen. Es zerstört unsere Fähigkeiten zu sein und zu leben, wie es freien Menschen entspricht, in vertrauensvoller Freundlichkeit, fröhlicher Hilfsbereitschaft und spontanen Aktionen. In Rekordzeit haben wir verlernt, unbefangen miteinander zu sein. Was das für unsere Kinder und ihre Entwicklung bedeutet, will gar niemand wissen.
Last, but not least erodieren unsere demokratischen Institutionen und Gepflogenheiten. Vieles Selbstverständliche und Gewohnte wurde einfach vom Tisch gefegt mit dem emotionslos geäußerten Versprechen, dass man es schon wieder rückgängig machen werde, sobald es denn verantwortbar sei. Die BürgerInnen nahezu aller Länder werden von den politischen Entscheidungsprozessen in nie gekannter Weise ausgeschlossen; unser Handlungsspielraum verengt sich von Tag zu Tag. Auch die Informationen fließen spärlichst: Die Offiziellen schimpfen aufs Internet und die darin hin und her wabernden Zahlen, Bilder, Meinungen, Stimmungen; sie hätten gern mehr Kontrolle darüber, was BürgerInnen denken, wissen, fühlen, sagen, gestalten dürfen, und das in vormals freien Ländern.
Manchen kam Corona sehr gelegen. Die Digitalrevolution ist nun leichter durchzusetzen. Die ohnehin angeschlagene Widerstandskraft der Menschen gegen Dauertestings, Tracing, digitale Vollkontrolle aller Lebensbereiche, Einschränkung der Persönlichkeitsrechte, wird gerade geschreddert. Die meisten wollen einfach nur „raus“ und „zurück“, dafür würden sie fast alles in Kauf nehmen, wenn man sie ließe. Aber letztlich braucht es einen Impfstoff, um den staatlichen Würgegriff wieder zu lockern. Das Tötungspotenzial des Virus stellt uns vor die größte Belastungsprobe unserer Zeit, was halten wir aus? Woran halten wir trotz aller Widrigkeiten fest? Was trotzt die Seuche uns ab?
Abgesehen davon, dass dieses Virus eine echte Plage ist, teilt es die eine Welt mit der Wucht einer Explosion in abertausende Teilwelten, die völlig abgekoppelt voneinander, dabei in Sicht- und Hörweite, existieren müssen. Die Menschen sind darin gefangen und vereinsamen. Das Bild der Stunde: Der am Boden liegende Papst vor dem Altar der menschenfreien Kirche am Karfreitag. Mehr Hilflosigkeit, mehr Einsamkeit geht nicht.
Die Menschen auf der aktiven Seite des Teilchengewimmels, die Handlungsbevollmächtigten, sind so zahlreich wie verschieden. PolitikerInnen jagen von einer Krisenentscheidung zur nächsten; sie leiden unter Schlafdefizit, Erfolgsdruck; die Last ständig wachsender To-Do-Listen ist erdrückend. Der diffuse Umgang mit Wahrheit, Lüge, Information, Fakten, Statistiken, Pressefreiheit etc. stresst. Die Zahllast wächst ins Unermessliche, und trotzdem werden viele Existenzen einfach vernichtet werden. Menschen im Gesundheits- und Sicherheitsdienst leisten – in Ganzkörper-Schutzanzügen verpackt – Übermenschliches. Infizierte und Verdachtsfälle werden sofort isoliert; die Kranken erleiden zum Teil Fürchterliches; die Genesung ist nicht sicher, die Immunisierung auch nicht. Die Sterbenden sehen sich von G’tt und der Welt verlassen. Ihr Abschied ist würdelos. Das ist auch für die hilflosen Angehörigen traumatisch.
JournalistInnen wühlen sich durch die täglichen Hiobsbotschaften und die stetig zunehmenden Widersprüche. Sie müssen berichten, sollen ermutigen und das „Ganze“ im Blick behalten; eine entnervende Zerreißprobe. VerkäuferInnen in den wenigen geöffneten Läden stehen unter enormen Druck, die KundInnen sind nervös, verängstigt, überfordert. PaketbotInnen hetzen von einem zur anderen; gesprochen wird – da unter Strafe gestellt – fast nichts. Kinder sind von der Bildfläche verschwunden, halten ihr verbliebenes Familienumfeld aber auf Trab. LehrerInnen sollen Kontakt halten, Fernschule organisieren, den konventionellen Schulbetrieb neu strukturieren, räumlich, körperlich, hygienisch, pädagogisch. Bauern und Bäuerinnen kämpfen verzweifelt um Aussaat und Ernte. Einsame LKW-FahrerInnen schinden sich ab, stehen stundenlang im Grenzstau, finden keine offenen Raststätten und sanitären Anlagen mehr. PolizistInnen fahren Sonderschichten mit Sondereinsätzen.
Die Liste der Überbelasteten ist nicht komplett
Die auf der passiven Seite des Teilchengewimmels Gestrandeten wurden vom Geschehen total abgespalten; sie haben keinerlei Entscheidungsgewalt mehr über ihr Schicksal. Sie kämpfen mit der Zwangspause, aus der man bei entsprechender „Umbewertung der Situation“ – fast wie Urlaub – schon das Beste herausholen könne. Was wird nicht alles aufgefahren, um die Indoor- und Alleinzeit positivistisch zu vermarkten: Kulturkicks, Netflix und Co. ohne Ende, Apps und Tools zum digitalen Arbeiten und Lernen, Skype und Co. für den Sichtkontakt, Entschleunigung, Anleitungen zum Ausspannen, zur Reorganisation, zum Meditieren, zum Selbstoptimieren, zum inneren und äußeren Aufräumen, zum sich selbst in Frage stellen und zum (Re-)Kapitulieren.
Aber es brodelt weiter. Zum einen ist dies schlichtweg der Inkompetenz geschuldet, Stillstand im Anthrophozän als etwas Befreiendes zu erleben; es gehört nicht zum Lebensentwurf der Moderne. Zum anderen sind die Anforderungen des Außenwelt-befreiten Alltags gar nicht so leicht zu bewältigen wie man sich das, wenn man unter Volldampf durch die Gassen seines Lebens rennt, gern mal so zurecht träumt. Weil es eben kein Urlaub ist. Weil nichts daran „wie Urlaub“ ist. Urlaub ist der Höhepunkt der Selbstbestimmung, eine fröhliche, entspannte, sorgenfreie Zeit. Corona-Zeit erklimmt die Gipfel der Fremdbestimmung, eine bedrückende, beklemmend-stressige Zeit. Erzwungener Stillstand, in Erwartung einer nicht aufzuhaltenden Infektion mit ungewissem Verlauf und Ausgang, das ist alles, nur nicht Urlaub.
Die, welche ihre Jobs verlieren oder bereits verloren haben, verfluchen den Lockdown und irren verzweifelt im Internet umher, nach Hilfe, neuen Jobs; oftmals ohne Erfolg. Die Home-OfficerInnen, Home-SchoolerInnen, die Haushalt, Familienarbeit, Kinderbetreuung, Pflegedienste und Selbstversorgung in Personalunion rund um die Uhr abzuliefern haben, können kaum noch schlafen. Die, die ohnehin in prekären Verhältnissen leben, kämpfen mit den Aggressionsschüben, die der Mangel an Bewegung, an Abwechslung, an Auswegen, hervorbringt. Es ist für einige sehr gefährlich, ohne Außenkontakt labilen Partnern auf engstem Raum ausgeliefert zu sein. Angststörungen, Gewaltbereitschaft, Alkohol- und andere Suchtkrankheiten machen den isolierten Menschen und ihren Familien schwer zu schaffen.
Die rüstigen Alten werden ausgemustert. Besuchs-, Kontaktverbot auf unbestimmte Zeit, nicht mal ÄrztInnen oder SeelsorgerInnen haben noch Zugang, die Order lautet: Freu dich am digitalen, kleinformatigen Bild, am kurz aufblitzenden Hallo deiner Lieben. Wer hat in dieser Zeit schon mal mit Opa und Oma live ein längeres, echtes Gespräch über Skype geführt? Witze erzählt, entspannt miteinander gelacht, hitzig diskutiert, heftig gestritten und sich wieder versöhnt… geht sowas digital? Die in der Familienverantwortung stehenden Erwachsenen sind unlocker und im Abwicklungsmodus; der heitere, dabei sinnstiftende Smalltalk ist verschwunden. Die Enkelkinder, wenn sie denn schon sprechen können, haben nichts zu berichten, weil sie nichts erleben. Sie können mal ein Bild malen, ein Lied singen, das ist nett. Aber die Zeit vergeht dadurch nicht wirklich.
Ein Tag allein ist lang, 100 Tage allein sind unendlich lang, gar zwei Jahre in Isolation, das hat was von seelischer Folter. Wie soll das werden? Unsere RentnerInnen leiden und müssen sich geduldig, weise und verständig zeigen. Geschieht ja alles schließlich nur zu ihrem Besten. Allerdings über ihre Köpfe hinweg. Die gebrechlichen Alten sind vollends gefangen. Unbeweglich, mit arthritischen Knochen und Gelenken, schwerhörig, fast blind, unter Parkinson, Alzheimer, Demenz leidend, wie erleben sie die Kontaktsperre, die ihnen zugemutet wird? Können sie sich noch artikulieren? Welchen Gestaltungsspielraum haben sie?
Die Ruhe im Auge des Hurrikans
Sicher, man kann das Beste aus der Situation machen, wenn man denn etwas machen kann, wenn man denn finanziell und gesundheitlich unbelastet eine längere Zeit auf kleinem Raum kreativ und intellektuell aktiv sein kann. Wer gelernt hat, seine Gedanken und seinen Tagesablauf zu ordnen und mit sich, seiner Familie, seinen LebensgefährtInnen und seinen Kindern gut zurechtkommt, der kann es schaffen. Dann ist die Ruhe, in der diese Menschen sich selbst, die Natur, ihren Lebensrhythmus und ihre Bedürfnisse neu entdecken und gestalten können, vielleicht tatsächlich das Gute im Schrecken.
Aber glücklich macht es uns trotzdem nicht, weil wir als soziale Geschöpfe nun mal nicht zur Einsiedelei auf dem dünnen Eis der Ungewissheit geschaffen wurden. Denn auch den OptimistInnen, LebenskünstlerInnen und Begüterten ist klar, dass sich das Chaos um sie herum Bahn bricht und unvorstellbares Leid unabsehbare Veränderungen mit sich bringen wird, dass nichts bleibt, wie es ist, und dass wir als Weltgemeinschaft dieses Mal nicht mit einem blauen Auge davon kommen werden. Wenn wir das Leid der anderen noch wahrnehmen können und nicht rein egozentriert, lokal und nationalistisch denken und fühlen, dann werden wir den verordneten Stillstand, den Ausnahmezustand, als das definieren, was er ist: die Ruhe im Auge des Hurrikans. Und das ist zutiefst beunruhigend. Da kann die Antwort unserer AnführerInnen, gleich welcher politischen Couleur, nicht ein herzhaftes „Beruhigt euch!“ sein. Da müssen wir von Unruhe getrieben, alle Kräfte bündeln und globale Lösungen entwerfen und im Zusammenwerfen all unserer Kräfte und Möglichkeiten zügig umsetzen. Wir müssen eine langfristige (Über-)Lebensstrategie entwerfen, die allen Geschöpfen auf unserem Planeten zugute kommt – und zwar weit über die Corona-Pandemie hinaus.
Wie diese Entwicklungen aussehen sollen, können, müssen, das ist ein anderes Thema. Ich denke aber, man muss der rauen Realität ins Auge sehen. Schönfärberei, Träumereien von einer entglobalisierten Welt in heilen nationalen Grenzen, helfen uns jetzt nicht wirklich weiter. Die Welt ist in Bewegung, sie ist in Aufruhr, wenn wir unsere äußeren und inneren Grenzen nicht mit Waffen- und Staatsgewalt „schützen“ wollen, dann müssen wir sie öffnen und über andere internationale Existenz- und Wirtschaftsformen nachdenken. Dringend. Demokratie und Aufklärung, Reisefreiheit, das Recht auf freie Wohnort- und Berufswahl, auf unbeobachtete Momente, sind neben Presse- und Meinungsfreiheit, Gesundheit und Bildung hochrangige Menschenrechte, für deren Existenz wir sehr gekämpft haben, auch unter erheblichen Todesopfern. Das sollte nicht umsonst gewesen sein.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
